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Klimaproteste in DeutschlandSo gut sortiert wie nie

Die größte Schülerbewegung der Geschichte Fridays for Future verändert auch die radikale Linke: Sie ist einfühlsam geworden.

Blockade der Bahnstrecke zwischen den Kohlekraftwerken Neurath und Niederaußem am 23. Juni Foto: dpa

Aachen/Viersen/Hochneukirch taz | Es ist Samstag, 13.09 Uhr, als es an diesem Wochenende dann ausnahmsweise doch einmal unübersichtlich wird: Hunderte Menschen biegen plötzlich auf einer Landstraße in Nordrhein-Westfalen, zwischen Lützerath und Immerath, links ab ins freie Feld. Alle rennen nun so schnell sie können – stolpern, aufstehen –, erst über Sand, dann durch ein Kornfeld und einen Kartoffelacker, zur Tagebaukante hin, in Garzweiler. Ein paar Dutzend Polizisten, wie verloren in der Menge, versuchen zu fangen, was zu fangen ist, aber sie fangen nicht viel. Diese Erstürmung dauert 16 Minuten.

Am Horizont, gleich da vorne, liegt der Tagebau Garzweiler, eines der größten Braunkohlefördergebiete Europas, und schon rutschen die ersten Besetzerinnen und Besetzer hinab. Sie schlittern einen sandigen, steilen Abhang hinunter. Sie haben ihr Ziel erreicht.

So eine Hektik, so eine Bewegung: Sie ist zur Ausnahmesituation geworden in einem Protestambiente, in dem fast jede Bewegung inzwischen wohlkalkuliert ist. Über eintausend Menschen erstürmten am Wochenende den Tagebau in Garzweiler, Hunderte blockierten über Stunden und Tage die nahe gelegenen Schienengleise am Kohlekraftwerk Neurath und am rund 40 Kilometer entfernten Hambacher Forst.

Zehntausende gingen zuvor in Aachen und Hochneukirch für ein rasches Ende der Kohleförderung und eine effektivere Klimaschutzpolitik auf die Straßen. Es waren wieder viele Bewegungsrekorde dabei, eine Neugeburt der Anti-Kohle-Bewegung in Deutschland und vor allem: Ausdruck einer Veränderung.

Eine Wachstumsgelegenheit

Die radikale Umweltbewegung ist einfühlsam geworden über die Jahre, erwachsen, etabliert und heute wohl so organisiert wie nie zuvor. Wäre diese Bewegung ein Mensch, dann ein Elternteil. Hätte sie eine Küche, dann eine saubere. Jetzt hat diese Bewegung Nachwuchs bekommen: Die Schülerinnen sind da und die Schüler, die Kinder von Fridays for Future, die in weniger als einem Jahr schafften, was radikale Kraftwerks- und Tagebaubesetzer seit über zehn Jahren versuchen: dass ganz Deutschland über Klimawandel redet.

„Lio“ nennt sich der 18-jährige Junge mit Lockenkopf, der in einem Zirkuszelt im Protestcamp Viersen, 20 Kilometer entfernt vom Tagebau Garzweiler, so wirkt, als wachse er gerade einen ganzen Meter. Er steht kerzengerade und nimmt seine Sache sehr ernst, als er jungen Schülerinnen und Schülern wie ein Lehrer an einer Schautafel erklärt, wie sie gemeinsam nach Aachen kommen am Freitag, zur großen Fridays-for-Future-Demonstration und wie es sich anstellen lässt, dass das Zugticket für sie nur 9,20 Euro kostet statt 18,70 Euro.

„Lio“ ist zum ersten Mal bei einer solch großen Sache dabei und man merkt es ihm an. Links und rechts von ihm finden Protesteinführungen statt und Strategiediskussionen. Das ist ja das Besondere hier: Radikale Umweltschützer aus ganz Europa sind gekommen, aus Italien, Spanien, Frankreich und Großbritannien, viele von ihnen langjährig erprobt in allen möglichen Formen des zivilen Ungehorsams – aber dies ist jetzt ihre Chance: Der Erfolg der jungen Schülerbewegung, die am Freitag in Aachen rund 40.000 Menschen auf die Straße brachte, ist auch für die kapitalismuskritische Linke eine Wachstumsgelegenheit.

