Kriegsmuseum in Afghanistan eröffnet: Die Vitrinen von Kabul
Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Während die Welt sich abwendet, eröffnet in Afghanistan ein Museum über die Zerstörung.
„Das ist mein Vater. Ich war sechs Monate alt, als sie ihn holten.“ Abbas Ahmadsai, ein stämmiger 40-jähriger Paschtune, glatt rasiert, zeigt auf ein altes Porträtfoto. Es hängt im Museum für die Opfer der seit 40 Jahren andauernden Afghanistankriege, das Mitte Februar in Kabul eröffnet wurde.
Ahmadsai weiß nicht, was den Geheimdienst Chad des damals herrschenden kommunistischen Regimes bewogen hat, nicht nur seinen Vater Sarkhan, sondern auch seinen Onkel Gulab zu holen, irgendwann im Jahr 1979, in Logar, eine Provinz südlich von Kabul. Vielleicht haben sie eine abfällige Bemerkung über die neuen Herrscher gemacht oder waren zu religiös. Es gab viele Gründe damals, um zum Staatsfeind erklärt zu werden, als in Afghanistan ein militantes Linksregime herrschte, das überall Feinde wähnte.
„Mein Vater war Krankenpfleger, mein Onkel ein einfacher Bauer. Von ihm gibt es nicht mal mehr ein Foto“, sagt Ahmadsai und fängt an zu weinen. „Wir wussten lange nicht, was aus ihnen geworden war“, erzählt er weiter. „Erst nach fast 35 Jahren erfuhren wir es.“ Beide Namen standen auf einer Liste, die der Generalstaatsanwaltschaft in den Niederlanden übermittelt worden war, im Zuge von Ermittlungen gegen einen Afghanen, der dort Asyl erhalten hatte und später sich als Chef der Chad-Verhörabteilung entpuppte. Er starb zwei Wochen vor seiner geplanten Verhaftung.
Die Liste stammte von einem britischen Politiker, der sie vom Geheimdienstchef einer Nachfolgeregierung in Kabul erhalten hatte. Sie enthielt die Namen von 4.758 Verhafteten aus den Jahren 1978 und 1979. Neben Namen, Beruf und Geburtsort stand bei vielen, aber bei Weitem nicht allen das „Verbrechen“, das die damalige Regierung ihnen vorwarf: Staatsfeinde allesamt: „Aufständischer“, „Muslimbruder“, „Maoist“, „Königstreuer“, Anhänger eines früheren Präsidenten oder eines Sufi-Scheichs, der der damaligen Regierung den Dschihad erklärt hatte, „Konterrevolutionär“ für Anhänger verfeindeter Fraktionen der herrschenden Partei.
Schüler, Studenten, Mullahs, ein Mitarbeiter des Tourismusamtes, ein Uhrmacher. Die Liste bestätigt, dass alle ermordet wurden. Sie zieht sich nun als Fries um diesen Raum des Museums, zu dessen Eröffnung Abbas Ahmadsai eingeladen worden ist, wie eine ganze Reihe von Angehörigen aus den verschiedenen Phasen des Afghanistankrieges.
In Schutt und Asche gelegt
Vor den Bildern von Opfern, von denen Familienangehörige gefunden wurden, sitzt an einem groben Holztisch Nik Mohammed Scharif. Er hat Medizin studiert, arbeitet jetzt aber bei der Menschenrechtsgruppe, die das Museum aufgebaut hat. Laut liest er von ein paar Blättern Papier das Gedächtnisprotokoll seiner Verhaftung. „Erst holten sie meinen ältesten Bruder Dawud. Dann mich und die anderen Brüder. Erst schlugen sie mich mit einem Kabel.“ Scharif springt auf, nimmt ein Stück Kabel und schlägt mit voller Kraft auf den Tisch. Die Zuhörer zucken zusammen. „‚Sag uns Namen!‘ Ich sagte nichts. Dann schlossen sie die Elektroden an. Die Folter dauerte stundenlang …“ Sie waren zwölf Brüder, erzählt er, genug für ein Fußballteam, das sie auch waren. In einer Vitrine zeigt ein verblichenes Foto von 1977 die Baradaran, „die Brüder“, im grün-weiß gestreiften Trikot. „Sechs von uns haben nicht überlebt“, sagt Scharif.
Hinter einer Trennwand befinden sich die Räume der Herrschaftszeit der Mudschaheddin. Über Jahre tobten anarchische Fraktionskämpfe, die Afghanistans im sowjetischen Krieg einigermaßen heil gebliebene Städte in Schutt und Asche legten. Auch im Stadtteil Karte-je Tschahar, in dem heute das Museum eingerichtet wurde, gab es zur Zeit der Taliban-Herrschaft nur Ruinen. Hier hatten besonders heftige Kämpfe zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen getobt. Der Autor, Anfang der Nullerjahre für die UNO in Kabul tätig, führte neue Kollegen auf einem Einführungsstadtrundgang dorthin; drehte man sich einmal um sich selbst, versperrte einem nichts den Blick auf die Berge des Hindukusch. Verkohlte Baumstümpfe standen in den Straßen, in denen schmutzige und hungrige Kinder in den Trümmern spielten. Die Menschen, die nicht geflohen waren, hausten in Kellern.
