Seenotrettung im Mittelmeer: Die Strafe Salvinis
Sie retteten Menschen in Seenot. Nun droht Mitgliedern der „Iuventa“-Crew eine Anklage aus Italien wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“.
Sogar ein Reporter der New York Times ist dabei und schreibt mit, während die Runde darüber nachdenkt, was sie tun kann, wenn die Staatsanwaltschaft in Sizilien Schmidt tatsächlich, wie signalisiert, wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ anklagt.
Bis zu 20 Jahren Haft sind dafür als Strafmaß vorgesehen, dazu drohen bis zu 15.000 Euro Geldbuße pro nach Italien gebrachte Person. Insgesamt haben die AktivistInnen auf der „Iuventa“ etwas mehr als 14.000 Menschen aus dem Wasser geholt. Sechzehnmal ist sie dafür ausgelaufen. Bei sieben dieser Missionen war Schmidt an Bord.
Als der im brandenburgischen Teltow ansässige Seenotrettungsverein Jugend Rettet 2015 gegründet wurde, gingen einige der AktivstInnen noch zur Schule. Sie sammelten über 150.000 Euro und kauften die „Iuventa“. 200 Freiwillige fuhren im Laufe der Zeit als Crew mit. Zehn von ihnen droht nun Gefängnis.
Mindestens vier Anwälte dürften nötig sein, um sie zu vertreten, bis zu 200.000 Euro wird das kosten. Dazu kommt womöglich noch einmal so viel für Gutachten, Unterbringung von Zeugen, Spesen für Fachleute. Jeden Tag, sagt Schmidt, sei sie nun mit der Vorbereitung beschäftigt: Akten lesen, mit Anwälten sprechen, Geld sammeln. „Wir machen nichts anderes.“
Schmidt stammt aus Berlin, hat dort Ergotherapie gelernt. 2009 zog sie nach Neuseeland und arbeitete dort im psychiatrischen Krisendienst. Als sich die Situation in Europa 2015 zuspitzte, ging sie als Sanitäterin nach Nordsyrien, half Flüchtlingen auf der Balkanroute, später in Griechenland, dort auch als Seenotretterin. Im August 2016 stieß sie zur „Iuventa“.
Im Verdacht der Begünstigung „illegaler Einwanderung“
Es war die dritte Mission des Schiffs. Schmidt hatte mehr Erfahrung als die meisten anderen, wurde Teamleiterin, später kümmerte sie sich um die Crews und das „De-Briefing“, das Besprechen der oft belastenden Einsätze.
Denn oft hätten die Helfer eben nicht mehr helfen können, sagt sie. Die „Iuventa“, ein ehemaliger Fischkutter, kann nur wenige Menschen transportieren. Normalerweise verteilte die Crew an den Unglücksstellen Rettungsinseln. In Ausnahmefällen nahm sie auch Menschen an Bord, bis größere Schiffe kamen, um die Geretteten an Land zu bringen. Doch manchmal kamen nicht genug Schiffe für alle. „Wenn man Menschen in die Augen sieht und nichts für sie tun kann – das wird uns für immer begleiten“, sagt Schmidt.
Alle Einsätze seien von der italienischen Rettungsleitstelle MRCC in Rom koordiniert worden. „Es gab keine Rettung ohne deren Autorisierung.“ Am 1. August 2017 beorderte das MRCC die „Iuventa“ nach Lampedusa, angeblich um gerettete Syrer, die ihnen die italienische Küstenwache übergeben hatte, zu der Insel zu bringen.
Am Morgen des 2. August beginnt die Polizei, die 15-köpfige, überwiegend aus Deutschen bestehende Crew zu verhören, und durchsucht das Schiff. Am Nachmittag wird es dann beschlagnahmt – eine „präventive Maßnahme“, so die Staatsanwaltschaft in Trapani. Die Besatzung stehe im Verdacht der Begünstigung „illegaler Einwanderung“ – dennoch bleibt sie auf freiem Fuß.
Bei einer Pressekonferenz legt die Staatsanwaltschaft Bilder vor, die Fotografen der Agentur Reuters bei zwei „Iuventa“-Einsätzen aufgenommen hatten. Zu sehen ist, wie ein Beiboot ein leeres Flüchtlingsboot schleppt.
Die Staatsanwaltschaft behauptet, das Boot sei in libysche Gewässer zurückgebracht worden, damit die Schlepper es wieder benutzen könnten. Wissenschaftler der Londoner Goldsmith University weisen später anhand des Bildmaterials nach, dass das Boot tatsächlich in Richtung Norden, also weg von der libyschen Küste, geschleppt wurde.
Auf anderen Bildern ist zu sehen, wie zwei Männer in einem Holzboot den Motor eines Flüchtlingsboots abbauen und mitnehmen. Die „Iuventa“ war dabei vor Ort. Die Polizei schlussfolgert, deren Besatzung habe damit die Aktivitäten von Schleppern zugelassen.
Schließlich zitiert die Polizei gegenüber italienischen Medien aus Abhörprotokollen, ein Besatzungsmitglied der „Iuventa“ habe gesagt, Fotos von Schleusern würden nicht an Behörden übergeben. Die Staatsanwaltschaft schließt daraus, dass die Crew sich mit Schleppern abgesprochen und teils agiert habe, ohne dass die Migranten in Gefahr gewesen seien. „Sie wurden von den Schleusern eskortiert und unweit der libyschen Küste der Besatzung der ‚Iuvent‘“ übergeben“, sagt Staatsanwalt Ambrogio Cartosio.
Mehrere Jahrzehnte Haft drohen
Schon seit September 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die „Iuventa“-Crew aufgenommen. Dass es nicht nur gegen „unbekannt“, sondern gegen sie ging, erfuhr Schmidt aber erst im Juli 2018. Sie war gerade auf einem Festival, ein anderes Crewmitglied kam mit einer Flasche Schnaps. Der Anwalt von Jugend Rettet hatte einen Brief aus Trapani bekommen.
Darin stand, dass gegen zehn von ihnen ermittelt werde, und zwar wegen Beihilfe zur illegalen Einreise. „Mir war überhaupt nicht klar, was das bedeutet,“ sagt Schmidt. Erst nach und nach begriff sie, dass sie für Jahrzehnte ins Gefängnis kommen könnte.
Eine Weile hatten die Seenotretter viel öffentliche Unterstützung in Italien. Doch die zerbröselte zwischen Ende 2016 und Mitte 2017. Es war die Zeit, in der der Staatsanwalt Carmelo Zuccaro aus Catania mit „Arbeitshypothesen“, wie er es nannte, an die Öffentlichkeit ging. Es war die Zeit, als in Italien der Unmut darüber, von der EU im Stich gelassen zu werden, immer weiter wuchs. „Einige“ NGOs könnten von Schleppern finanziert worden sein, behauptete Zuccaro bei einer Anhörung im italienischen Senat.
Politiker griffen dies auf. „Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden“, sagte der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz. Viele würden sich zu „Partnern der Schlepper machen“. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte, die Italiener „untersuchen Vorwürfe gegen NGOs: zum Beispiel, dass Schiffe ihre Transponder regelwidrig abstellen und so ihre Position verschleiern“.
Zudem habe er Informationen aus Italien, wonach Schiffe in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand einen Scheinwerfer einschalten, um Schleusern ein Ziel vorzugeben.
Die NGOs wiesen dies kategorisch zurück. Beweise gab es nie, auch Staatsanwalt Zuccaro hatte keine. Anklage erhob er deshalb nie. Für die öffentliche Meinung spielte das keine Rolle. Die Anschuldigungen blieben hängen, bis heute.
Anfang Mai 2017 wurde das Schiff zum ersten Mal von den Behörden nach Lampedusa beordert und dort inspiziert. Dabei haben die Behörden laut den Ermittlungsakten das Schiff verwanzt.
Schmidt treibt um, dass manche der aufgezeichneten Gespräche falsch verstanden werden könnten. Es habe ein „ziemliches Level an Sarkasmus gegeben, um mit den Situationen zurechtzukommen“, sagt sie. Auf dem Schiff habe es nie eine bezahlte Stelle gegeben, die Aktivisten hätten teils ihren Jahresurlaub für den Einsatz genommen. „Und in den Zeitungen stand, dass wir uns ’ne goldene Nase verdienen.“ Darüber hätten sie sich lustig gemacht.
„Wir konnten gar nicht fassen, dass man so ein Bild davon haben kann. Wir haben das durch den Kakao gezogen.“ Wenn ein Tag besonders lang war, seien auf der Brücke Sätze gefallen wie: „Da wird sich unser Bankkonto freuen, nach den 15 Booten heute.“ Schwarzer Humor, sagt Schmidt.
Die Order für ihre Einsätze sei stets von der römischen Rettungsleitstelle MRCC gekommen. Die habe sie angewiesen, zu Unglücksstellen zu fahren. Diese Anweisungen wurden über ein Satellitenfax übermittelt. „Wieder ein Schlepperfax“, hätten sie dann gewitzelt, weil ihnen zu Unrecht unterstellt worden sei, deren verlängerter Arm zu sein. „Das wird nun wohl auf dem Schreibtisch des Staatsanwalts landen,“ fürchtet Schmidt. Und womöglich an die Medien durchgestochen.
Außer auf Abhörprotokolle stützen sich die Ermittlungen auf Zeugen: Sicherheitsleute der „Vos Hestia“, eines Rettungsschiffs der NGO Save the Children. Sie waren für die private italienische Sicherheitsfirma IMI Security Service am 5. September 2016 auf die „Vos Hestia“ gekommen. Angeheuert hat sie der niederländische Reeder. Das Team bestand aus Cristian Ricci, Chef von IMI und ein früherer Offizier der italienischen Küstenwache, sowie den drei Ex-PolizistInnen Pietro Gallo, Lucio Montanino und Floriana Ballestra.
Ihr Auftrag war es, die Sicherheit an Bord der „Vos Hestia“ zu gewährleisten und zugleich bei den Rettungseinsätzen mit anzupacken. Doch schnell erteilt sich das Team offenbar aus eigenen Stücken einen ganz anderen Auftrag: den, über das in ihren Augen dubiose Wirken der NGOs vor der libyschen Küste zu ermitteln.
NGOs brechen Gesetze
In jenen Monaten haben die humanitären Retter*innen alle Hände voll zu tun. 2016 erreichten über 180.000 Menschen Italien über das Meer. Viele von ihnen werden von den damals 13 NGO-Schiffen aus dem Wasser geholt.
Schon Mitte September 2016 glauben die IMI-Leute, sie hätten Belege dafür, dass die NGOs dabei Gesetze brechen. In ihren Fokus gerät vor allem die „Iuventa“, die bei Einsätzen immer wieder Seite an Seite mit der „Vos Hestia“ operiert.
Drei Wochen nach ihrem Einsatzbeginn schicken die Sicherheitsleute Gallo und Ballestra ein Dokument an den italienischen Auslandsgeheimdienst AISE. Darin beschuldigen sie die „Iuventa“-Crew der Komplizenschaft mit den Schleppern: „Es scheint, dass das Schiff „Iuventa“ ein fester Bezugspunkt für die Schleuser ist, die von Libyen aus mit Kähnen voller Migranten in See stechen“, schreiben sie.
Nur einen Tag später kontaktieren sie Assistenten des Lega-Chefs und damaligen Oppositionspolitikers Matteo Salvini. Ihn füttern sie mit den gleichen Informationen. Ob sie Geld verlangten, ist ungeklärt.
Allzu viel geben ihre Beobachtungen allerdings nicht her. In den Infos an Salvini und den Geheimdienst schreibt IMI-Chef Ricci, er habe gesehen, dass sich die „Iuventa“ der libyschen Küste bis auf 13 Seemeilen genähert habe. Die Hoheitsgewässer allerdings umfassen nur 12 Seemeilen. Gallo will Flüchtlinge gesehen haben, die nach ihrer Rettung Joints geraucht haben, andere hätten ihre Messer behalten dürfen.
Salvini findet die Infos dennoch so interessant, dass er Ballestra persönlich trifft, wie Gallo später in Interviews sagt. Die IMI-Leute ermitteln weiter. Sie versuchen Gespräche an Bord aufzuzeichnen. Ballestra fordert Gallo im Oktober per SMS auf, den NGO-Aktivisten Auskünfte zu entlocken. Gallo erklärt heute, „Salvini oder die Lega“ hätte den Nachforschungsauftrag gegeben.
Keine Kontakte zu Schleppern beobachtet
Folgenlos bleibt das Wirken der IMI-Truppe nicht. Die Staatsanwaltschaft von Trapani beginnt gegen die „Iuventa“-Crew zu ermitteln. Im Februar 2017 telefoniert Gallo mit seinem Chef Ricci. Italienische Zeitungen veröffentlichen später Zitate aus dem Protokoll. Gallo erklärt Ricci, dass die Ermittler wissen wollen, ob die Aktivist*innen „direkte Kontakte haben, was sie dabei verdienen, das muss rauskommen und dass sie von großen internationalen Mächten finanziert werden“.
Es kommt aber nichts heraus. Die Retter reden weder über direkte Kontakte zu den Schleusern, noch sprechen sie von Zuwendungen durch finstere Mächte. Heute sagt Gallo in Interviews, er habe auch keine Kontakte zu Schleppern beobachtet.
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Den Spitzeln war bewusst, dass sie mit ihren Ermittlungen ein riskantes Spiel treiben. Ballestra erklärte Salvini bei einem Treffen, dass sie ihren Job riskierten, weil sie spionierten. Salvinis Leute hätten sie aber beruhigt. „Es wurde gesagt, wir müssten uns keine Sorgen machen“, sagt Gallo der Zeitung Il Fatto Quotidiano.
Tatsächlich ist Gallo seit dem Ende seines Einsatzes auf der „Vos Hestia“ im Juli 2017 arbeitslos. Heute, so sagt er, würde er seine Informationen an Salvini nicht mehr weitergeben. „Ich bereue das zutiefst.“ Die NGOs habe er gar nicht aus dem Mittelmeer vertreiben wollen, sagte er dem Fatto Quotidiano.
Es sei „natürlich“ wichtig, dass diese weiter vor Libyen blieben. „Wer hätte sonst zuletzt die 47 Schiffbrüchigen gerettet?“ Und er geht auf Distanz zu Salvini. Der habe „die NGOs kriminalisiert und eine Wüste hinterlassen“.
Wenn er heute in den Nachrichten höre, dass wieder einmal 170 Menschen umgekommen seien, weil niemand da war, um sie zu retten, „fühle ich mich verantwortlich“. Ihm sei es nur „um eine bessere Regulierung der Arbeit der NGOS“ gegangen, „nicht um die Beendigung der Rettungseinsätze“. Eingetreten sei aber „das Gegenteil dessen, was ich erhofft hatte“.
Womöglich aber sind ganz andere Hoffnungen Gallos nicht in Erfüllung gegangen. Er schäme sich „auch wegen des Mangels an Solidarität und an Gratifikationen“ für ihn und die IMI-Kollegen, sagte er dem Fatto Quotidiano. Soll heißen: Er wurde für seine Spitzelei nicht so belohnt, wie er sich das vorgestellt hatte. Wohl deshalb wandte er sich auch an die Medien.
Erst ein SSler, heute Seenotretter
Das tut auch Nicola Canestrini. Er will beweisen, dass die Anschuldigungen Gallos Lügen sind. Zum Treffen schlägt der Strafverteidiger ein Café vor dem Eingang des Oberlandesgerichts von Brescia in Norditalien vor. Der Landroverschlüssel liegt vor ihm auf dem Tisch, das Purpur seiner Häkelkrawatte passt exakt zu den dünnen Fäden, die in sein nachtblaues Fischgrätensakko eingewebt sind.
Er spricht Deutsch mit Südtiroler Akzent. „Ich bin mir sicher, dass Kathrin Schmidt mit einem Freispruch rausgehen wird“, sagt er. Vielleicht muss er das sagen, vielleicht stimmt es auch. Aber bis dahin können Jahre vergehen.
Der 46-Jährige ist kein Szeneanwalt, seine Klienten sind keineswegs nur vom Schlage Schmidts: Unter anderem vertrat er den SS-Unterscharführer Wilhelm Ernst Kusterer aus Pforzheim, der von einem italienischen Militärgericht für seine Beteiligung an dem Massaker von Marzabotto im Jahr 1944 in zweiter Instanz verurteilt wurde.
„Sie haben ein Blutbad nach dem anderen verübt, fast 800 Menschen ermordet“, sagt Canestrini über den Fall. Er habe Kusterer verteidigt, weil „jeder das Recht auf einen fairen Prozess und Unschuldsvermutung hat“.
Canestrini entspricht, wenn man so will, der Kernklientel der Lega, die als Interessenvertretung des reichen Nordens groß geworden ist. Sein Urgroßvater Luigi Canestrini war der erste Jurist, dem Kaiser Franz Joseph I. von Habsburg 1869 die Lizenz erteilte, im Trentino eine Kanzlei zu eröffnen. Canestrini führt die Kanzlei heute in vierter Generation. Das Trentino ist eine Hochburg der Lega. „Der Regionalrat ist zum ersten Mal in der Nachkriegszeit Lega-dominiert.“
Erst ein SSler, heute Seenotretter. Doch er hat auch noch andere Motive, sagt Canestrini. Er schäme sich für das, was auf dem Meer geschehe. „Wir lassen sie absaufen und kommen mit blöden Parolen, dass sie selber schuld sind, weil sie losgefahren sind.“
Canestrini zieht den Vergleich zu Polizisten, die in der NS-Zeit Juden an den Grenzen des Dritten Reiches abgewiesen hätten. „Diese Polizisten wussten genau, was mit den Menschen passiert. Aber sie haben gesagt, so war eben das Gesetz.“ Im „Iuventa“-Fall hätten seine Mandaten aber nicht einmal das Gesetz gebrochen. Seenotrettung sei „eine Pflicht“.
„Was sage ich meinen Kindern, wenn die fragen: Was habt ihr gemacht, als Tausende im Meer ersoffen sind?“ Durch diesen Prozess hofft Canestrini darauf eine Antwort zu bekommen. Und er wolle ihn nutzen, um seinerseits die italienische Politik anzuklagen. Denn dass „ein paar Jugendliche, die keine Erfahrung haben, ein Schiff kaufen müssen, um zu tun, was der Staat machen müsste, das ist schon seltsam genug. Und die dann noch anzuklagen?“
Die Staatsanwaltschaft könnte behaupten, es habe gar keine Seenot bestanden – genau das haben Politiker immer wieder gesagt: dass die Boote von den Rettern einfach abgeholt wurden. „Dann werden wir von jeder Mission ein oder zwei Flüchtlinge anhören, die bezeugen, dass sie sehr wohl in Not waren.“
In Italien sind Angeklagte nicht verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen. Es kann ohne Weiteres in ihrer Abwesenheit verhandelt werden. Aber Canestrini will, dass mindestens einer der zehn immer anwesend ist. „Ich brauche Informationen aus erster Hand.“ Die Abhörprotokolle hat Canestrini bis heute nicht.
Kampf zwischen Zivilgesellschaft und Rechtspopulisten
Wie so oft, wenn politische Fragen vor Gericht verhandelt werden, wird es auch auf die öffentliche Meinung ankommen. Dass es Zuccaro, der Staatsanwalt, war, der damit begonnen hat, die Retter zu diskreditieren, sei ein Unding, findet Canestrini. „Ein Staatsanwalt spricht durch seine Anklagen, nicht mit Vermutungen in den Medien.“
Die Retter würden deshalb heute in Italien nicht als Aktivisten gesehen, sondern als Schlepper verunglimpft. „Taxi del mare“, Kriminelle, die damit 10.000 Euro im Monat verdienten – diese Summe kursierte in großen Medien. „So wird ihnen ihr Idealismus abgesprochen.“
Vielleicht ist Canestrini bald einer der wichtigsten Gegner Salvinis. Der wurde groß mit dem Versprechen, Italiens Häfen zu schließen. Salvinis Social-Media-Macht und Popularität sind in Italien gerade auf einem Höchststand. Und er nutzt sie vor allem dazu, die Seenotretter anzugreifen. In dem Kräftemessen um die öffentliche Meinung wird symbolisch der Kampf zwischen der Zivilgesellschaft und den Rechtspopulisten insgesamt ausgetragen. Wenn es keine Verurteilung gibt, wäre das ein klares Zeichen für die Grenzen von Salvinis Macht.
Einmal hat Canestrini Salvini persönlich getroffen, 2016 war das, in Philadelphia, in den USA. Canestrini war zu einer Fortbildung dort, Salvini sah sich Trumps Wahlkampf an. Damals geschah nichts. Im Jahr zuvor hingegen gab es einen direkten Konflikt. 2015 hatte Canestrini einen Pakistaner vertreten, der aus Italien ausgewiesen wurde, weil er IS-Seiten im Netz gelesen haben soll.
Salvini griff Canestrini deshalb auf Facebook an, allerdings ohne seinen Namen zu nennen. Das tat kurz darauf aber ein Polizist unter Salvinis Post. Tausende von Salvini-Fans überschütteten Canestrini mit Hass: Man müsse ihn „massakrieren“, er müsse „zusammen mit dem Terroristen verbrannt werden“, man solle „die Eier abschneiden, zuerst dem Anwalt, dann dem Pakistaner“, einer schrieb, „hoffen wir, dass sie die Tochter des Anwalts abschlachten.“
Damals saß Salvini nur im EU-Parlament. Was könnte er heute tun?
Canestrini wiegelt ab. Jeder Verteidiger sei „gewohnt, gegen die Flut zu schwimmen.“ Auch gegenüber der Justiz sei Salvinis Macht begrenzt. „Er kann nicht einfach mit dem Finger schnippen.“ Natürlich wüssten auch die Richter in Trapani ,worum es geht, sie seien „auch Menschen, die spüren den Druck“. Aber dass sie sich dann davon beeindrucken ließen, „kommt mir zu unwahrscheinlich vor“, sagt Canestrini. Vielleicht muss er das auch sagen.
Die Justiz in Trapani äußert sich auf Anfrage der taz nicht zu dem Fall.
Für die Aktivistin Kathrin Schmidt ist klar, dass die Justiz ein Exempel statuieren will. „Es gibt ein großes politisches Interesse daran, dass es keine ZeugInnen mehr für das geben soll, was auf dem Meer passiert.“
Transparenzhinweis: Christian Jakob hat 2018 und 2019 unentgeltlich zwei Podiumsdiskussionen moderiert, an denen Kathrin Schmidt teilgenommen hat.
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