Anti-Kohle-Proteste

Mehr als 8.000 Demonstranten haben am Wochenende am Tagebau Garzweiler im rheinischen Braunkohlerevier für eine Klimawende und einen schnelleren Ausstieg aus der Kohleverstromung demonstriert. Neben einer Fahrraddemonstration, einer 100 Meter langen Sitzblockade sowie einer Kundgebung in dem von Abbaggerung bedrohten Dorf Keyenberg gab es rund um den Tagebau Garzweiler auch zahlreiche Aktionen zivilen Ungehorsams.

Gut 1.000 Aktivistinnen und Aktivisten des Bündnisses Ende Gelände drangen am Samstag in den Tagebau ein. Zudem blockierten etwa 800 Aktivisten eine Bahnstrecke am Kraftwerk Neurath sowie am rund 40 Kilometer entfernten Tagebau Hambach. Über die Schienenstrecken wird Kohle für die entsprechenden Kraftwerke geliefert.

Zuvor waren am Freitag in Aachen im Rahmen der Schülerproteste von Fridays for Future bis zu 40.000 Menschen auf den Straßen gewesen. Die Polizei ging überwiegend zurückhaltend gegen die Aktionen vor. Zwar unterband sie am Freitag und Samstag einigen Gruppen die Anreise zum Tagebau Garzweiler. Gleichzeitig sah sie laut eigener Aussage in den meisten Fällen von Persona­lienfeststellungen und Strafverfolgung ab. Letzte Blockaden rund um den Tagebau Garzweiler wurden am Sonntag beendet. Zu den Zahlen der Festgenommenen konnte die Polizei bis zum Redaktionsschluss noch keine Angaben machen. (epd, taz)

Es gibt einen Menschen, an dessen Sprache sich zeigen lässt, wie die einen von den anderen profitieren und die anderen von den einen. Seine Name ist Tadzio Müller, einst gehörte er zu den Anführern der europäischen Klimaschutzbewegung, immer für einen Blockadeaufruf gut. 2009, bei Protesten anlässlich des UN-Klimagipfels in Kopenhagen, wurde er deshalb verhaftet. Zu den Lautsprechern und Strategen der Bewegung gehört er noch immer.

Hochneukirch, 5.000 Einwohner, am Rande des Tagebaus Garzweiler, Samstagmittag: Was anders geworden ist, wird sich hier heute um 13.17 Uhr zeigen, als eine Demonstration von rund 8.000 Menschen der Fridays-for-Future-Bewegung die Tagebaukante Garzweiler erreicht.

Bei Lützerath, sieben Kilometer entfernt, hat gerade die Erstürmung des Tagebaus begonnen, aber hier ist noch alles ruhig. Ein Wasserwerfer der Polizei steht an der Tagebaukante bereit und ein Räumpanzer. Tadzio Müller fährt auf dem Lautsprecherwagen mit und heizt die Schüler an.

Doch als die Tausenden Menschen nun hier auf die Abbruchkante stoßen, sagt er einen Satz, den er zuvor so wohl nicht gesagt hätte: „Bitte bleibt auf dem Weg. Wir wollen nicht in die Grube hinein. Wir sind hier, um ein symbolisches Zeichen zu setzen.“ Es ist ein wichtiger Satz, ein strategischer und ein bisschen gelogen: Er markiert, dass die einst linksradikale Klimabewegung beginnt, die Sprache der Schüler zu sprechen; er markiert, dass nicht alle nun gleich zu Besetzern werden müssen.

Es dauert nicht lange, natürlich, bis Müllers Freunde schließlich doch in die Grube stürmen, aber sie haben vorausschauend geplant: Sie laufen am Ende der Demonstration, sodass sie die Schülerinnen und Schüler nicht gefährden, sodass jede und jeder tun kann, was ihm selbst opportun erscheint. So läuft das also, wenn die Großen auf die Kleinen aufpassen und die Großen von den Kleinen lernen. So läuft das, wenn die Kleinen vorneweg gehen. So läuft das, wenn die Kleinen groß geworden sind und den Marsch anführen.

Ein gutes Jahrzehnt bereits reifte die einst sehr überschaubare Klimabewegung in Deutschland zu diesem Moment heran. Erst waren es kleine Klimacamps, oft besucht von nur ein paar Dutzend Teilnehmern, vor allem aus antikapitalistischen Gruppen, die den Begriff der Klimagerechtigkeit in Deutschland einführten. Gemeint war damit: daran zu denken, dass die Emissionsquoten in Deutschland Auswirkungen vor allem auf die armen Bevölkerungsteile am anderen Ende der Welt haben würden.

