piwik no script img

Täter im Lügde-Prozess geständigUnter aller Augen

Missbrauch, Vergewaltigung, Produktion von Kinderpornos – was in Lügde geschah, ist kaum fassbar. Drei Angeklagte stehen nun vor Gericht.

Der versiegelte Campingwagen von Andreas V. Foto: dpa

Lügde/Detmold taz | Dichter Wald links, dichter Wald rechts. Dazwischen der Campingplatz Eichwald. Auf der Homepage, die das Gelände am Stadtrand von Lügde im Weserbergland bewirbt, sieht man eng an eng stehende Wohnwagen, Blockhäuser, Datschen. Es gibt einen Kinderspielplatz, Fußballrasen, gegenüber ein Schwimmbad. Ein Idyll, ideal für Dauercamper, Biker, Familien.

Jetzt ist das anders. Jetzt hängt eine gespenstische Stille über dem Platz. Am Mittwochvormittag stehen drei Autos auf dem Vorplatz, wenige Gäste, niemand ist zu sehen, irgendwo quietscht leise eine Kreissäge. Der Schlagbaum ist heruntergelassen, ein Schild warnt: „Privatgelände. Zutritt nur für angemeldete Gäste des Campingplatzes Eichwald“. Der Betreiber Frank Schäfsmeier geht nicht mehr vor die Tür, seine Frau, blonde Kurzhaarfrisur, Brille, Shorts, weist Fremde mit schneidiger Stimme ab. „Bleiben Sie zurück.“

Der Grund dafür wird seit diesem Donnerstag vor dem Landgericht Detmold verhandelt: sexuelle und körperliche Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Hunderten Fällen, geschehen auf diesem Campingplatz in zwei alten Wohnwagen hinter maroden hölzernen Anbauten. Zwanzig Jahre lang sollen hier zwei Männer, der 56-jährige arbeitslose Andreas V. und der 34-jährige Maler und Putzmann Mario S., insgesamt 41 Kinder und Jugendliche missbraucht und misshandelt haben. Kinder sollen dazu gezwungen worden sein, andere Kinder zu missbrauchen. Einige von ihnen waren da gerade einmal vier Jahre alt. Ein Dritter, der 49-jährige Heiko V., ein Koch, soll die beiden dazu angestiftet haben. Am ersten Verhandlungstag lautet die wichtigste Frage: Werden die Angeklagten ihre Taten gestehen?

Drei Monate und zehn Verhandlungstage sind für den wohl bislang furchtbarsten Missbrauchs­prozess in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik angesetzt. Die 3. Strafkammer unter der Vorsitzenden Richterin Anke Grudda hat 53 Zeugen geladen – darunter Opfer, Eltern, Polizisten. 30 Nebenklagen sind zugelassen worden, 19 ihrer Vertreter*innen sitzen im Gerichtssaal, neben ihnen gesetzliche Vertreter*innen minderjähriger Opfer.

16 rote Akten und ein unfassbares Verbrechen

Vor Richterin Anke Grudda auf dem Tisch liegen 16 rote Akten, dünne, dicke, sehr dicke. Neben ihr sitzen zwei weitere Richterinnen, links und rechts Schöffen, rechts im Saal noch drei Sachverständige. Einen größeren Fall hat es im Saal 165 des Detmolder Landgerichts noch nicht gegeben.

9.20 Uhr, der Prozess hat noch gar nicht richtig begonnen, da gibt es bereits die erste Aufregung. Die mutmaßlichen Täter sitzen rechts von der Richterbank neben ihren Anwälten, sie haben die Hefter, die ihre Gesichter vor den Kameras schützen sollten, heruntergenommen: Andreas V., graues Gesicht, grauer Kapuzenpullover mit der Aufschrift „Uncle Sam“, Mario S. im schwarzen T-Shirt, Heiko V. im schwarz-weiß karierten Hemd, er mit dem Rücken zum Publikum. Sie wirken ruhig und gefasst, Andreas V. schaut zu Boden.

