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Oscar-Kandidat „The Favourite“300 Jahre vor #MeToo

Der Film „The Favourite“ stellt drei Frauen und ihre Erfahrungen ins Zentrum. Das Ränkespiel ist für zehn Oscars nominiert.

Emma Stone im Film „The Favourite“ Foto: Twentieth Century Fox

BERLIN taz | So könnte sexuelle Belästigung im frühen 18. Jahrhundert ausgesehen haben: Da reist eine alleinstehende junge Dame in der Postkutsche; die Sitzverhältnisse sind beengt, die Fahrt ist holprig. Dankbar für das freundlich-verständnisvolle Lächeln des jungen Mannes, der ihr gegenüber sitzt, lächelt sie zurück – um dann mit Schrecken zu erkennen, dass der die Situation dafür nutzt, sich in die Hose zu fassen und einen runterzuholen. Damit nicht genug: Als sie aussteigt, nicht ganz einfach mit den seinerzeit modischen steifen, langen Röcken, kneift ihr jemand kurz in den Hintern, so dass sie vor Schreck auch noch im Dreck landet. Mit der Folge, dass sie sich mit verschmutzter Kleidung bei ihrer neuen Stelle am Hof präsentieren muss.

Und das alles sind eigentlich Kleinigkeiten im Vergleich mit den Missbräuchen, die Abigail (Emma Stone) in ihrem Leben schon erleiden musste: Ihr eigener Vater hat sie regelrecht verkauft, um seine Spielschulden bezahlen zu können. Ihre Haltung gegenüber Männern ist entsprechend abgehärtet: „Wollen Sie mich verführen oder vergewaltigen?“, fragt sie an späterer Stelle den Lord, der sich nachts in ihre Kammer geschlichen hat. Als der antwortet: „Ich bin ein Gentleman!“, gibt sie ein resigniertes: „dann also Vergewaltigung“ zurück.

Es sind Stellen wie diese, die einen erst recht darüber staunen lassen, wie es Yorgos Lanthimos’ „The Favourite“ nun zu zehn Oscar-Nominierungen bringen konnte. Denn der neue Film des griechischen Regisseurs bewegt sich weit abseits von den gängigen Vorstellungen davon, was ein „Kostümfilm“ oder ein „Period Piece“ darstellen sollte. Dass Lanthimos drei Frauenfiguren ins Zentrum stellt, ist dabei noch das Geringste; Königinnendramen wie aktuell „Mary Queen of Scots“ hat es immer schon mal gegeben. Die Art und Weise, wie er ihre weibliche Erfahrung und Identität zeigt und zum Thema macht, hebt „The Favourite“ heraus aus dem Genre.

Zwar gibt es auch bei Lan­thi­mos, dessen Film um 1700 am Hof der englischen Königin Anne spielt, üppige Einrichtungen, ausgeklügelte Frisuren und prunkvoll geschnittene Kostüme, aber es gibt auch jede Menge Dreck, Düsternis und körperliches Unwohlsein. Und schnippische Bemerkungen. Was sich zwischen Königin Anne (Olivia Colman), ihrer ersten Favoritin Lady Marlborough (Rachel Weisz) und erwähnter Abigail abspielt, ist weniger ein „Lesbendrama“, wie es dieser Tage allzu oft beschrieben wird, sondern eine Geschichte, die sich aus Schmerzen, Unwohlsein und essenziellen körperlichen Bedürfnissen ergibt. Mit anderen Worten „typisch weiblich“ – und im Übrigen darin den modernen „zotigen“ Rom Coms im Grunde gar nicht so unähnlich.

Mutter aller Schmerzen

Die Königin ist hier die Mutter aller Schmerzen und Unzufriedenheit. Olivia Colman spielt sie als zutiefst unglückliche, unsichere ältere Frau, die über den – historisch verifizierten – Verlust von 17 Kindern, von denen keines das Erwachsenenalter erreichte, nie hinwegkam. Eine Frau wie sie braucht dringend die Unterstützung von einer wie Lady Sarah Marlborough, einer selbstbewusst auftretenden, eleganten Frau, die auch politisch weiß, wo’s langgeht. Sarah lobt ihre Königin, umschmeichelt sie einerseits mit Komplimenten, um sie im nächsten Moment für ihr Make-up herabzusetzen und durch Kritik in ihren Strategien zu verunsichern. Sarah ist hochintelligent und machtbewusst, aber dann unterläuft ihr der Fehler, dass sie ihre kleine Cousine Abigail, die zu Beginn des Films als Haushaltshilfe bei Hof anheuert, unterschätzt.