Nun ist diese Botschaft angekommen, spätestens wohl, seit ein YouTube-Star namens Rezo es seinen Zuschauern neulich in einem Internetvideo zu erklären versuchte. Mit dem Erwachsenwerden, mit dem Vordringen in die gesellschaftliche Mitte hat sich auch die radikale Linke verändert. So sortiert war sie noch nie. Selbst für die Polizei: berechenbar.

So sauber und ordentlich

Es ist 9 Uhr, als an diesem Freitag Tausende Menschen in einem Protestcamp in Viersen, unweit vom Tagebau Garzweiler, in einer langen Schlange stehen, um sich Stullen mit Rote-Beete-Mus und veganem Nutella zu schmieren; es ist 9.30 Uhr, als sie schließlich zu Tausenden zu Fuß, bepackt mit Schlafsäcken und Vorräten für die Nacht, zum Tagebau Garzweiler aufbrechen; und es ist 10.15 Uhr, als alle Frühstückstische von der freiwilligen Putzkolonne wieder gereinigt und poliert sind, so sauber und ordentlich, als hätte hier noch nie jemand gekrümelt.

Die Logistik der außerparlamentarischen Macht, sie hat eine Qualität erreicht, die an die alten Zeiten erinnert, als 2007 in Heiligendamm Zehntausende Menschen gegen den G8-Gipfel demonstrierten. Nur steriler ist alles geworden, noch aufmerksamer, noch organisierter. Und die wirklich militanten Gruppen reisen gar nicht mehr an.

Es ist eine Protestwelt, in der die Pressesprecher der Klimabewegung Visitenkarten verteilen, in der Busse gechartert werden, wenn etwa der Bahnhof in Viersen über Stunden von der Polizei geschlossen wird; es gibt in dieser Welt einen Awareness-Tisch, auf dem eine Blume steht, ein altrosafarbenes Löwenmäulchen, und wo jede und jeder einfach sagen kann, was sie bewegt oder wie es ihm geht oder wonach ihr ist.

Wirklich an alles gedacht

In dieser Welt wird während einer Gleisbesetzung unter freiem Himmel diskutiert, ob auf den gemeinsam besetzten Schienen vor dem Kohlekraftwerk Neurath ein Rauchverbot herrscht oder nicht. Oben, die Flugdrohne, die da fliegt, fertigt ästhetische Filmaufnahmen für die ehrenamtlich tätige Werbeabteilung des „Ende Gelände“-Protests und es gibt einen Mann, der an diesem Wochenende mutterseelenallein und Kilometer entfernt von allen anderen auf einer Wiese steht in der Nähe des Tagebaus Garzweiler, auf der, theoretisch, Unterstützer der Bewegung parken könnten.

Er hält ein Pappschild in die Luft, auf das er ein „P“ geschrieben hat, aber es parkt niemand bei ihm. Er hat sich eingetragen für den Parkplatzdienst bei Keyenberg. Er tut es wohl für die gemeinsame Sache. Er tut es in aller Ruhe.

Wirklich an alles haben sie hier gedacht, selbst die Gehwege zwischen den Schlafzelten im Protestcamp sind ordentlich mit Flatterband abgezirkelt. Gespenstisch, diese Organisationskraft, so als sollte alles fein hergerichtet sein, wenn die Eltern vorbeikommen, die „Parents for Future“, um zu schauen, ob es ihren Kindern gutgeht.

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11 Kommentare

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  • teilweise nett der artikel,

    aber ein paar sachen hat der autor nicht so drauf:

    awareness-strukturen sind enorm hilfreich und gehören nicht durch den kakao gezogen. und das ein camp mit 6000 zelten markierte wege bekommt ist irgendwas zwischen schlau und selbstverständlich.

    ein größeres manko: alle protraitierten personen sind hier männlich. finde ich nachlässig und einseitig. zumal die meisten funktionstragenden personen weiblich waren.

  • 0G
    05388 (Profil gelöscht)

    Oje, da werden reichlich Klischees beschworen. Ich überlge noch, wo's oim Camp steril war.



