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Fachkräftemangel in DeutschlandFrau Bui rettet die deutsche Wurst

Ein Fleischer aus Schmalkalden findet keine Azubis mehr – in Thüringen, in Deutschland, in Europa. Aber in Vietnam.

Thi Hong Bui, Auszubildende der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkaden GmbH Thüringen Foto: Nora Klein

SCHMALKALDEN taz |Schweinelachs, Rinderhack, Brühwürstchen, Glossar eines deutschen Fleischerlebens, zwischen Schlachtbank und Zerlegung. Ein Leben, in das die zwanzigjährige Thi Hong Bui gerade hineinwächst, genauso wie in den weißen Kittel, der ihr bei jedem Schritt um den schmalen Körper schlackert wie ein lasches Segel. Nicht mehr lang, vielleicht ein paar Monate, und Buis Schultern werden den Kittel vermutlich ausfüllen. Der Körper wächst mit seinen Aufgaben, und Thi Hong Bui wird in den nächsten 35 Monaten Kisten tragen, Schweinehälften zerlegen und Rinderrouladen drehen. Thi Hong Bui wird Fleischerin. Eine Fachkraft, dringend gebraucht auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

Ein Mittwochmorgen im September. Es ist kurz vor acht, seit zwei Stunden steht Bui an ihrem Platz in der Zerlegehalle der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkaden GmbH Thüringen. Einer der größten Schlachter im Umkreis, 400 Angestellte, Spezialist für Thüringer Rostbratwurst und Pasteten. Ein weißer Schlauch aus Hallen, Kühlräumen und Büros. Der Geruch von rohem Fleisch liegt wie eine Decke über der Halle. 12 Grad, die Kälte kriecht sofort in die Knochen.

Von Thi Hong Bui ist nicht viel zu sehen. Kittel, Haarnetz, schwarzer Fleece. In der rechten Hand hält Bui ein langes Messer, ein Fleischstück vor sich, groß wie ein Laib Brot. Bui setzt an, Hautstücke lösen sich, weißes Fett in Flocken. Handgriffe eines deutschen Fleischerlebens. Für Bui „gut“. Auch Deutschland findet sie „gut“. Auch wenn sie noch nicht viel von ihrer neuen Heimat gesehen hat. Sie lächelt. Was soll sie auch sagen? Bui ist seit einem Monat in Deutschland, steht täglich acht Stunden in der Kälte und übt einen Beruf aus, den es in ihrer Heimat so nicht gibt.

21 Auszubildende arbeiten in der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen, 14 von ihnen aus Vietnam. Nächstes Jahr kommen vier weitere. Bui, die beiden Nguyens, die nicht verwandt sind, Pham, Ly und die anderen sind hier, weil sie eine Lücke füllen, die ohne sie immer weiter auseinanderklaffen und irgendwann so groß würde, dass Betriebe wie die Schmalkalden GmbH in ihr versinken. Eine Lücke, die Deutschland jedes Jahr 30 Milliarden Euro kostet, so schätzt das Institut der deutschen Wirtschaft.

Rund 1,6 Millionen Fachkräfte fehlen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Wirtschaft ist im Aufschwung. Die Arbeitslosenquote bei 4,9 Prozent, so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. In Teilen von Baden-Württemberg und Bayern gibt es Vollbeschäftigung. Die Auftragsbücher sind gefüllt. Nur ist keiner da, der die Aufträge ausführen kann. Immer länger dauert es, geeignetes Personal zu finden, immer mehr Stellen bleiben unbesetzt, durchschnittlich 107 Tage lang – 50 Tage länger als vor zehn Jahren. Die Mehrheit der Betriebe sehen im Fachkräftemangel ein Risiko für ihre Wirtschaftlichkeit. Die Folge: Zuerst stauen sich die Aufträge. Dann sinken die Umsätze. Dann zieht die Konkurrenz vorbei.