Gerade haben sie mit nicht mehr als einem knappen „Ja“ die Angaben zu ihren Personen bestätigt, da verlangt Roman von Alvensleben – er vertritt als Anwalt der Nebenklage ein heute zehnjähriges Mädchen –, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn der Staatsanwalt die Anklage verliest. Sein Kollege Peter Wüller, der ein sechsjähriges Mädchen und einen neunjährigen Jungen vertritt, schließt sich an. „Mit den Daten der Kinder aus der Anklageschrift wie Geburtstag und Wohnort sind Rückschlüsse auf die Identität der Kinder möglich“, sagt Wüller: „Dann können sich die Kinder gleich ein Schild ‚Opfer‘ an die Stirn kleben.“

Selbst Johannes Salmen, Verteidiger des Hauptangeklagten Andreas V., stimmt zu, merkt allerdings kritisch an, dass Teile der Anklageschrift bereits öffentlich waren, bevor Anwälte und Verteidiger sie in den Händen hielten. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Detmold, über 80 Seiten lang, listet 460-fachen Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, körperliche Gewalt und die Produktion von kinderpornografischem Material auf. Die Akten der drei Hauptbeschuldigten zählen mehr als 3.000 Seiten, dazu kommen vier Ordner mit bereits ausgewerteten DVDs, Fotos, Festplatten und anderen Datenträgern.

Die mutmaßlichen Täter und ihre Taten

Allein Andreas V, ein arbeitsloser alleinstehender Mann, der auf dem Campingplatz in Lügde wohl etwa 30 Jahre gewohnt hatte und den dort alle nur „Addi“ nannten, wirft die Staatsanwaltschaft Detmold 298 Fälle sexueller Gewalt an Kindern vor. Er soll insgesamt 23 Mädchen missbraucht und mindestens zehn von ihnen vergewaltigt haben, meist in seinem Campingwagen und teils vor laufender Kamera. Mario S., der zweite Angeklagte und Komplize von Andreas V., hat laut Staatsanwaltschaft Gewalt an acht Mädchen und neun Jungen begangen. Insgesamt spricht die Staatsanwaltschaft von 162 Taten, darunter schwere Vergewaltigungen und die Herstellung kinderpornografischer Filme.

Mitangeklagt ist Heiko V. aus Stade in Niedersachsen. Er soll einige der Taten gefilmt und Liveübertragungen der Gewaltakte im Internet verfolgt haben. Die Polizei hat bei ihm gigantische Mengen an kinderpornografischen Dateien gefunden: rund 26.500 Bilder und etwa 10.300 Videos, insgesamt sollen es 42.000 Aufzeichnungen sein. Ein Gutachten bescheinigt Heiko V. „keine pädophile Neigung“, sagt dessen Verteidiger Jann Henrik Popkes. Das wirft Fragen auf: Wieso hat Mario V. dann die Kinderpornos besessen? Wieso hat er sich Vergewaltigungen an Kindern im Netz angesehen?

9.40 Uhr, Richterin Grudda verkündet: „Die Öffentlichkeit bleibt für die Dauer der Verlesung der Anklageschrift ausgeschlossen.“ Sie begründet das mit „schutzwürdigen Interessen der Opfer“, die durch die Details in dem Papier verletzt würden, mit „Einzelheiten der Art und Weise der sexuellen Übergriffe“, die für die Kinder und Jugendlichen mit einer „besonderen Belastung verbunden sind“. Ungewöhnlich ist das nicht, bei Jugendschutzprozessen wie diesem hier, bei dem es um Minderjährige und zum Teil sehr junge Kinder geht, ist das sogar üblich.

Später, nachdem hinter verschlossener Tür die Anklageschrift verlesen worden ist, tritt ein Opferanwalt vor die Tür des Saals 165, atmet tief durch und sagt: „So etwas Schreckliches habe ich noch nie gehört.“ Roman von Alvensleben hofft auf „umfassende Geständnisse“ aller drei Angeklagten.

Alle Beteiligten wollen den betroffenen Kindern eine Aussage vor Gericht ersparen. Die drei Richterinnen haben viele dieser Minderjährigen als Zeugen geladen. Kinder im Gerichtssaal, das versucht die Justiz so weit wie möglich zu vermeiden, insbesondere bei sexueller Gewalt. Die Opfer sollen nicht noch einmal traumatisiert werden. Doch ohne die Aussage der Mädchen und Jungen können manche Prozesse nicht zufriedenstellend geführt werden, die Richterinnen wollen und müssen auch im „Lügde-Prozess“ genau wissen, was auf dem Campingplatz geschehen ist.

