Todesfall im Hambacher Forst: Der Schock nach dem Absturz
Niemand weiß, wie es weitergehen kann – ein Augenzeugenbericht aus dem Hambacher Forst nach dem tödlichen Sturz von Steffen Meyn.
Am Mittwoch um 15.45 Uhr war Steffen Meyn aus rund 20 Meter Höhe von einem Baumhaus in den Tod gestürzt. Ich war zufällig Augenzeuge.
Plötzlich war da so ein Krachen im Geäst, das da nicht hingehörte. Den Kopf gedreht, da fällt etwas, nicht mehr als 20 Meter entfernt, waagerecht, ausgestreckt. Was ist das? Eine Puppe, ein Dummy? Wahrscheinlich, so meine späteren Gedanken, kam ich auf diese Vermutung, weil es keinen Schrei gab, kein Armrudern, nichts. Dann der harte Aufschlag, auf den Rücken. Rundum ein Atemzug Stille. Dann sofort Schreie „Hilfe, Sanitäter … Unfall … Notarzt …“.
Rettungskräfte sind nach einer Minute da. Wiederbelebungsversuche. Weggucken oder hingucken? Das kann doch alles nicht … Ein Sichtschutz kommt. Eine Menschentraube aus Sicherheitskräften drumherum. Nach fast fünf Minuten immer noch Wiederbelebungsversuche.
Aus dem Wald rundherum Entsetzensrufe, schrill und panisch. Knapp zwanzig AktivistInnen kommen schreiend angelaufen. Wutreflexe: „Verpisst euch, Bullen …, ihr Mörder, Mörder …“ Kurz danach verstummt alles. Die Schreier sitzen. Auch sie, so nahe dran, in Schockstarre. Eine Frau weint.
Dabei hatte der Tag so beschaulich begonnen. Am späten Vormittag lernte ich die BewohnerInnen der Baumhaussiedlung „Kleingartenverein“ kennen. Natürlich könne ich da mal eine Nacht schlafen, sagt der freundliche „Moses“, charmante Idee, findet er, mal den Alltag bei permanenter Räumungsdrohung zu dokumentieren. Schlafsack dabei, Isomatte? „Klar.“ – „Willkommen!“
Hubschrauber kommt, Rettungswagen schon da
Mit Klettern, fragt Moses noch, ganz oben ins Baumhaus „RentnerInnenglück“? Ich bin unschlüssig, lieber im halbhohen Haus, das mit Strickleitern erreichbar ist. Oder doch klettern? Gerade gibt hier eine junge barbusige Frau einen Kurs. Ein junges Paar macht das behände mit: „Ihr seid echt gut“, lobt sie die beiden. Sie kommen, schon auf zehn Meter Höhe, ganz bedächtig und vorsichtig wieder runter. Die beiden erzählen, sie wollten im Wald einziehen. Ein paar Bäume weiter werden gerade unverdrossen zwei neue Häuser gezimmert. Bis heute Abend, Moses.
An der Unglücksstelle ist der Abgestürzte mittlerweile im Notarztwagen. Alle Räumungsaktivitäten sind abgebrochen. Überall Hektik und bedrückte Gesichter, auch manche der Polizisten scheinen momentweise nicht so recht zu wissen, wohin mit sich. Nach einer halben Stunde fliegt an der Rodungskante ein Rettungshubschrauber ein. Gleichzeitig setzt sich der Notarztwagen die vielleicht 300 Meter in Bewegung.
Absperrungen zählen kaum mehr. Neben mir gibt es jenseits der Einsatzkräfte fünf andere mittlerweile registrierte Zeugen des „Vorfalls“, wie die Polizei den Absturz ungewollt zynisch nennt. Der leitende Beamte einer Hundertschaft aus Bochum bittet uns eindringlich, zu bleiben. „Zeugenaussagen sind unmittelbar danach am wertvollsten. Wir müssen eine Dienststelle suchen, die nicht am Einsatz hier beteiligt ist.“ Wegen der Objektivität, dass es keinen Anlass zu Mauschelvorwürfen geben könne. Leicht wird das nicht: Allein am Mittwoch waren Einheiten aus Bochum, Gelsenkirchen, Essen, Aachen, aus Hamburg, Bayern, Baden-Württemberg und andere vor Ort.
Unter den ZeugInnen ist auch eine sehr junge Berlinerin, die zehn Minuten zuvor gleich daneben von einer Hubbühne in aller Ruhe ohne jeden Widerstand heruntergeholt wurde, keine 30 Meter entfernt. Sie steht jetzt unter Schock und braucht Betreuung. Ein Zeuge berichtet, er habe gesehen, wie ein SEK-Mann, der bei der Räumung beteiligt war, unmittelbar vor dem schrecklichen Absturz an Seilen gerüttelt habe, die zum Baumhaus hoch gingen. Das ist ein Vorwurf, der kaum schwerer wiegen könnte.
