piwik no script img

Jenseits des Marktdiktats

Die Neue Heimat stellte in den Wirtschaftswunderjahren und danach massenhaft bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung – eigens geschaffene Steuerbegünstigungen machten es möglich. Der Gewerkschaftskonzern scheiterte an sich selbst, nichtsdestotrotz ist sein Wirken ein Menetekel für die heutige Politik

„Neu-Altona“: Das größte Wiederaufbaugebiet Hamburgs wurde von der Neuen Heimat 1962 nach Plänen von Ernst May, errichtet Foto: Hamburgisches Architektur­archiv

Von Bettina Maria Brosowsky

Wohl selten kam eine Architekturausstellung so zur rechten Zeit wie das Mammutunterfangen über die gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“, jene „Sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten“, so der Untertitel. In den 1980er-Jahren skandalträchtig gescheitert, galt ihr programmatisches Vermächtnis lange als diskreditiert. Und nur durch beherztes Zugreifen des Architekturarchivs der Hamburgischen Architektenkammer konnte 1989 überhaupt noch Belegmaterial der Betriebsaktivität, schon zur Vernichtung zusammengestellt, geborgen werden. Darunter sind eine Dokumentation aus 25.000 professionellen Fotos, Filme von über 20 Stunden Spieldauer sowie Pläne und Modelle, die in jahrelanger Arbeit erschlossen und digital aufbereitet worden sind.

Zum 27. Juni übernimmt das Museum für Hamburgische Geschichte nun den Ausstellungsparcours mit rund 35 exemplarischen Projekten, den das Hamburger Architekturarchiv gemeinsam mit dem Architekturmuseum der TU München erarbeitetet hat und der dort bereits auf außergewöhnliches Publikumsinteresse gestoßen ist. Die Ausstellung rekapituliert die desaströse Lage nach dem Zweiten Weltkrieg – 1950 wurde ein Fehlbestand auf 6,3 Millionen Wohnungen beziffert –, das Erfolgsmodell Neue Heimat ab diesem Jahr, seine spätere, fast weltumspannende Tätigkeit quer durch alle Baugattungen, aber auch den systemischen und korrupten Kontrollverlust des einst so hoffnungsvoll gestarteten sozialprogrammatischen Baukonsortiums.

Ambitionierte Sozialbauprogramme

Während heutzutage viele Entscheidungsträger einzig „den Markt“ für geeignet erachten, den akuten Mangel an Wohnraum zu richten, und die öffentliche Hand, von Kommunen bis Bund, allenfalls wohlklingende Worte zu einer „Wohnbau-Offensive“ oder irgendwelchen „Programmen“ verlautbart, nahmen nach dem Zweiten Weltkrieg neben dem massiv intervenierenden Staat die Gewerkschaften das Ruder in die Hand. Sie hatten sich während der Weimarer Republik bereits für diese Aufgabe qualifiziert: Zusammen mit den Genossenschaften, dem klassischen Selbsthilfemodell Wohnungssuchender aus dem Geist der 19. Jahrhunderts, beherrschten die 1922 ins Leben gerufenen gewerkschaftseigenen Baugesellschaften die Umsetzung der ambitionierten Sozialbauprogramme in Großstädten wie Berlin, Frankfurt oder Hamburg.

Politische Basis war das Gemeinnützigkeitsgesetz, das Bauträgern zwar enge Grenzen bezüglich Wohnungsgröße, nutznießendem Personenkreis oder Miethöhe setzte, im Gegenzug aber umfangreiche Steuerbefreiungen und Subventionen zusicherte. Durch einen hohen Organisationsgrad kontrollierten die Gewerkschaften zudem ausführende Baubetriebe und erprobten partizipative Modelle in ihrer Bestandsentwicklung.

Aktivitäten zur Kapitalbeschaffung

Keimzelle der Neuen Heimat war eine 1926 in Hamburg gegründete „Kleinwohnungsbaugesellschaft“, deren Vermögen und Besitz von 4.200 Wohnungen 1933 durch das NS-Regime beschlagnahmt wurde und 1939 unter dem später weitergeführten Namen in der Deutschen Arbeitsfront aufging. 1950 von den Alliierten an den neu gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund rückübertragen, galten erste Aktivitäten dem Wiederaufbau kriegszerstörten Bestandes, vorrangig jedoch der Kapitalbeschaffung.

Durch Pfandbriefe und sogenannte „Paragraf-7c-Darlehen“ gemäß der 1954 erlassenen Steuergesetze, die es Unternehmern ermöglichen sollten, ihre Wirtschaftswunder-Gewinne steuerbegünstigt in den Wohnungsbau zu investieren, flossen schnell Mittel in einem Maße, das nicht durch Bautätigkeit aufgebraucht werden konnte. In der Folge erwarben die bald als „Unternehmensgruppe Neue Heimat“ firmierenden Hamburger Geschäftsleute weitere gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaften im Bundesgebiet, 1953 etwa den 95-prozentigen Anteil an der Bremer Gewoba. 1960 kontrollierten sie 27, formal eigenständige, regionale Tochtergesellschaften mit mehr als 1.300 Beschäftigten und einem Wohnungsbestand von 110.000 Einheiten. Bereits 1966 war die Neue Heimat Europas größter nicht-staatlicher Wohnungsbaukonzern.