Ein Dreiklang des wirtschaftlichen Niedergangs, den auch Peter Lesser kennt. Lesser ist Geschäftsführer der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen, der Chef von Bui. An diesem Morgen begrüßt er in seinem Büro, erster Stock, direkt über der Zerlegehalle. Auch hier riecht es nach rohem Fleisch. Ein weißer Fleischerkittel hängt griffbereit über der Lehne. Peter Lesser ist 63 Jahre alt und Wurstfachmann. Fester Händedruck, stämmige Statur, weißes Hemd.

Lesser arbeitete schon in dem Betrieb, als dieser noch Eigentum des Staates war, 1990 übernahm er ihn mit drei Kollegen. Gemeinsam machten sie die Firma groß. Mittlerweile beliefert Lesser 41 Fleischtheken im Umkreis: Aldi in Gotha, Rewe in Weimar, Lidl und Norma in Ohrdruf. Im Oktober verkauft Lesser seine Würstchen auf der Wiesn in München. Stolz sind sie auf ihre Wurst in Thüringen, nur herstellen will sie keiner mehr.

Peter Lesser seufzt jetzt schwer. Die Alten scheiden aus und die Jungen kommen nicht nach. Das Durchschnittsalter in seinem Betrieb liegt bei 43 Jahren. Früher bewarben sich jedes Jahr fünf bis sieben neue Fleischer bei Lesser. 2011 nur noch drei. „Danach wurde es nicht besser“, sagt er. Lesser verteilte Prospekte und Gratiswürstchen auf Berufsmessen und in Schulen. Ohne Erfolg.

Peter Lesser kämpft mit einem wirtschaftlichen Niedergang auf Raten. Bald könnte niemand mehr da sein, der die Tiere in die Schlachtung führt, der den Vertrieb leitet. Niemand, der den Kunden die Wurst verkauft.

Fleischer ist neben Restaurantfachmann der unbeliebteste Ausbildungsberuf der deutschen Jugend. Bundesweit bleibt jede dritte Stelle unbesetzt. Zwischen 200 und 900 Euro netto verdient ein angehender Fleischer in seinen Lehrjahren. Das Einstiegsgehalt nach der Ausbildung liegt bei 1.900 Euro brutto. Nicht viel für ein Leben in 12 Grad, zwischen Schweinehälften und Leberwurst.

Thi Hong Bui und Van Quan Le auf dem Weg zur Arbeit Foto: Nora Klein

Drei Jahre lang bewarben sich weniger Azubis bei Lesser, als es Lehrstellen gab. 2013 machte er sich daran, die Lücke zu füllen. Mit Auszubildenden aus Vietnam.

Ausländische Fachkräfte als Retter des deutschen Handwerks. Kann das funktionieren? Ein Blick nach Schmalkalden zeigt: Ja. Nicht nur in der Thüringer Provinz, in ganz Deutschland.

Wenn die politischen Voraussetzungen stimmen und wenn einer wie Peter Lesser da ist. Einer, der ausländische Fachkräfte als das sieht, was sie sind. Die einzige Möglichkeit, den Betrieb am Laufen zu halten.

Studien gehen davon aus, dass Deutschland jährlich rund 400.000 Leute aus Nicht-EU-Ländern braucht, damit die deutsche Wirtschaft nicht absackt. Die GIZ, die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, holt gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium junge Vietnamesen als Pflegekräfte nach Deutschland. Die Bundesagentur für Arbeit versucht, Pflegekräfte auf den Philippinen, Serbien und Bosnien-Herzegowina zu werben. Eine Kooperation mit Tunesien ist geplant. Die Bundesregierung arbeitet an einem neuen Einwanderungsgesetz, das Fachkräften den Weg nach Deutschland erleichtern soll.

„Längst überfällig“, sagt Peter Lesser. In seinem Thüringer Bariton schwingt die Gewissheit der Erfahrenen mit. Als die Auszubildenden ausblieben, wandte Lesser sich an Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer, und Landesregierung. Man riet ihm, es doch mal mit Geflüchteten zu versuchen. „Hätt ich ja gern gemacht“, sagt Lesser. Aber was, wenn sie abgeschoben werden?

„Zu wem gehe ich, um eine Jeans ändern zu lassen?“

Für Geflüchtete gilt die 3-plus-2-Regel. Drei Jahre Ausbildung plus zwei Jahre Beschäftigung. Danach liegt es an den Behörden, ob der Aufenthaltsstatus verlängert wird. Für die Betriebe ein enormes Risiko. Ausbildung kostet Geld, Zeit und viele Jahre der Erklärung. Ausgaben, die Betriebe wie der von Lesser nicht investieren, wenn sie nicht wissen, ob es sich auch lohnt.

„Und außerdem“, sagt Lesser. Er schaut aus dem Fenster. „Können Sie sich vorstellen, dass hier ein gläubiger Muslim Schweinefleisch verarbeitet“? Er schüttelt den Kopf.

Weil er zu Hause niemanden fand, fuhr Lesser auf Berufsmessen in ganz Europa, um seinen Betrieb vorzustellen. Nach Spanien, Rumänien und Polen. Im Kopf die Hoffnung auf neue Fleischer für Thüringen. Motto: Wenn die Auszubildenden nicht zu uns kommen, dann wir zu den Auszubildenden. Reisen, die erfolglos blieben. „Die Spanier waren zu jung für die Sache“, sagt Lesser. Mit 16 oder 17 gehen wenige jahrelang ins Ausland. Und die Rumänen und Polen? Im Sommer arbeiten Hilfskräfte aus ganz Europa in Lessers Fleischerei. Sommer, das ist in Deutschland Grillzeit, und ohne die zusätzlichen Hände aus Osteuropa, würden den Deutschen die Thüringer Rostbratwürstchen bald ausgehen. „Da sind gute Leute dabei“, sagt Lesser. Aber: „Geld verdienen wollen die ja alle, nur eine Ausbildung machen, des will keiner von denen.“

Weil er in Europa nicht fündig wurde, schaute Lesser noch ein bisschen weiter in die Ferne, rund 8.500 Kilometer. Und ein bisschen in die Vergangenheit. In der DDR der 1970 und 80er Jahre arbeiteten vietnamesische Vertragsarbeiter in deutschen Betrieben. Auch in Schmalkalden.

Peter Lesser, Geschäftsführer: „Die Jugend hat keinen Kontakt mehr zum Handwerk.“ Foto: Nora Klein

Lesser erinnerte sich an die gut geschneiderten Jeans nach westlichem Design und an Strebsamkeit. Beides Dinge, die er schätzt. „Zu wem gehe ich, wenn ich eine Jeans geändert haben will?“, fragt er. „Zum Vietnamesen“. Lesser begann, sich kundig zu machen. Er sprach mit Bekannten über deren Erfahrungen mit den vietnamesischen Kollegen von damals. Was er hörte, gefiel ihm. Keine Probleme mit der Religion, keine mit dem Essen. Hohes Ansehen bei deutschen Kunden.

Er las sich ein in die vietnamesische Kultur. Er erfuhr, so erzählt Lesser es, dass Vietnamesen viel für ihr Land täten. Er erfuhr, dass Vietnam eine junge Nation sei. Viele junge Menschen auf der Suche nach Arbeit, auch im Ausland. Peter Lesser beschloss: Das passt.

taz am wochenende

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Ein „privater Kontakt“, wie Lesser sagt, fand, was er suchte: drei junge Vietnamesen, die bereit waren, seinem Ruf nach Schmalkalden zu folgen. Ganz reibungslos verlief die Vermittlung nicht. Mittelsmänner hätten die Jugendlichen in Vietnam angesprochen, erzählt Lesser. Später kam heraus: Die Jungs mussten ihre Reise nach Deutschland abbezahlen, mit Wochenendschichten in vietnamesischen Imbissen rund um Schmalkalden. Lesser ist noch immer bestürzt, wenn er davon spricht. „Wir haben das natürlich unterbunden.“ Für ihn ein Grund mehr, endlich gesetzliche Regelungen zu schaffen, die es Betrieben erleichtert, Nachwuchs aus dem Ausland zu werben.

Einer der drei, die damals angeworben wurden, ist „der Quan“, wie Van Quan Le von Lesser und Kollegen gerufen wird – man duzt sich bei der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. Im Juli 2014 landete er mit zwei anderen angehenden Fleischern am Flughafen Frankfurt, sein altes Leben in einem Koffer.

An diesem Vormittag sitzt er auf einem Drehstuhl im Schlachtereibüro, einem Kabuff mit Schreibtischen und viel Papier. 11.30 Uhr, Zeit für eine Pause. Le, Mitte 20, ist klein und stämmig, vielleicht auch von den letzten vier Jahren im Schlachthof. Sein weißer Kittel ist fleckig braun. Vielleicht Blut, vielleicht Reste vom Wurststopfen. Aus der Halle nebenan dringt das Quieken der Schweine auf dem letzten Gang zur Schlachtbank.

Typisch deutsch: Saubere Luft. Auto fahren. Fußball schauen.

Deutschland sei anders gewesen als in seinen Vorstellungen, sagt Le. Ruhiger, aufgeräumter. Le kommt aus Hanoi, der Hauptstadt Vietnams, Einwohnerzahl: 7,5 Millionen. Wohntürme, Menschenmassen, Smog.

Sein Deutsch ist noch etwas holprig, manche Wörter schneidet er ab, andere dehnt er. Ob Le deswegen einsilbig ist oder weil er ein stiller Typ ist, wird nicht ganz klar. Was ihm gut gefällt: die saubere Luft. Was er typisch deutsch findet: Auto fahren und Fußball schauen. Was er vermisst: Nur seine Familie, sagt Le. Und dann: „Okay, und das Essen.“ Für beides hat er eine Lösung gefunden. Skype und einen vietnamesischen Shop in Erfurt, „der liefert ab 200 Euro umsonst.“ Seitdem macht er Sammelbestellungen.

In Vietnam hatte Van Quan Le gerade sein Abitur gemacht. Dann kam das Angebot aus Deutschland, und er griff sofort zu. Der Durchschnittslohn in Vietnam liegt bei 160 Euro pro Monat. Im Thüringer Schlachthof verdient Le mittlerweile etwa das Zehnfache. Über seinen Job sagt er: „Es ist gut, was mit den Händen zu machen.“

Seine Abschlussprüfung im vorigen Jahr absolvierte er als Jahrgangsbester. Das erzählt nicht er, das erzählt ein stolzer Peter Lesser. Einmal in der Woche spielt Le Tischtennis in einem Verein. Wenn er freihat, schaut er sich Deutschland an. Bisher war er in Hamburg „sehr schön“, Würzburg, Nürnberg, München und Berlin. Dort haben Verwandte seit den 1980er Jahren einen Blumenladen.

14 von 21 Azubis in der Fleischerei stammen aus Vietnam Foto: Nora Klein

Vor acht Monaten ist Le Vater eines Mädchen geworden. Seine Frau kommt ebenfalls aus Vietnam. Gemeinsam wohnen sie in einem großen Zimmer im Lehrlingsheim der Firma. Einem modernen zweistöckigen Flachbau, gleich gegenüber vom Schlachthof. Gemeinschaftsküche mit Reiskochern, Gemeinschaftsbäder, hölzerne Tisch-Schrank-Kombos in den Zimmern. Lesser ließ den Bau 2015 für seine vietnamesischen Auszubildenden herrichten. „Für die Mädchen und Jungen“, wie er seine Auszubildenden nennt.

Schaut man sich Les Werdegang an, könnte man sagen, er ist so was wie der Vorzeige-Azubi des Betriebs. Einer, dem man Verantwortung übergibt. Trotz des rumpeligen Starts, trotz der Sprachprobleme. Le wird bei Lesser bleiben. Vielleicht ist deutsche Wurst nicht unbedingt seine Leidenschaft, aber durchaus eine Chance, die er zu nutzen weiß.

Das findet auch Peter Lesser. Mittlerweile arbeiten 17 Vietnamesen für die Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. Ginge es nach Lesser, wären es noch viel mehr. 2016 stieg die Industrie- und Handelskammer Suhl in Lessers Projekt ein, die Landesregierung stellt finanzielle Unterstützung und einen organisatorischen Rahmen. Der sieht vor, dass jährlich 40 Auszubildende aus Vietnam nach Thüringen kommen. Die Akquise läuft über eine vietnamesische Unternehmensberatung in Hanoi. Geworben wird in technischen Hochschulen und Colleges. Kommen kann jeder mit einem Schulabschluss und genügend Geld für den Flug. Einzige Voraussetzungen: ein Sprachkurs. Level B2, und eine erfolgreiche Prüfung am Goethe-Institut in Hanoi. Mittlerweile machen 52 junge Vietnamesen eine Ausbildung in der Region. Beim Glaser, in der Gastronomie und im Metallbau.

Ein Abkommen zwischen Deutschland und Vietnam sichert den jungen Azubis ihren Aufenthalt. Drei Jahre Ausbildung, mit Option auf Verlängerung, wenn Arbeit vorhanden ist.

Das Projekt ist erfolgreich. Im August 2019 kommen die nächsten 40. In diesem Jahr sei die Nachfrage doppelt so hoch gewesen wie das Angebot, schreibt die Handelskammer Suhl in ihrer Broschüre.

Das Schnitzel kommt aus der Packung, das Wasser aus dem Hahn und der Strom aus der Steckdose

Nicht nur Peter Lesser hat zu kämpfen mit der Lücke. In Thüringen werden bis zum Jahr 2030 rund 300.000 Fachkräfte fehlen. Lesser erzählt von Betrieben aus der Region, die kurz vor dem Ruin sind, weil sie keinen Nachwuchs mehr finden. Elektriker, Schreiner, Polsterer. „Auslaufmodelle“, sagt Lesser.

Schuld an dem Nachwuchsmangel gibt Lesser der deutschen Bildungspolitik, die suggeriere: Uni oder nichts. 2,8 Millionen Studenten sitzen in deutschen Hörsälen, doppelt so viele wie Azubis in Berufsschulen.„Die Jugend hat keinen Kontakt mehr zum Handwerk“, sagt Lesser. Nicht in der Schule, nicht im Elternhaus. Das Schnitzel komme aus der Packung, das Wasser aus dem Hahn und der Strom aus der Steckdose. „Niemand weiß ja mehr, wie das funktioniert!“ Lesser ist jetzt sichtlich angefressen von dem Niedergang seines Standes. Er redet sich ein bisschen in Rage. Das Schnitzel, das müsse dann auch noch unter 1,99 Euro kosten, sagt er. Da sei es ja kein Wunder, dass man den Angestellten keine 20 Euro pro Stunde zahlen könne. Lesser atmet aus. Seinen Auszubildenden bezahlt er 800 im Monat. Egal ob aus Deutschland oder Vietnam. Woanders gibt es weniger.

Im nächsten Jahr bekommt Lesser vier neue Azubis dazu, alle aus Vietnam. Vier neue Azubis für Jens Ulrich, 53 Jahre alt, seit 1988 Ausbilder bei der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. An diesem Vormittag steht Ulrich neben Thi Hong Bui, der jungen Frau in dem zu großen Kittel, in der Zerlegehalle. Ulrich, ein Mann mit Schnauzer und Halbglatze, überragt Bui um gefühlt einen Meter, auch im Umfang. Am Nebentisch schneidet ein Kollege Schweineohren zurecht. Fast allen hier hat Ulrich das Handwerk beigebracht. Braten machen, Därme bestimmen, Wurst stopfen. Ob deutsch oder vietnamesisch, egal, sagt Ulrich. „Manche sind fit, manche brauchen einen kleinen Stoß.“

Er besieht sich Buis Tagewerk. Rosafarbene Fleischbrocken in roten Kisten.

„Was machst du heute?“, fragt Ulrich. So knapp und deutlich, wie es geht.

