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UnsereneuenNachbarn

Die taz zieht um. Von der Rudi-Dutschke-Straße nur ein paar hundert Meter weiter an die südliche Friedrichstraße – und doch in eine andere Welt. Dort gibt es rund um den Mehringplatz einen gewachsenen Kiez. Und in der nahen Nachbarschaft ein neues Kunst- und Kreativquartier. Was können die Zugezogenen den Alteingesessenen geben?

Jetzt hat die taz lauter neue Nachbarn: das neu gebaute taz Haus mit seiner Fassade aus Glas und Stahl mitten in der Friedrichstraße 21

VonSusanne Messmer(Text) und Karsten Thielker(Foto)

Ein Engel namens Daniel, den niemand sehen kann, mäandert ziellos durch die Stadt. Er gerät in einen kleinen Zirkus, wo eine Trapezkünstlerin mit Engelsflügeln aus Hühnerfedern trainiert. Der Direktor ist sauer, weil sie eher baumelt als fliegt. Sie rauscht beleidigt raus und setzt sich vor ihren Zirkuswagen, der Blick geht in die Ferne. Dann philosophiert die Trapezkünstlerin ein wenig über dies und das, stets in Begleitung des Engels, der schon längst verliebt ist in sie, den sie ja aber nicht einmal sehen kann.

Wim Wenders muss begeistert gewesen sein von der Schönheit der Brache, die er für die nun folgende Szene seines Films „Der Himmel über Berlin“, des wohl poetischsten Berlinfilms aller Zeiten, gefunden hatte. Gras und Staub, Brandmauern, unendliche Weiten, der Blick geht aufs kunterbunte Tommy-Weisbecker-Haus. Es ist noch zwei Jahre hin bis zum Mauerfall, und die melancholischen, verloren wirkenden Gestalten, von denen Wenders erzählt, spiegeln sich perfekt in der Agonie der Frontstadt, in ihrer Zerrissenheit, ihren Wunden und Narben.

An diesem Wochenende beginnt der Umzug der taz in die Südliche Friedrichstadt (siehe Kasten). Das neue Haus befindet sich 100 Meter weiter nördlich von der Brache, auf der vor über 30 Jahren Wim Wenders seinen Zirkus drehte. Der Umzug verschlägt die taz nur einen halben Kilometer weiter weg vom alten Haus, aber in eine völlig neue, ganz andere Welt.

Bis vor Kurzem mussten wir Mitarbeiter auf dem Weg zur Arbeit noch am Checkpoint Charlie vorbei. Oder durch die neue, hochglänzende Friedrichstraße im Norden mit ihren noblen Shops, den vielen Touristen.

Nun sind wir täglich mit den Verwerfungen im Süden der Straße konfrontiert, wie sie Wim Wenders gezeigt hat und wie sie nach wie vor spürbar sind. Hier war mal ein lebendiges Zeitungsviertel, hier wurde bei einem Bombenangriff im Februar 1945 fast alles zerstört. Lange nach dem Mauerfall, eigentlich bis heute, blieb die Gegend ein wenig beachtetes Stück der Friedrichstraße. Eine Art Niemandsland.

Ein Durchgangsort mit Spielhöllen, Souvenirläden, mit einem Nobelrestaurant, einem angesagten Café, einem Textildiscounter. Mit einem Laden voller neobarocker Kitschmöbel und dem Trödelladen des Obdachlosenmagazins Motz.

Es ist ein Nachmittag in diesem endlos langen Spätsommer. Der Blick vom Nachbarschaftscafé MadaMe geht direkt auf den runden Mehringplatz, jenen Platz am U-Bahnhof Hallesches Tor, in das die Friedrichstraße nicht weit vom neuen taz Haus mündet. Am Mehringplatz gibt es mehr Kinderarmut als überall sonst in Berlin. 64,4 Prozent der unter 15-Jährigen sind Empfänger von Transferleistungen, laut Quartiersmanagement, das seit 2005 am Platz arbeitet, gehen viel zu wenige Kinder in die Kita, und die Hälfte von ihnen zeigt bei der Einschulung Sprachdefizite, ein Viertel motorische Defizite. Fast 20 Prozent sind übergewichtig. Den Eltern geht es kaum besser. 70 Prozent der Leute hier sind eingewandert, die meisten aus der Türkei und dem Nahen Osten. 22 Prozent der erwerbsfähigen Bewohner sind, auch drei Jahre seit in dieser Zeitung die letzte Reportage über den Kiez erschien, nach wie vor arbeitslos.

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