Das bundesweite Baupensum war entsprechend expansiv: Von unter 500 Wohnungen im Jahr 1950 war es auf 14.000 im Jahr 1956 angewachsen, 1960 dann auf knapp 20.000, dem Niveau auch folgender Jahre. Bis 1982, der Einstellung ihres operativen Geschäfts, hatte die Neue Heimat über 460.000 Wohnungen erstellt, neben Mietwohnungen auch Eigenheime. 270.000 von einst 320.000 Bestandseinheiten gingen zum Ende der 1980er-Jahre, just als der Wohnungsmarkt wieder auffrischte, aus der Liquidationsmasse auch an Investoren, besonders im Süden und Westen der Bundesrepublik.

Schnell hatten sich auch Priorität und Maßstab der Bauprojekte verschoben, vom Aufbau alter Trümmergrundstücke hin zu Planung und Realisierung großer Ensembles nach modernsten städtebaulichen Erkenntnissen. In Hamburg waren es Neubau und Flächensanierung wie das Programm „Neu-Altona“, ab 1958 mit 12.000 Wohnungen konzipiert, dem auch 4.000 unzerstörte Vorkriegsbauten hätten weichen müssen. Bekanntlich blieb es Stückwerk, sehr zum Missfallen seiner Reißbrettstrategen wie Ernst May, die ihre „Vision einer atemberaubend modernen Stadt“ ausgeschlagen sahen.

Rekordverdächtige 10.000 Mietwohnungen

Eine der bekanntesten und größten Realisierungen ist die Neue Vahr in Bremen, sechs Kilometer nordöstlich der Innenstadt. Rekordverdächtige 10.000 Mietwohnungen und Eigenheime entstanden ab 1957 bis 1962, gegliedert in fünf organische Nachbarschaften. Architektonische Dominante bildet der 22-Geschosser vom finnischen Architekten Alvar Aalto mit 189 „Junggesellenwohnungen“, eine zeichenhafte Korrektur des im Wohnbau ansonsten fest zementierten traditionellen Familienbildes. Typologisch bildet die Neue Vahr den Vorboten der Megastrukturen nach 1960 bis etwa 1975, reine Schlaf-, euphorisch: Entlastungsstädte im ländlichen Umraum wie die Nordweststadt Frankfurt, Kiel-Mettenhof, Neuperlach bei München und viele weitere.

Die zunehmende Bedarfsdeckung im Wohnungssektor veranlasste die Neue Heimat, neuartige Geschäftsfelder zu erschließen. In rasanter Folge wurden in den 1960er-Jahren auch kommerzielle Tochtergesellschaften gegründet, so für Städte-, Gewerbe und Industriebau, kommunale Einrichtungen und das Auslandsgeschäft.

Ein gigantomanischer Auswuchs war etwa das nicht realisierte „Alsterzentrum“ in Hamburg-St. Georg von 1967, in der Ausstellung als Modellrekonstruktion zu bestaunen. Ein C-förmiger, 600 Meter langer Schwung bildete die zehn- bis zwölfgeschossige Basis für fünf bis zu 63-geschossige Wohnpyramiden: statt mühsamer Altstadtrevitalisierung also lieber ein komplettes neues Innenstadtviertel mit Versorgung, Freizeit und Wohnen, „eine Zitadelle städtischen Lebens“ – von Planung bis Bewirtschaftung komplett aus der Hand der Neuen Heimat!

Skandal dank Gier

Anfang der 1960er

Albert Vietor, Neue-Heimat-Chef seit 1963, und zwei weitere Vorstandsmitglieder gründen verdeckt Fernwärme-, Antennenbau- und Hausbau-Gesellschaften, denen sie fortan lukrative Aufträge zuschanzen. So baute die Wölbern-Hausbau-Gesellschaft renditeträchtige Wohnanlagen in Hamburg-Mümmelmannsberg. Durch Geheimabsprachen tauchen die Gesellschafter um Vietor nicht namentlich in Handelsregister- und Grundbuch-Akten auf, streichen aber die Gewinne ein.