Abigail nutzt ihren durch eingangs erwähnte Erfahrungen geschärften Geist, um sich durch geschickte Schachzüge immer näher an die Königin heranzumachen. Sie sammelt Kräuter, die die Gichtanfälle der Königin heilen können, und sorgt dann durch gezieltes Hüsteln an kalkulierter Stelle dafür, dass die Königin auch ja weiß, wer ihr die Kräuter besorgt hat. Als sie schließlich ausspioniert, dass die Königin und Sarah ein Liebespaar sind, stellt sie ihre Strategie pfeilgenau darauf um.

Wollen Sie mich verführen oder vergewaltigen?, fragt Abigail den Lord, der sich nachts in ihre Kammer geschlichen hat

Lanthimos inszeniert den Hof und seine Intrigen mit viel Lust an Übertreibung und Groteske. Im Score mischt er Bach, Händel, Vivaldi, aber auch Messiaen und schließlich sogar Elton John. Die Kostüme erscheinen stellenweise wie absichtlich „overdone“ in ihrer barocken Stoffvielfalt; ähnlich die Innenräume, die mit Bildern, Vorhängen und Ornamenten eine Fülle von Details aufweisen, die das Zuschauerauge kaum vollständig erfassen kann.

Hinzu kommt die Kamera (Robby Ryan, auch er für einen Oscar nominiert), die agil die Richtungen wechselt und die Räume aus ungewöhnlichen Blickwinkeln aufnimmt, mal aus extremer Untersicht, mal wie von der Decke und oft genug in „Fischaugenperspektive“ mit sich krümmenden Rändern. In Zeitlupen-Sequenzen zeigt Lanthimos ein paar Szenen von höfischen Exzessen, eines Gänserennens etwa und wie sich die Gesichter derer verzerren, die sie anfeuern. Die Männer sind dabei keineswegs weniger aufgemacht als die Frauen; eher im Gegenteil. Ihre sich fast ins Absurde türmenden Perücken kommen als bizarre Kompensation für den Machtverlust daher, den sie unter einer Königin erleiden. Keiner von ihnen wird als Figur plastisch; dieses Privileg lässt Lanthimos einzig seinen drei Frauenfiguren zukommen.

Trio zu Recht nominiert

Das Frauentrio und ihr Ränkespiel um Gunst und Einfluss bei Hofe ist der große Trumpf von Lanthimos’ Film. So ungleich sie kämpfen – die eine mit kalter Berechnung, die andere mit ganzem Herzen und die dritte mit manipulativer Bedürftigkeit – , erscheint es völlig gerecht, dass alle drei nun für den Oscar nominiert wurden, Olivia Colman als Hauptdarstellerin und Emma Stone und Rachel Weisz als Nebendarstellerinnen.

Obwohl man darüber auch streiten könnte: Zwar steht Colman als Königin im Zentrum, aber es ist der Weg an die Macht von Emma Stones Abigail, der den Handlungsfaden bestimmt, und es ist Rachel Weisz’ Lady Sarah, die ihr als formidable Bösewichtin entgegensteht. Letztlich könnte sich keine der Figuren ohne die andere so famos entfalten, wie es hier geschieht. Den drei Frauen gemeinsam gelingt es, aus einer auf dem Papier recht absehbar und wenig originell wirkenden Geschichte eine fesselnde emotionale Hängepartie zu machen, in der man als Zuschauer seine Sympathien ständig neu verteilen muss.

Fiebert man anfangs mit Abigail als taffer Aufsteigerin mit, auch weil man sieht, wie sie die pure Überlebensnot zu ihren Intrigen antreibt, empfindet man am Ende allenfalls noch Mitleid mit ihr. Die Königin, die zuerst als wehleidiges, schwaches und regierungsunfähiges Weib nervt, bekommt dagegen zunehmend psychologische Tiefe als eine Frau, deren Depressionen und Unausgeglichenheit man verstehen kann. Und je näher man Lady Sarahs Kampf um die Macht verfolgt, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass sie vielleicht doch aus Liebe handelt. Wo Lanthimos in seinen bisherigen Filmen wie „Dogtooth“, „Alpen“ oder „The Killing of a Sacred Deer“ mit der Schaffung von Welten mit abstrusen Regeln immer ein bisschen mentalen „Mindfuck“ mit den Zuschauern spielte und sie so auf Distanz hielt, wirkt es in „The Favourite“ fast so, als hätten ihm die Schauspielerinnen dabei einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Das Ergebnis ist eine faszinierende Mischung aus formaler Spielerei und packendem Drama, so süffisant zusammengebracht, dass eben sogar die Oscar-Akademie davor in die Knie geht.

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