Van Quan Le wohnt mit Frau und Kind gleich nebenan Foto: Nora Klein

„Schultern“, sagt Bui.

„Und später?“

„Rouladen.“

Ulrich nickt. Die Schulter sehe gut aus, sagt er. Schön sauber. Kein Fett, keine Sehnen.

Es war Jens Ulrich, der Van Quan Le den ersten Eindruck von Deutschland vermittelte. 2014 nahm er die drei jungen Vietnamesen bei sich zu Hause auf, damals hatte der Schlachthof noch kein eigenes Lehrlingsheim. Ulrichs Söhne waren gerade bei ihm ausgezogen, und der Hof wurde ihm zu groß.

Vietnamesisch hat Ulrich in dieser Zeit nicht gelernt. Kein Hallo, kein Tschüss. Auch bei der Küche hält er es lieber „altdeutsch“, wie er sagt. Eins sei ihm aber in der Zeit klar geworden, sagt Ulrich.

Reis sei nicht gleich Reis.

Eines Abends sei ein Auto auf seinen Hof gefahren, erinnert sich Ulrich, Bremer Kennzeichen. „Ich dachte noch: Wat will der Typ hier“. Im Kofferraum lagerten drei Kilo Reis aus Vietnam. Eine Bestellung von Van Quan Le. Ulrich baute seinem Mitbewohner eine Speisekammer.

Später wird Ulrich sagen, dass es wichtig sei, dass die Auszubildenden sich zu Hause fühlen in Schmalkaden. „Wir wollen ja, dass die bleiben.“

Das Gleiche sagt auch der Vertreter der Handelskammer. In dem Vietnam-Projekt ist eine Sozialpädagogin eingebunden, ebenfalls aus Vietnam. Sie hilft bei der Eröffnung von Bankkonten und tröstet bei Heimweh. Wer in einen Tischtennis-Verein will, den meldet sie an, sie organisiert Ausflüge in die Umgebung. Ein Vertreter der IHK Suhl nennt diese Form der Betreuung in einem Gespräch „Klebepunkte“. Ein anderes Wort wäre vielleicht: Verbundenheit.

Kisten tragen, Schweinehälften zerlegen, Rinderrouladen drehen: Das Einmaleins des Fleischerlebens Foto: Nora Klein

Peter Lesser hat in den letzten Jahren viele Anrufe bekommen, Betriebe aus ganz Deutschland wollten wissen, wie das geht mit den Fachkräften von außerhalb. In Sachsen gibt es mittlerweile zwei Projekte, die Auszubildende aus Vietnam nach Deutschland holen. Ein Gastronom aus Sachsen-Anhalt vermittelt Azubis aus Indonesien. Wie viele dieser Programme es in ganz Deutschland gibt, ist nicht erfasst. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer hat keine Zahlen dazu. Auch die Agentur für Arbeit nicht.

2020 könnten vorerst die letzten Auszubildenden nach Schmalkalden kommen. Die öffentliche Förderung für das Projekt läuft aus. Ob es danach weitergehe, das müsste man evaluieren, heißt es aus der Landesregierung Thüringen. Ausschlaggebend sei auch, ob weiterhin Bedarf bei den Unternehmen bestehe.

Thi Hong Bui sitzt in ihrer Mittagspause in der Kantine. 12 Uhr, „Mahlzeit!“, ruft es von allen Seiten. Auch hier, alles weiß: die Stühle, die Tische, die Kittel der Kollegen. Statt Wurst isst Bui Glasnudeln aus einer Tupperbox mit Stäbchen. Sie erzählt, dass sie bald einen Karatekurs besucht und irgendwann mal nach Spanien reisen will. Ob sie nach ihrer Ausbildung in Deutschland bleibt?

Sie weiß es noch nicht.

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15 Kommentare

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  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Schon wieder diese Mär von Fachkräftemangel.

    Bei einer Geburtenrate von 1.6 Kindern je Frau gibt es logischerweise einen Nachwuchsmangel in der Wirtschaft.



    Bei Fachkräften gibt es Mangel genauso wie in jenem Niedriglohnsektor, auf den "Mir-ist-ja-alles-sowas-von-scheissegal"-Schröder so stolz ist.

    Außerdem werden junge Menschen angesichts der Tatsache, dass die Menschen die Erde buchstäblich auffressen, wohl eher Veganer als Fleischer.

  • Deutsch-Level B2 als Voraussetzung? Kommt mir ziemlich hoch vor. Kaum zu glauben, dass er so viele Vietnamesen mit diesem Level gefunden hat. Nach 600 Stunden Integrationskurs kommt man gerade mal auf B1. Ist vielleicht nicht eher A2 die Voraussetzung?

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Frau Bui mag die deutsche Aldi-Wurst retten - das deutsche Handwerk mit Sicherheit nicht. Ihre persönliche Perspektive, die sie in dieser Berufswahl sieht, sei ihr trotzdem gegönnt. Aber der Beitrag beleuchtet ausgerechnet einen Sektor der halb-industriellen Lebensmittelerzeugung, etwas worüber in anderen taz-Artikeln zu Recht nicht mit Kritik gespart wird. Hätte es vielleicht auch andere Beispiele gegeben, wo Azubis aus dem Ausland hier wertvolle Handwerkstechniken mit mangelndem autochthonen Nachwuchs lernen?

    • @61321 (Profil gelöscht):

      Der s.g. Spekulant nutzt (weltweit) u.a. unterschiedliche Inflationsraten aus.

      Hier passiert (im Inland) das prinzipiell Identische: der (niedrige aber) vergleichsweise hohe lockt.

      Deshalb "gönne" ich Frau Bui den Job nur bedingt.

      • 6G
        61321 (Profil gelöscht)
        @Gerhard Krause:

        Ein fleißiger Kommentierer, den Sie sicherlich kennen, würde wahrscheinlich sagen, Frau Bui könnte ja z.B. die Hälfte ihres Lohnes nach Vietnam überweisen und, dank des drastischen Kaufkraftgefälles, somit äußerst wirkungsvoll eine große Anzahl Familienmitglieder unterstützen. Eine Win-win-Situation - hier die fleißige Arbeitnehmerin, die durch ihren Mitteltransfer ins ferne Vietnam an der globalen wirtschaftlichen Vernetzung teilhat, sie also aktiv mitgestaltet, so die positive Sicht der Dinge, und bei uns der gerade noch die Hände ringende Unternehmer, der nun, von seinen drängenden Personalsorgen befreit mit neuem Elan und gestärkt in seiner Marktnische auftreten und vielleicht bald expandieren kann.



        Wird Frau Bui auch potentiell eine Arbeitnehmerin sein, die gegebenenfalls hier einmal nachdrücklich um höheren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen würde? Das können wir uns nun schon viel weniger vorstellen. Entschuldigung Frau Bui, wenn ich hier etwas völlig falsch einschätzen sollte



        Wäre ich Unternehmer, würde mir jede politische Kraft gelegen kommen, die dem weltweiten Transfer von Arbeitskräften alle noch aktuell bestehenden Hindernisse aus dem Weg zu räumen verspricht. Warum wir das nicht voraussetzungs- und bedingungslos gut finden, haben wir an anderer Stelle schon häufig begründet (aus viele Gründen!)



        Einladung von jungen Leuten zu Ausbildungszwecken nach Deutschland kann trotzdem eine sehr gute Sache sein - aber halt unter ganz spezifischen, in Wirtschaftskreisen nicht erwogenen Vorzeichen und mit der klaren Selbstverpflichtung eines der Partner, des wirtschaftlich Stärkeren, also uns, nach Ausbildungsende den qualifizierten Leuten zurück zu verhelfen, mitsamt Mitteln und evt. günstigen Darlehen des Gastgeberlandes, Know-how, und möglichst mit der politisch vorbereiteten Perspektive auf einen erleichterten Neuanfang im Herkunftsland selbst. Dass dabei auch Leute hier hängen bleiben, versteht sich von selbst, sie sollten aber nicht i.d. Mehrzahl sein

  • Tiere unter Todesängsten zu eliminieren und für den Schnitzelfanatiker



    zu zerhacken als Handwerk zu bezeichnen könnte aus dem Vokabular der Nazis stammen.



    Das ist Barberei. Nichts anderes.



    Da sind Asiaten eben auch nicht besser als wir.



    Die Überwindung dieser Greueltaten muß ein Menschheitsziel sein. So wie die Abschaffung der Folter, Hexenverfolgung und ethnische Säuberungen.



    In Sachen Nutztierhaltung lebt der Mensch noch im finstersten Mittelalter.



    Der bezüglich Tierhaltung verwöhnte egoistische und empathielose Fleischistgeilbürger wird umdenken müssen. Dringend. Weltweit.



    Empathie zu allen Lebewesen wäre ein Garant für Frieden. Wir müssen es nur wollen !

    • @Traverso:

      "Empathie zu allen Lebewesen "



      also auch für Pflanzen, Pilze, Mikroben ... ?

    • @Traverso:

      Sie meinen es ja gut, aber so werden Sie nie zum Ziel kommen!

  • Das wäre schon schlimm, wenn sich niemand mehr fände, um Gewalttaten durchzuführen. Da muss man sich als Linker dringend für mehr Rechte für die armen angestellten Fleischer einsetzen, damit man nicht Gefahr läuft, die ehrlich arbeitenden Leute mit fiesen Ökodiktaturen abzuschrecken.

    • @Christian Clauser:

      Als Linker könnte man sich auch die Frage stellen, warum ein Berufszweig, dessen Leistung so stark nachgefragt wird, derartig miserabel entlohnt wird. Warum nicht die Löhne steigen und die Produkte sich entsprechend verteuern. Eklatantes Marktversagen, oder was ist da wohl los?

      • @Ruhig Blut:

        Danke, meine ich auch.

      • @Ruhig Blut:

        Oder man könnte froh sein, dass selbst im Kapitalismus ein Fremdschämen möglich ist - dann natürlich ausgedrückt in Zahlungseinheiten.

        Über eine "Aufwertung" des Fleisches entwickelt sich kein Umdenken. Ein mehr wertgeschätztes "Nutztier" wird noch immer kein Lebewesen, sondern bleibt ein Produkt.

        • @Christian Clauser:

          Zum ersten Satz: Wenn’s denn so wäre, ist es aber nicht. Jmd. wie Clemens Tönnies wurde durch dieses business mehrfacher Milliardär, ist Sportfunktionär und hoch angesehen. Dass vom Profit seiner Firma unten nix ankommt und nur die Chefs und Eigentümer, nicht aber die einfachen Arbeiter Wertschätzung erfahren, macht die Massenproduktion doch nicht besser, sondern noch erbärmlicher. Es werden nicht nur die Tiere sondern auch noch die Menschen ausgebeutet. Und wenn sich hierzulande niemand mehr findet, der das nötig hat, werden eben anderswo Leute gesucht, die arm genug sind. Das übliche, wie überall.



          Zum zweiten: Mag sein oder nicht. Aber Massenbilligproduktion zu Lasten fast aller (einschl. der Umweltbelastung durch die Betriebe, dem hochgefährlichen Antibiotikamissbrauch, Abholzung für Futteranbau, Vertreibung von Kleinbauern und Indigenen etc.pp.) und dem Nutzen ganz weniger, macht’s sicherlich nicht besser.



          Fleischkonsum verbieten ist nicht durchsetzbar, ihn auf ein exklusives Privileg der Reichen zu reduzieren politisch und moralisch untragbar, aber schlimmer noch ist es, wie es derzeit läuft.

        • @Christian Clauser:

          Schönes Erklärungsmodell :-).

  • "Peter Lesser, Geschäftsführer: „Die Jugend hat keinen Kontakt mehr zum Handwerk.“ "

    Das ist an Dummheit nicht zu überbieten.