Februar 1982

Der Skandal wird im Spiegel enthüllt: Die Neue Heimat hatte ihren Pressesprecher entlassen, der die Akten kannte und die kriminellen Vorgänge dokumentiert hatte. Vietor und seine Kumpane werden entfernt. Der ermittelte Schaden, der der Neuen Heimat durch Vietors Privatgeschäfte entstand, wird auf umgerechnet 107 Millionen Euro taxiert. Gleichzeitig forcierte die Aussicht auf Privatprofit offenbar den Expansionskurs. Dessen Bilanz: 193 Millionen Mark minus bei der Neuen Heimat, eine halbe Milliarde Verlust bei der Neuen-Heimat-Städtebau bei einem Konzernumsatz von 6,4 Milliarden Mark. Die Schuldenlast ist immens. Die Pleite droht.

September 1986

Zum symbolischen Preis von 1,– DM verkauft der DGB den mit 16 Milliarden Mark überschuldeten Neue-Heimat-Konzern an den Großbäcker Horst Schiesser – für zwei Monate. Seinen Sanierungsplan lehnen die Banken ab, weshalb der Verkauf rückgängig gemacht, eine Treuhandgesellschaft gegründet und schließlich der Konzern in meist kommunale Wohnbaugesellschaften überführt wird wie die Bremer Gewoba und die Hamburger GWG. Schiesser erhält eine millionenschwere Abfindung.

Einsetzender Kritik, auch an den Großsiedlungen, wurde mit einer Tochtergesellschaft zur wissenschaftlichen Voruntersuchung und Evaluation begegnet, prominent begleitet etwa vom Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich, bereits ab 1954 mit einer Firmenzeitschrift und hoher Präsenz in den öffentlich rechtlichen Medien. So wurde in den 1970er-Jahren stets umfangreich berichtet, wenn neuerlich ein oft imposant überdimensionierter Bau einer der Tochtergesellschaften übergeben wurde: das Hamburger Congress-Centrum CCH, sein internationales Berliner Pendant, das ICC, oder auch nur die SPD-Parteizentrale in Bonn, das Columbus-Center in Bremerhaven. 20 historische Filme, oft mit Prominenz aus Politik und Kultur, spielen bieder-fröhliches Zeitkolorit in die Ausstellung, 14 aktuelle Zeitzeugeninterviews leisten Rückblicke, meist nicht ohne Sympathie.

Mit ihrem Auslandsgeschäft verließ die Neue Heimat sicheres Terrain. So rühmlich auch die Pionierleistung war, noch vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel rund 2.000 Wohnungen in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv zu errichten, so risikoträchtig waren politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in Schwellen- oder Entwicklungsländern.

Letztlich war es aber wohl die Hybris schierer Größe des undurchdringlich verästelten, sowohl gemeinnützig als auch profitorientiert agierenden, zudem unterkapitalisierten Firmengeflechts, dessen einzige Geschäftsstrategie in der konstanten Expansion lag, die zur Insolvenz der Neuen Heimat führte. Dass sich die Herren Vorstandsmitglieder mit kriminellen Machenschaften bis in die Niederungen manipulierter Nebenkostenabrechnungen jahrelang die eigenen Taschen füllten, war ein schäbiger, umso medienwirksamerer Skandal mit weitreichender Konsequenz: Ihm fiel das System der Gemeinnützigkeit im Wohnungssektor zum Opfer, 1988 im Zuge einer Steuerreform der christlich-­liberalen Bundesregierung.

Steuerungsinstrument der Sozialpolitik

Die Ausstellung und die sie begleitenden Publikationen bieten nicht nur einen beeindruckenden sozial- wie baugeschichtlichen Rückblick in die sich modernisierende alte Bundesrepublik, sie liefern auch Anregungen zu den aktuellen wohnungspolitischen Grundsatzdebatten. „Utopie“ wäre für dieses Vermächtnis keineswegs vermessen, als die Neue Heimat und ein sozialdemokratisches Gesellschaftsverständnis Teile der Daseinsvorsorge, so das „Lebensmittel“ menschenwürdiges Wohnen, einem ausschließlich profitoptimierenden Markt entzogen und zum Steuerungsinstrument der Sozialpolitik machten.

Das ist weit entfernt vom aktivistischen Enteignungspathos, das aktuell gegen den Wohnungsmangel bemüht wird. Vielmehr handelt es sich um Konsenskapitalismus systemkonformster Natur. Aber selbst dazu fehlen heutiger Politik jeglicher Couleur ja ganz offensichtlich Ideen, die über einen simplen Mietendeckel hinausgehen.

Ausstellung: „Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten“, 27. Juni bis 6. Oktober 2019, Museum für Hamburgische Geschichte

Ausstellungskatalog „Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten“, Herausgeber: Andres Lepik, Hilde Strobl, 236 Seiten mit 235 Abbildungen, 29,90 Euro.

Dokumentation „Neue Heimat. Das Gesicht der Bundesrepublik. Bauten und Projekte 1947–1985“, Herausgeber: Ullrich Schwarz, Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Bd. 38, 808 Seiten, 960 historische und Farbabbildungen, 79 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen