Roman „Benzin“ von Gunther Geltinger: Der tödliche Treibstoff des Erzählens
Ein schwules Paar begibt sich trotz Eheproblemen auf eine Reise. Ein Ehedesaster folgt, Gunther Geltinger erzählt davon in seinem Roman „Benzin“ .
Alexander und Vinz sind ein schwules Ehepaar. Sie teilen Tisch, Bett und allerlei Alltagssorgen, haben Höhen und Tiefen in ihrer Beziehung erlebt, wie sie wohl auch in jeder heterosexuellen Partnerschaft vorkommen, die das angeblich verflixte siebte Jahr gerade mal überstanden hat. Ihr Sexualleben aber unterscheidet sich deutlich vom „heteronormativen Konzept von Liebe“, denn die „Heirat war das Äußerste an Absicherung, was sie noch mit ihren Vorstellungen von Freiheit vereinbaren konnten“.
Nur weil sie verheiratet sind, wollen sich Alexander und Vinz nicht vom erotischen Markt der Möglichkeiten fernhalten, der nicht erst im Darkroom beginnt, sondern dank Smartphone und schwulen Dating-Portalen immer in der Hosentasche mitgeführt wird.
Gunther Geltinger beschreibt in seinem neuen Roman „Benzin“ ziemlich schonungslos sowohl die Vorzüge als auch die Härten der digitalen Fleischbeschau. Dabei schlägt die Freiheit, die als „mühsam erarbeitetes Beziehungsmodell verteidigt“ wird, irgendwann doch in eine Lebenslüge um, wenn sich nämlich aus wildem Dating-Sex eine zärtliche Liebe entwickelt.
Spätestens dann wird die Kommunikation über den Messenger-Dienst zur Qual: „Nichts ist so tot wie ein Smartphone, das nicht interagiert. Dabei hat er es mit so viel Liebe gefüttert. Manuel wie jeden Morgen einen Gruß geschickt, der jedoch unerwidert, vielleicht, schlimmer noch, ungelesen geblieben ist. Die Funktion der Lesebestätigung hat Manuel in den Sicherheitseinstellungen wohlweislich deaktiviert.“
Tiere gucken und Einheimische vögeln
Statt mit dem geliebten Manuel durchzubrennen, tritt Vinz dann doch mit Alexander eine lange geplante Reise nach Südafrika an. Die beiden Schwulen sind in gewisser Hinsicht heteronormativer, als sie sich das eingestehen wollen. Die Stimmung unter den beiden Reisenden ist schlecht, denn Vinz greift bei jeder Gelegenheit zum Handy, um die entscheidende App zu öffnen.
Gunther Geltinger: „Benzin“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 378 Seiten, 24 Euro
Alexander weiß von den Sehnsüchten seines Partners, was den ansonsten so kühl agierenden Biologen zwar verletzt, ihn aber auch nicht daran hindert, den Urlaub mitzumachen. Alexander möchte etwas erleben, Tiere und Naturschönheiten sehen, vielleicht auch mit dem einen oder anderen Einheimischen vögeln, warum auch nicht. Der intensive Roadtrip bietet die Möglichkeit, etwas Klarheit ins Beziehungswirrwarr zu bringen, vielleicht sogar eine neue Nähe zu Vinz herzustellen.
Was Alexander denkt und fühlt, erfahren wir nur beiläufig und können uns auch auf das Erzählte nicht ganz verlassen, denn die Geschichte wird aus Sicht des liebeskranken Vinz vorgetragen. Der ist Schriftsteller und auf der Suche nach einem neuen Romanstoff, den er in Afrika zu finden glaubt.
Da Vinz aus eigenen Erfahrungen Literatur entwickelt, da die Menschen in seiner Umgebung zu Figuren in seinen Romanen werden, können wir annehmen, dass der Text, den wir lesen, das literarische Ergebnis der Afrika-Recherche ist. Es handelt sich um eine äußerst dichte Prosa, die auf verschiedenen Zeitachsen und Reflexionsebenen angelegt ist.
Viele dramaturgische Haken
Motive aus Kindheits- und Jugenderinnerungen, wie die Faszination von Flüssen, werden immer wieder aufgegriffen und prägen auch das Geschehen auf der Reise durch Afrika. Die Kapitel des Romans ergeben in der Gesamtschau ein in sich mehrfach gespiegeltes Liebes-ABC, das mit A wie Alarm beginnt und das bei Z eine vielsagende Leerstelle lässt.
Der Roman bietet eine formal wie inhaltlich anspruchsvolle Lektüre. Denn aus der Geschichte einer kriselnden Schwulenehe entsteht schon bald ein thematisch weit gefasstes Tableau, das aufzeigt, wie eng ein würdevolles Leben mit Tod und Verderben verknüpft ist. Diese Geschichte kann nicht locker wegerzählt werden. Wuchtig ist der Tonfall, ständig werden intellektuelle Volten gedreht und dramaturgische Haken geschlagen.
Das strengt an, und das ist auch gut so. Dabei wirkt der Einstieg, reduziert man ihn auf den Inhalt, noch relativ eingängig: Gunther Geltinger schickt seine schwulen Helden ins südliche Afrika, weil Homosexualität dort unter Strafe steht und vom aggressiven Mob verfolgt wird. So ist es eine doppelte Katastrophe, dass die beiden auf einer nächtlichen Autofahrt einen Menschen anfahren.
Der Mann, der sich Unami nennt, ist schwer verletzt, ins Krankenhaus möchte er aber nicht gebracht werden. Vinz erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Angst, Ressentiment und Scham wechseln sich in rascher Folge ab. Alexander steht dem Unfallopfer zur Seite. Sein Gatte ist skeptischer.
Die Suche nach der Tankstelle
Wie schnell, fragt er sich, „wird aus einem Schultergriff ein Schwitzkasten“? Hat Unami sich vielleicht absichtlich anfahren lassen, um die tölpelhaften Touris auszurauben? Welchen Plan verfolgt der Kerl, der sich vor Schmerzen krümmt und dennoch böse Witze über die Afrikaleidenschaft der Europäer reißt? Der auch noch ziemlich schnell herausbekommen hat, dass Alexander und Vinz keine Brüder sind.
Als Unami sich auch noch als Reiseführer anbietet, der sie zu den Victoriafällen bringen könne, steigt zwar die Sorge, den irgendwie unheimlichen Typen nie wieder loszuwerden, aber die vom schlechten Gewissen geplagten Alexander und Vinz lassen sich auf das Angebot dennoch ein. So rast das ungleiche Trio in Richtung Simbabwe, sie lernen sich besser kennen, die Ängste und Ressentiments verschwinden nur langsam. Auf der langen Tour wird das Benzin zum erzählerischen Treibstoff, und zwar in vielerlei Hinsicht.
Ständig sind Vinz und Alexander auf der Suche nach einer Tankstelle, denn der Sprit ist knapp in der afrikanischen Steppe. Benzin ist dem Text, in dem mit gleißend hellen und düsteren Natur- und Seelenstimmungen gekonnt gespielt wird, allerdings nicht nur Antriebsmittel, sondern auch Brennstoff für schlimmste Mordtaten.
Unami erzählt nämlich von seinem Gefährten Tendai, der in dunkelster Nacht von finsteren Gesellen gefoltert, mit einem Autoreifen gefesselt, mit Benzin übergossen und dann bei lebendigem Leibe verbrannt worden ist. Nur weil der Flüchtling Tendai sich für noch weniger Geld auf den Plantagen hat ausbeuten lassen, fällt die Konkurrenz über ihn her und vernichtet sein Leben auf grausamste Weise.
Das Herz der Finsternis
Schaulustige haben die Mordtat gefilmt und das Video im weltweiten Netz der Scheußlichkeiten veröffentlicht. Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit braucht niemand mehr nach Afrika zu reisen, um ins Herz der Finsternis zu schauen. An jedem Ort der Welt kann „the horror, the horror“, wie es in Joseph Conrads Novelle so eindringlich heißt, abgerufen werden.
Tatsächlich ist Geltingers Roman eine zeitgemäße Reformulierung des berühmten Stoffs. Auch der neugierige Erzähler Vinz macht sich auf die Suche nach Aufnahmen vom fürchterlichen Töten, die unter dem verharmlosenden Begriff „Necklacing“ online leicht zu finden sind. „Er sah sich jedes Video an, das er finden konnte.
Sie begannen alle an gleicher Stelle, in dem Moment, wenn die entfesselte kollektive Macht beschloss, ihr Opfer zu töten, und jemand die Kamera einschaltete, und sie endeten mehr oder weniger abrupt, sobald der Filmende, von dem manchmal die Füße oder eine Hand zu sehen waren, die Lust am Geschehen verlor.“
Dass Menschen aus Ländern fliehen, in denen sie fürchten müssen, verfolgt und gelyncht zu werden, kann Gunther Geltinger auf anschauliche, nämlich drastische Weise mit seinen schwulen Protagonisten schildern, die im südlichen Afrika unter ähnlichen Repressionen zu leiden hätten, wenn sie nicht reich und weiß wären.
Die Weißen sind fein raus
In dem ausgeklügelten Roman scheint kurz die Migrationsdebatte auf, die nicht weiter ausbuchstabiert werden muss. So eindeutig sind dann doch die Verhältnisse. Als Alexander und Vinz das Ziel ihrer Reise erreichen, wird in Simbabwe gegen den alten und autokratischen Präsidenten des Landes demonstriert. Der Ruf nach Freiheit wird lauter, aber die Gefahr besteht, dass sich aus dem Protest wieder blutige Rache entwickelt, dass die Menschen wieder fliehen müssen vor marodierenden Banden.
Die Weißen aber sind fein raus. Einige Touristen werden die politische Krise als besonders heftige Reiseanekdote mit nach Hause nehmen. Alexander hat unverbindlichen Sex mit einem jungen Schwarzen. Vinz taucht ein ins Legendenreich des Wasserfalls und findet den Romanstoff seines Lebens, auf dass seine Ehe endgültig im Erzählfluss davonschwimmt. Nachdem es in „Benzin“ an allen Ecken und Enden gebrannt hat, ist keineswegs sicher, ob das Wasser nun die Rettung oder weitere Zerstörung bringt.
Der mächtige Wortfluss in diesem Text zeigt wiederum das Gespür des Autors, Form und Inhalt zusammenzubringen. Wie das Ferne nicht nur durch digitale Technik ganz nah wird, warum die Menschen in Afrika und Europa eben nicht in unterschiedlichen Welten leben, sondern im selben Boot namens Humanität sitzen, wie den Geschichten, die hier wie dort erzählt werden, leider immer weniger zu trauen ist, wie die Unsicherheit aber gerade die Chance bietet, es doch zu versuchen mit der Wahrheit, in der Literatur genauso wie im Leben selbst, davon handelt dieser in seinem Anspruch überzeugende Roman.
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