Eine andere Zeugin, eine Fotojournalistin, berichtet von einer Situation tags zuvor. Da habe ein Baumhausbewohner auf einer Holztraverse, ungesichert hoch oben, gedroht zu springen, wenn die Einsatzkräfte nicht abrückten. „Gleichzeitig wurde ein Stück weiter mit Motorsägen ungerührt weitergemacht. Ich habe einem RWE-Mann gesagt, die sollten sofort damit aufhören. Das triggert den doch nur.“ Der RWE-Mann habe nur geantwortet: „Ach, springen – das sagen die doch immer alle …“
Der Hubschrauber steht. Was bedeutet das?
Der Hubschrauber steht immer noch da. Kann das ein gutes Zeichen sein? Nach anderthalb Stunden, kurz vor 18 Uhr, fliegt er davon, Richtung Köln. Da geht’s in die Uniklinik? Gleichzeitig kommt die Todesnachricht. Steffen Meyn, Journalist, sei seinen schweren Verletzungen erlegen. Neuer Schreck: Steffen? Nein, der Steffen?
Ein paar Mal war ich Steffen im Forst begegnet, zuletzt am Beginn der Räumungssaison. Und vor drei Tagen noch telefoniert. Markenzeichen war sein rötlicher Bart, die zusammengeknoteten langen Haare mit dem kleinen Pferdeschwänzchen hinten und die markante schwarze Brille. Immer war er mit Helm und einer kleinen Helmkamera darauf unterwegs. Ein erfahrener, umsichtiger Kletterer, sagen alle. Er lebte nicht im Wald, höchstens einmal für eine Nacht zwischendurch, aber er war seit Jahren immer dabei. Ganz nah dran, überall, für eine Langzeitdokumentation, wie er einmal erzählt hatte. Deshalb war er am Mittwochnachmittag auch oben. Ein leiser, unaufgeregter Mensch, immer sachlich, keiner der gebrüllt hätte gegen die Rodung, gegen die Polizei.
Jeder im Wald kannte Steffen Meyn. In der Sache sicher einen von ihnen. 13 Minuten vor seinem Sturz hatte er von oben einen letzten Film gepostet. Auf seinem Twitteraccount nannte er sich „Regisseur/Künstler/Journalist“; sein Name dort war, wie furchtbar, Vergissmeynnicht.
Die Kommentare: trauernd, berechnend, zynisch
Bereits kurz nachdem die Nachricht vom Unfall in Internetplattformen auftaucht, gibt es zahlreiche Beileidsbekundungen – aber auch geschmacklose Kommentare. Manche machen auf Anhieb den Energiekonzern RWE für den Tod des Mannes verantwortlich, andere die Polizei – noch ehe überhaupt geklärt ist, was genau am Unglücksort vor sich gegangen war. Noch pietätloser: Offenbar aus rechten Internetforen erstürmten Twitter-Bots und Trolle manche Kommentarzeilen – und spotten über den Toten im Hambacher Forst. Wir verzichten auf Zitate.
Nach fast zweieinhalb Stunden erklärt die Polizei, sie werde auf absehbare Zeit die Zeugenbefragungen nicht mehr schaffen. Wir dürften gehen. Mönchengladbach habe die Ermittlungen übernommen, aber aus unbekanntem Grund, sagt der umsichtige Bochumer Einsatzleiter, schafften es die Kollegen nicht in den Wald. Mönchengladbach ist 35 Kilometer Luftlinie entfernt, mit Umweg wegen der riesigen Braunkohlelöcher einiges mehr. Wir gehen.
Die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft laufen. Schnell war auf ein paar fehlende Bretter auf der Traverse gleich neben dem Baumhaus verwiesen worden. Ob die eingebrochen waren, ob das wirklich die genaue Absturzstelle war, müssen die Untersuchungen zeigen. Die erste Pressemitteilung der den Einsatz leitenden Aachener Polizei von Mittwoch, 18 Uhr, ist nachweislich unwahr: Zum Unglückszeitpunkt, heißt es da, „fanden keine polizeilichen Maßnahmen in der Nähe der Unglücksstelle und am genannten Baumhaus statt“.
Doch „Maßnahmen“ fanden sehr wohl in unmittelbarer Nähe statt. Der Tweet steht dort immer noch und wird zitiert. Zumindest kühn ist die Aussage des Aachener Polizeisprechers: „Es gab keinen Zusammenhang hinsichtlich der Räumung.“ Immerhin sagte er noch, es werde „gegebenenfalls ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, wenn Fahrlässigkeit bestand“.