Im dritten Bereich des Museums steht eine große Vitrine. Sie ist gefüllt mit Kleidungsstücken und Schuhen, zum Teil zerrissen oder angesengt. Sie mag einen erinnern an eine Installation im Jüdischen Museum in Berlin, in der Schuhe von den Nazis ermordeter jüdischer Kinder gezeigt werden. Dieser Bereich ist den Jahren des Taliban-Regimes und den 17 Jahren nach ihrem Ende gewidmet, in dem der Krieg weiterging, der sich in Kabul derzeit vor allem durch Bombenanschläge manifestiert.
Die Vitrine enthält Überreste eines Selbstmordanschlags im Juli 2016, nicht weit vom heutigen Standort des Museums entfernt, dem ersten großen Anschlag, zu dem sich der örtliche Ableger des „Islamischen Staates“ bekannte. 80 Menschen starben, über 200 wurden verletzt, als sie für eine bessere Stromversorgung im Hasarajat, dem von der schiitischen Minderheit bewohnten Teil Zentralafghanistans, demonstrierten. Ein junger Hasara erinnert an seine Verlobte Nafisa Bahar, die dabei ermordet wurde. Er konnte sie nur anhand des Verlobungsrings identifizieren, der an ihrer abgerissenen Hand steckte.
Auch Hadi Marifat war damals unter den Demonstranten, blieb aber unverletzt. Der sympathische, etwas schüchtern wirkende Marifat gehört zu den Machern des Museums. Seit dem Sturz der Taliban 2001, er war damals noch ein Teenager, engagiert er sich für Menschenrechte und Demokratie in Afghanistan. Seit acht Jahren, sagt Marifat, hat seine Afghanische Organisation für Menschenrechte und Demokratie (englisch AHRDO) an dem Projekt gearbeitet. Offiziell heißt es „Afghanisches Zentrum für Erinnerung und Dialog“; es soll nicht nur Gedenkstätte, sondern auch Begegnungszentrum sein, vor allem für die Opfer und ihre Angehörigen.
Finanziert wurde es von der Open-Society-Stiftung von Georges Soros und der deutschen Bosch-Stiftung. Hunderte Menschen wurden für die Ausstellung interviewt. Anschließend bat man sie, etwas, das die Getöteten oder Verschwundenen hinterlassen haben, zu spenden. Das kam in sogenannte Memory Boxes. Ahmadsai brachte eine einfache afghanische Tracht, die sein Vater einst getragen hatte. Über 300 solcher Exponate sind über die Jahre zusammengekommen.
Warlords blockieren Gedenken
Der Gedenkort liegt fast versteckt im Keller eines zweistöckigen Hauses im Kabuler Westen, wo vor allem Schiiten leben. Kein Schild weist auf seine Existenz hin, vor dem Betreten muss man sich von einem Bewaffneten durchsuchen lassen. Zudem ist es ein Provisorium, das Haus nur gemietet. Dabei gab es schon ein besseres Gebäude, sogar für eine ständige Ausstellung: das frühere Behsad-Kino, eine historische Einrichtung aus dem Vorkriegskabul. Es war erst dem Krieg zum Opfer gefallen, als niemand in Afghanistan mehr an Vergnügen denken konnte. Dann erreichte die Welle von Laptops und anderen Abspielgeräten auch Kabul, und es stand leer und verfiel.
Die Kabuler Stadtverwaltung hatte der Übergabe an AHRDO bereits zugestimmt, erzählt Marifat. Nur die Unterschrift des damaligen Präsidenten Hamid Karsai fehlte noch, doch der verweigerte sie. Er wollte die Warlords in seiner Regierung nicht verärgern, die ihm die US-Regierung nach der Intervention 2001 aufgezwungen hatte und die viele Opfer, deren jetzt in dem Museum gedacht wird, auf dem Gewissen haben. Und trotzdem entfaltet das Kabuler Provisorium eine große Wirkkraft, darin dem Museum in Berlin oder Tuol Sleng, der Gedenkstätte für die Opfer der Roten Khmer in Kambodscha, gar nicht so unähnlich.
Außer von der UNO sind keine Diplomaten zur Eröffnung gekommen. „Wir haben alle europäischen Botschaften eingeladen“, sagt Marifat mit fast entschuldigendem Lächeln. Trotz aller Lippenbekenntnisse steht die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen nicht hoch auf der politischen Agenda in Afghanistan, auch nicht bei vielen Geberländern. Die Warlords im Parlament haben sich per Gesetz sogar selbst amnestiert. Sima Samar, die Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission, die der Eröffnung beiwohnte, befürchtet, dass die Kommission bei den aktuellen Gesprächen zwischen den USA und den Taliban über eine Beendigung des Krieges zur Disposition gestellt werden könnte.
Als der Kabuler UN-Menschenrechtschef Richard Bennett, ein Neuseeländer, am Schluss seiner bis dahin etwas arg offiziell klingenden Rede sagt, ihm sei aufgefallen, dass am Ende des Museumsrundgangs eine leere Vitrine stehe, lächelt Samar. Einem ist es also aufgefallen, scheint sie zu denken. Bennett sagt, er hoffe, dass sie leer bleibe.
Doch draußen tobt weiter der Krieg: Nach am Wochenende von der UN veröffentlichten, eher niedrig angesetzten Angaben hat die Zahl der bei Konflikten in Afghanistan getöteten Zivilisten den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen 2009 erreicht: Mindestens 3.804 Zivilisten wurden getötet, 11 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
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