So etwas Schreckliches habe ich noch nie gehört. Ich hoffe auf Geständnisse

Roman von Alvensleben, Nebenkläger

Den Kindern soll es so leicht wie möglich gemacht werden. Wenige Tage vor Prozessbeginn konnten sie sich den Gerichtssaal anschauen. Seine Mandantin habe das getan, versichert Alvensleben. Um den Prozess einigermaßen zu überstehen, wird sie von Psycholog*innen begleitet. Seit 2017 ist die sogenannte „psychosoziale Prozessbegleitung“ gesetzlich verankert.

Die Richterinnen können die Kinder auch in einem anderen Raum im Gerichtsgebäude befragen und die Aussagen live in den Verhandlungssaal übertragen lassen. So müssen sie ihren mutmaßlichen Peinigern nicht gegenübersitzen.

Die Geständnisse

Als sich der Verteidiger des Hauptangeklagten Andreas V., Johannes Salmen, am frühen Nachmittag zu Wort meldet, geht ein Raunen durch die Zuschauerbänke. V. selbst schweigt. Eine psychologische Begutachtung lehnt er ab. Doch Salmen legt für ihn ein „vollumfängliches“ Geständnis ab.

Mario S., der zweite Angeklagte, spricht selbst. „Wenn ich könnte, würde ich das alles rückgängig machen. Aber das kann ich nicht“, sagt er. Er fühle sich schuldig und schäme sich. In der Untersuchungshaft sei ihm klar geworden, welches Leid er den Kindern zugefügt habe. Für Richterin Grudda ist das ein „wertvolles Geständnis“.

Andreas V.s Anwalt beantragt, das Verfahren für etwa 17 Taten, die V. vorgeworfen werden, einzustellen. Als Begründung gibt er an, dass manche der Kinder Angeklagte verwechselt hätten, ihre Aussagen seien zu ungenau und unsicher, manche der Taten seien lediglich geschätzt.

Wenn ich könnte, würde ich das alles rückgängig machen. Aber das kann ich nicht

Mario S., Angeklagter

Ob einige Taten tatsächlich nicht in das Strafmaß miteinfließen werden, muss nun die Staatsanwaltschaft entscheiden.

Danach gesteht auch Heiko V. Sein Verteidiger Jann Henrik Popkes verliest das „Schuldbekenntnis“ von Heiko V., als die Öffentlichkeit nicht anwesend sein darf. Am frühen Morgen vor Prozessbeginn hatte er noch gesagt: „Mein Mandant will irgendwann eine neues Leben beginnen.“

Das Versagen der Behörden

Der „Fall Lügde“ beschäftigt die Menschen hier in der Gegend. Wie kann es sein, dass in der unmittelbaren Nachbarschaft so etwas Abscheuliches passieren konnte? Rudolf Pernath will den Prozess als „ganz normaler Bürger“ verfolgen, er ist extra ist aus Hameln in Niedersachsen hierher gekommen. Er will nicht nur wissen, warum die drei Männer all das getan haben. Er will auch wissen, ob Behörden geschlampt haben. Die „Causa Lügde“ trägt nicht nur die Dramatik unglaublicher sexueller und körperlicher Gewalt an Kindern in sich. Es ist auch die Geschichte eines unglaublichen Behördenversagens.

So hätte der Hauptverdächtige Andreas V. schon vor 20 Jahren gestoppt werden können – wenn die Polizei genau hingehört und Ermittlungen aufgenommen hätte. Eine Mutter machte Ende der 1990er Jahre gemeinsam mit ihrer damals vierjährigen Tochter im „Eichwald“ Urlaub. Das Mädchen sei oft bei Andreas V. zum Spielen gewesen, zusammen mit anderen Kindern. Der „Addi“, wie er auf dem Campingplatz genannt wurde, habe schon immer Kinder um sich geschart.

Mario S. (l.) und Andreas V. sitzen zwischen ihren Anwälten Foto: dpa

Eines Tages sei die Vierjährige vom Spielen zurückgekommen und soll gesagt haben: „Mama, Penis lecken schmeckt nicht.“ Die Mutter sei sofort alarmiert gewesen und habe das beim Campingplatzwart gemeldet. Der soll abweisend reagiert haben: So etwas könne er sich nicht vorstellen. Zwei Jahre später stellte die Mutter Strafanzeige gegen Andreas V. Doch die Staatsanwaltschaft Detmold verfolgte die Spur nicht.