    Oke, meine Hände nachm Dixie-Klo waren ab und zu bisschen steril, weil immer genug Desinfektion da war.

    Es war bunt, es war wild, es war liebevoll, fröhlich, kreativ, organisiert und diszipliniert. Das geht alles gleichzeitig, und es ist GUT. Glaubs nur, M. Kaul! =)

     

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    Die Moderation

  • Was neu ist, dass vor allem Frauen hier zu sagen. Supercoole Frauen, die alles im Blick haben. Die herablassenden Bemerkungen über diese markierten Gehwege zwischen den Zelten: einfach nur hohl. Wer da war, weiß, dass angesichts der Riesenanzahl von Zelten von 6000 Menschen diese Wege eine enorme Erleichterung waren, außerhalb dieser Wege war bei den dichtaufgestellten Zelten fast kein Weiterkommen.



     

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    Die Moderation

    • @Renate:

      Würde mich ja brennend interessieren, was hier gekürzt werden "musste" ;-)

    • @Renate:

      Sorry, Korrektur des ersten Satzes: "Was neu ist, dass vor allem Frauen hier mitmischen."

  • Ob die Repräsentanten konservativer Strömungen ihre Veranstaltungen auch so penibel und sauber hinterlassen?

  • :)

  • Die Kohlebahn sollte abmontiert werden. Die Gleise können ja anderweitig verwendet werden.

  • Ich war letztes Jahr bei dem Hambach-Camp dabei. Dieses Jahr konnte ich (leider!) nicht.

    Ein paar Bemerkungen zu dem Artikel: diese, wie Ihr schreibt "gespenstische" Organisationskraft, diese Liebe zum Detail, die "saubere Küche" (lese ich da etwas Spott zwischen den Zeilen?) -- die sind mir auch, als absoluten Neuling sofort ins Auge gesprungen.

    Aber nur positiv. Ich kann Euren Spott (wenn ich die Nuance richtig erwischt habe) keinesfalls teilen.

    Für mich war das ein (be-)rührendes (und ansteckendes!) sich-umeinander-kümmern.

    Wer von der Gesa [1], 30 Km vom Camp, weit nach Einbruch der Dunkelheit, ohne Geld in der Tasche entlassen wird -- um dann (unerwartet!) von ein paar Leuten [2] abgeholt zu werden "hey, schön, dass Du draussen bist. Willst Du zum Camp? Oder lieber heute in Köln übernachten?" und dann noch geknuddelt wird... weiss das zu schätzen. Ich jedenfalls war den Tränen nahe.

    Ich bin schon länger unterwegs, nicht die typische EG-Altersgruppe. Ich war nie einer von den ganz harten Aktivisten. Wenn ich mich aber an meine früheren "Haudegen"-Geschichten erinnere und mit heute vergleiche... die machen etwas richtig. Sehr richtig. Richtiger als wir Alten, die es wohl ab und zu nötig hatten, den fetten Zampano zu spielen.

    Kurzum: diese Umsicht, die "saubere Küche" war schon letztes Jahr da. Mag sein, dass sie jetzt, angesichts von FfF noch sauberer geworden ist. Ich finde sie gemütlich so.

    [1] taz.de/Wichtige-En...Begriffe/!5604631/



    [2] Gesa-Support: könnt Ihr auch in Euren Glossar aufnehmen.

    • @tomás zerolo:

      Unterschreibe ich beides. Wer es noch nie erlebt hat, hat vermutlich einfach nicht genug Fantasie sich so was, was man im normalen Leben nicht erfahren, überhaupt gibt.



      Müsste ich eine Gruppe von vielen 1.000 Menschan wählen, um mit ihnen auf einer Insel den Rest meines Leben zu verbringen, dann wären es genau diese.



      ----------------------------



      Ich habe auch Anett Selle sehr vermisst, auch wenn es gut ist, was sie jetzt macht.



      Sorry Leute, ich vermisse bei euch eine klare Haltung.



      Gewitzel und penible Abgrenzung sind etwas anderes als die durchaus kritische (An-)Teilnahme, die ich an Anett Selle so schätze.

    • @tomás zerolo:

      War dieses Jahr dabei: teile deine positiven Eindrücke und Empfindungen voll und ganz. (Auch dass der Artikel spöttisch gemeint war, ist von Martin Kaum leider nicht anders zu erwarten.)