2002 und erneut 2008 geht die Polizei in Lippe weiteren Verdächtigungen von Eltern, Andreas V. würde Kindern Gewalt antun, nicht nach. Die Polizei nimmt die Hinweise zwar auf, leitet sie aber nicht an die Staatsanwaltschaft weiter. Involviert ist aber nicht nur die Polizei, sondern auch zwei Jugendämter: das im nordrhein-westfälischen Lippe und das in Hameln-Pyrmont in Niedersachsen.

Obwohl es also bereits Vorwürfe gegen Andreas V. gab, der Mann alleinstehend war und von Sozialhilfe und Hartz IV in einem Wohnwagen lebte, wurde ihm 2016 ein Pflegekind in Obhut gegeben, ein etwa sieben Jahre altes Mädchen. Ein Unding, denn gewöhnlich werden Kinder nur in Pflegefamilien untergebracht, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Während aber die Mitarbeiter*innen des Lipper Jugendamtes es ablehnten, dem Mann das Kind zu überlassen, weil die Umstände „für das Kind gefährdend“ aussahen, sah das Jugendamt Hameln-Pyrmont in Niedersachsen das Kindeswohl nicht in Gefahr. Tjark Bartels, SPD-Landrat von Hameln-Pyrmont, wird später erklären, Andreas V. hätte ein Pflegekind niemals bekommen dürfen.

Auch gegen den 34 Jahre alten Mario S. ermittelte die Staatsanwaltschaft Paderborn bereits 2004 und 2013 wegen sexuellen Missbrauchs. Die Verfahren wurden eingestellt.

Die Schlampereien bei der Polizei

Und so geht das weiter. Nachdem im Oktober 2018 der Anzeige einer Mutter endlich nachgegangen wird und zwei Monate später der Wohnwagen kontrolliert, versiegelt und Andreas V. in Untersuchungshaft genommen wird, verschleppen sich die Ermittlungen erneut. Das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen fragt in Lippe mehrfach nach, ob die Beamten dort Hilfe bräuchten. Sie lehnten ab, man habe alles im Griff. Später verschwindet Beweismaterial oder es wird nicht vollständig ausgewertet. Ein Behördenleiter setzt einen Kripo-Anwärter, also einen Polizei-Azubi, ein, um das Beweismaterial zu sichten. In Hameln-Pyrmont manipulieren Mitarbeiter*innen des ­Jugendamts Akten, eine Frau löscht Daten mit frühen Hinweisen auf sexuellen Missbrauch.

Ist das Schlamperei auf hohem Niveau, menschliches Totalversagen, unsensible Behördenignoranz? Oder steckt dahinter ein Fehler im System, Überlastung, unklare Regeln, die ein Verschulden verschiedener politischer und administrativer Akteur*innen erst möglich machen?

In Detmold wird die „Causa Lügde“ juristisch geklärt. Hier geht es nicht um Ämterversagen, sondern einzig um die Schuld der Angeklagten, macht Richterin Anke Grudde gleich zu Beginn deutlich. Für den Freitag sind Vernehmungen von vier Zeugen vorgesehen, darunter eines Kindes und einer jungen Frau, die beide zu den Opfern zählen. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen bleiben.

Die politischen Folgen dürften den nordrhein-westfälischen Landtag noch über das Prozessende hinaus beschäftigen. Zwei Tage vor Prozessbeginn richten Regierungs- und Oppositionsfraktionen einen Untersuchungsausschuss ein. In Hameln-Pyrmont gibt es den schon etwas länger.

Auf dem Campingplatz „Eichwald“ in Lügde-Elbrinxen wird es vermutlich in der nächsten Zeit leer bleiben. Ein Mann, freier Oberkörper, blaue Badeshorts, wedelt mit den Händen. Er sagt: „Wann ist das vorbei?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

18 Kommentare

 / 
  • Man kann nur hoffen, dass die Täter die Maximalstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung bekommen, UND niemals den Boden außerhalb einer Anstalt mehr betreten können.

    Gleichzeitig belegt ein solch fürchterlicher Fall aber auch eine gewisse Form des Versagens unserer Gesellschaft. Denn es ist angesichts der angezeigten Taten doch kaum vorstellbar, dass Personen dies nicht deutlich mitbekommen haben und dass Behörden nicht die Möglichkeit gehabt hätten das ihnen bekannt gewordene zu verfolgen und aufzuklären?!

    Und wenn man z.B. vergleicht, wie schwer es z.T. ist ein Kind adoptieren zu können, und wie leicht ein Kind achtlos in eine dieser Pflegefamilien gegeben wurde und wird, dann zeigt eben auch dies unser gesellschaftliches Versagen.

    Ohne hier eine Mitschuld aller konstruieren zu wollen, so denke ich aber doch, dass so ein Fall weniger leicht hätte passieren können, wenn wir eine solidarischere Gesellschaft wären, statt eine zunehmend größer werdende Ansammlung von Egoisten.



    Denn derartiges ist nunmal der Preis den eine entsolidarisierte Gesellschaft zu bezahlen hat, - zahlbar durch die Schwächsten, wie hier die Kinder - .

  • Zitat: „Der Grund dafür wird seit diesem Donnerstag vor dem Landgericht Detmold verhandelt“

    Würde man den Campingplatzbetreiber, seine Frau oder den Gast in den blauen Shorts fragen, würden die womöglich behaupten, nicht die „sexuelle und körperliche Gewalt an Kindern“ sei der Grund für die „gespenstische Stille“, den heruntergelassenen Schlagbaum, die schneidige Abweisung und die verschlossene Tür, sondern die Berichterstattung darüber. Es macht wohl doch einen Unterschied, ob man im Glashaus sitzt oder davor.

    Steht zu befürchten, dass Opfer „noch einmal traumatisiert“ werden oder „sich gleich ein Schild ‚Opfer‘ an die Stirn kleben“ könnten, kann die Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen werden. Polizei und Jugendämter können immerhin auf laufende Ermittlungen/Verfahren und auf ihr Hausrecht verweisen. Ein Campingplatzbetreibern aber hat offenbar keine „schutzwürdigen Interessen“ in den Augen der Öffentlichkeit. Man will ja schließlich wissen, wo man Urlaub macht. Auch, wenn der Campingplatzbetreiber gar keine Aufsichtspflicht hat seinen Gästen gegenüber.

    Ohne Informationen kann sich die Öffentlichkeit auch kein Urteil bilden, das ist wohl wahr. Nur: Muss sie das überhaupt? Ist fürs Be- bzw. Verurteilen nicht die Justiz zuständig? Klar, auch „die Justiz“ kann versagen. Genau wie „die Polizei“ oder „das Jugendamt“. Aber ist das allein schon ein Grund, quasi zur Selbstjustiz greifen zu wollen?

    Nein, „das Wichtigste vom Tage“ (Antenne Thüringen über seine 3-Minuten-Nachrichten) sind nicht die Polizeimeldungen. Die Öffentlichkeit muss nur alarmiert werden, wenn die Frage: „Systemfehler ja oder nein?“, hinreichend beantwortet scheint. Aber welcher Journalist will so lange schon warten, wenn „der Bürger“ gewarnt werden will für sein Geld?

    Übrigens: Wenn einer ohne „pädophile Neigung“ Kinderpornos hortet, kann er damit vermutlich entweder Geld machen oder seine Aggressionen unterdrücken. Beides sagt (auch) viel über die Gesellschaft aus, in der so ein Typ lebt.

  • Schon erschreckend dieses Versagen der beteiligten Behörden. Wegschauen, halbherzig ermitteln usw.

    Genauso überrascht es mich aber auch, dass 90% der Opfer/Fälle erstmal nicht bei der Polizei angekommen sind/angezeigt wurden. Das hat auch dazu beigetragen, dass die Täter über Jahre weitermachen konnten.

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    "Ist das Schlamperei auf hohem Niveau, menschliches Totalversagen, unsensible Behördenignoranz? Oder steckt dahinter ein Fehler im System, Überlastung, unklare Regeln, die ein Verschulden verschiedener politischer und administrativer Akteur*innen erst möglich machen?"

    Es liegt nahe, dass in einem Land mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung und einer kapitalistischen gesellschaftlichen Ideologie die Sorge um ausbleibende Touristen, Investitionen und Facharbeitskräfte bei der Realitätsverleugnung eine Rolle spielt.

    So nicht nur in diesem Fall. Der Rechtsextremismus in Sachsen wurde ja auch nicht nur in der DDR geleugnet, sondern fast genauso lange noch einmal in der Bundesrepublik.

    Auch bei der Leugnung oder Verharmlosung des menschengemachten Klimawandels stehen wohl zuallererst einmal die wirtschaftlichen Interessen diverser Industrien Pate.

    Das alles stört das bürgerlich-kapitalistische Idyll, jene heile Welt, die nicht nur das ZDF, der Bayrische Rundfunk (etc.) und die Landeskirchen, sondern auch die werbende Wirtschaft und ihre Propagandisten über Jahrzehnte so mühsam aufgebaut haben.

    Polemisch: Auf dem Traumschiff könnte sowas nicht passieren.

    • @85198 (Profil gelöscht):

      Ja da hast du recht. Auch in der bekanntlich kapitalistischen DDR gab es sowas wie Kindesmissbrauch nicht, das konnte es dort gar nicht geben.

      • @Jan Berger:

        Stand das dort nicht sogar in der Verfassung der DDöR, dass es das nicht gibt?

  • "...der Mann alleinstehend war und von Sozialhilfe und Hartz IV in einem Wohnwagen lebte, wurde ihm 2016 ein Pflegekind in Obhut gegeben, ein etwa sieben Jahre altes Mädchen. Ein Unding, denn gewöhnlich werden Kinder nur in Pflegefamilien untergebracht, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen."

    Der Teil ist stigmatisierender Blödsinn. Maßgebend ist maximal der Anfang, nämlich, dass "es also bereits Vorwürfe gegen Andreas V. gab". Alles andere sagt gar nix aus. Es wird ebenso viele Fälle, wenn nicht mehr geben in Familien von verheirateten Vätern, die ausreichend verdienen und nicht in einem Bauwagen wohnen.



    Ich würde zwar noch gerne wissen, warum das Jugendamt ihn zum Pflegevater bestellt hat, aber der Skandal liegt nicht darin, dass jemand arbeitslos auf einem Campingplatz lebt und meint, er könne ein Kind großziehen, sondern darin, dass die Jugendämter, wahrscheinlich wegen personellen Engpässen und wegen fehlender finanzieller Mittel, nicht einmal regelmäßig überprüfen können, ob ein Kind gefährdet ist. Und das nicht mal bei Fällen, die wohl schon über die Verantwortung des Jugendamtes laufen.



    Ein ebenso großer Skandal wäre es btw, wenn ein Kind in einer bürgerlichen Familie mißbraucht würde, wenn ein Hartz IV-Empfänger auf einem Campingplatz dem Kind helfen könnte.



    Ein Skandal ist es sowieso, dass man davon wohl ausgeht, dass man mit Hartz IV kein Kind vernünftig erziehen kann. Dieser Skandal liegt aber bei den Hartz-Regelungen.

    • @Age Krüger:

      Sehr interessant was Sie da meinen. Aber normalerweise wird bei der Unterbringung eines Pflegekindes schon sehr sorgfältig geprüft, ob auch die Umstände stimmen. (eigenes Zimmer etc.) Ein Wohnwagen sollte da normalerweise nicht die geeignete Umgebung sein für ein Kind. (Schließlich war der Mann nicht der Kindsvater oder sonst ein Verwandter).



      Der Skandal liegt nicht darin, dass der Mann Hartz IV-Empfänger war, sondern dass in anderen Fällen sehr strenge Maßstäbe angelegt werden für die Aufnahme von Pflegekindern.

    • @Age Krüger:

      Das Ding dabei ist, in Punkto Kindesmissbrauch bzw Missbrauch Schutzbefohlener Bilden sich regelmäßig Stigmatisierungen heraus. Ob nun früher Juden (verbacken Kinder in Matzen) oder heute Pfarrer, Grüne oder hier Hartz IV-ler oder der Kapitalismus. Solche Fälle werden regelmäßig instrumentalisiert.

    • @Age Krüger:

      Wie wär's statt "wegen personellen Engpässen und wegen fehlender finanzieller Mittel" mit: verantwortungsloser Faulheit und Bequemlichkeit?

      • @Cleo Midis:

        Ist eine Interpretationssache.

        Persönlich bin ich nicht mehr in der Lage, meinen früheren Job, bei dem ich als Individualpädagoge mit einem verhaltensauffälligen Jugendlichen zusammenleben musste, auszuführen. Wenn aber Geld da wäre, dass man auch Entlastungsstunden hätte und nicht über Jahre hinweg 24h an 7 Tage in der Woche für den Menschen da sein müsste, würde ich das wieder machen. Es hat nicht nur was mit Faulheit zu tun, wenn man nicht mit brutalen Schlägern z.B. zurecht kommt. Ich habe persönlich auch nicht die geringste Ahnung vom Umgang mit Mädchen z.B., die mißbraucht wurden. Wenn man nicht ausreichend Menschen für die Jugendhilfe ausbildet oder es eben so mies bezahlt, dass nur Kinderficker offenbar die Arbeit übernehmen wollen, dann hat das schon eher was mit fehlenden Geldmitteln zu tun.

        • @Age Krüger:

          Sie haben oben schon richtig bemerkt, dass Kindesmissbrauch keine Frage des Einkommens ist.

          Auch eine höhere Bezahlung der Jugendhilfe oder der Plegeltern würde nur dazu führen, dass gutbezahlte Täter den Job hätten.

          Solange öffentlic und auch amtlich keine Kultur des Hinschauens und Reagierens gepflegt wird, hilft auch Geld wenig.

          • @Rudolf Fissner:

            Nicht der Lohn des einzelnen soll steigen, sondern es soll ermöglicht werden, dass ausreichend Kontrollpersonal da ist.



            Kontrolle hört sich zwar blöd an, aber ich hätte mich gefreut, wenn mein Chef mal öfter Zeit gehabt hätte und einen entlastet hätte. Nicht mehr Geld für den einzelnen, sondern mehr Geld für Personal muss da sein.

            Man braucht btw für solche Tätigkeiten ein erweitertes Führungszeugnis. Und die verantwortlichen Arbeitgeber rufen auch vorab bei vorherigen Arbeitgebern an und erkundigen sich genau über denjenigen, der das macht.Eine Praxis, die ich z.B. bei öffentlichen Arbeitgebern wie Jugendämtern, wahrscheinlich nicht finden würde.

            • @Age Krüger:

              Ergänzend noch dazu:



              Wenn Sie das professionell machen, dann werden Sie sowieso, sofern der Arbeitgeber vernünftig ist, von oben bis unten durchleuchtet. Eine Vorstellungsrunde da dauert ungefähr ein halbes Jahr und Hausbesuche sind bei professioneller Tätigkeit selbstverständlich, da der Jugendliche oder das Kind ja in Ihrer Wohnung mit Ihnen aus pädagogischen Gründen leben soll. War bei mir auch so. Dass die mir keine Spyware auf den Rechner noch gelegt haben, war alles.

              Allerdings:



              Pflegeeltern bekommen so gut wie nix dafür, die brauchen auch nicht mal eine pädagogische Ausbildung. Die ganzen minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge wurden oft in diesen Pflegefamilien untergebracht. Die bekamen dafür irgendwie 500 €, um die Unkosten zu decken.



              Da war dem Staat jede Jugendhilfemaßnahme zumeist zu teuer, denn die UMF kann man ja irgendwie noch abschieben, wenn sie auffällig werden, wenn die dann mal 18 sind.

    • 8G
      85198 (Profil gelöscht)
      @Age Krüger:

      Da hast du recht. (Ich schreib mal "du")

  • Das klingt mir alles viel zu sehr nach Kinderporno-Ring.



    Ich hoffe absolut Unrecht zu haben.



    Nachdem aber anscheinend in anderen Faellen Polizeibeamte junge Frauen, die wegen sexueller Belaestigung Anzeige erstatten auf eindeutige Weise "einluden", muss man leider auch das in Betracht ziehen.

    Mir ist nach dem Lesen dieses Artikels schlecht und mein volles Mitgefuehl bei allen Opfern dieser unaussprechlichen Tat.



    Viel Kraft bei Allem was kommt

  • Wenigstens haben die Angeklagen ein umfassendes Geständnis abgelegt.

    Mir erschließen sich die Versäumnisse der Polizei bis heute nicht. Ich hoffe das es in anderen Regieren anders gehandhabt wird.

    • @Sven Günther:

      Soviel ich weiß haben sie nur das gestanden, was unter keinen Umständen mehr zu leugnen ist. Elf Fälle, die nicht klar nachweisbar sind, bleiben wohl ungeklärt.