Gleichzeitig hat am Mittwoch der Arbeitsbühnen-Verleiher Gerken aus Düsseldorf bekannt gegeben, seine Geräte aus dem Hambacher Forst ab sofort abzuziehen. Man sei vom Auftraggeber vorher nicht über den geplanten Einsatzzweck informiert gewesen. „Da auch wir mit der Vorgehensweise im Hambacher Forst absolut nicht einverstanden waren und sind, haben wir heute beschlossen, dass wir unsere Geräte dort stilllegen“, schreibt die Gerken-Geschäftsleitung.
Bilder der feuerroten Gerken-Hubbühne waren am ersten Räumungstag um die Welt gegangen. In den Tagen danach hatten Hambach-AktivistInnen dazu aufgerufen, den beteiligten Drittfirmen per Mail die Meinung zu geigen. Jetzt schreibt Gerken, man sei von anderen Kunden vielfach kritisiert worden. Und: Man wisse um den Vertragsbruch und müsse halt „mit hohen Regressansprüchen unseres Kunden“ rechnen. Diese Entscheidung war gut eine Stunde vor dem Todessturz bekannt gegeben geworden.
Am Abend zurück im „Kleingartenverein“. Gut 20 Leute sitzen im großen Kreis auf alten Holzbänken, auf Isomatten und dem ausgestreuten Stroh. Der Versammlungsplatz unterhalb der Baumhäuser drumherum. Viele halten sich im Arm. Gegenseitige Trostsuche. Einer streicht Erdnussbutterbrote vor sich hin. Es ist still. Und wenn doch jemand ein Wort sagt in großer Ruhe, dann flüsternd fast. Klar, Steffen Meyn kannten hier alle. „Der hat sich doch immer vorbildlich gesichert …“
„Hier ist sechs Jahre lang nichts passiert“, sagt einer, „sechs Jahre leben wir hier.“ Und dann: Erst brannte vergangene Woche direkt nebenan eine Wiese, wo die Polizeiwagen standen. Endlich hatte da ein Wasserwerfer mal einen sinnvollen Einsatz: Alles war zum Glück schnell gelöscht. Und jetzt der Todessturz. „Passt nur auf“, sagt eine andere leise, „am Ende werden sie uns dafür verantwortlich machen.“
Brüllen, schreien, schluchzen: Die Trauer sucht ein Ventil
Nebenan, keine dreißig Meter entfernt, steht mit laufendem Motor eine Polizeiwanne und bewegt sich wie auf Pirsch auch mal ein paar Meter weiter. Plötzlich brüllt eine Frau los und rennt drohend in Richtung Polizei: „Verpisst euch, ihr Schweine. Lasst uns wenigstens in Ruhe trauern.“ Dann bricht sie zusammen. Kauert auf dem Boden. Wut braucht ein Ventil. Sie schluchzt und kriegt viel Trost von den anderen.
Keine Übernachtung hier. Das passt nicht mehr.
Niemand weiß, wie es weitergehen kann. Alle Räumungen sind unmittelbar nach Meyns Tod ausgesetzt. Kann RWE einfach an einem Tag X sagen, heute geht es wieder los – wir wollen doch ab dem 15. Oktober roden? Neustart vor Steffens Beerdigung oder erst danach? Und was wird dann passieren?
In der Nacht auf Donnerstag war ein jahrelanger Aktivist, der schon vor Tagen geräumt worden war und strafbewehrten Platzverweis hatte, in den Wald zurückgekehrt und konnte einige Baumhausbewohner dazu überreden, bis auf Weiteres herunterzukommen. Dann berichtet ein Augenzeuge noch, wie „ekelhaft und unwürdig“ das Business as usual in der Nacht gewesen sei: Kontrollen weiterhin, keinerlei Polizeirückzug, „keine Ruhe, Scheinwerfer überall, die Generatoren liefen ununterbrochen“.
Immerhin, gestern durften erstmals seit über einer Woche wieder SpaziergängerInnen in den Wald. Auch die Aktivisten gehen inzwischen von einem Unfall aus. Freunde des Verstorbenen lehnen Schuldzuweisungen ab. Grablichter flackern, Blumen sind abgelegt. Auf einem Holzschild steht: „Zündet Eure Kerze, Singt Euer Lied! Zeigt ihm, dass hier niemand aufgibt!“ Am Nachmittag kommt per Twitter das „Angebot der Polizei Aachen an alle Personen im Hambacher Forst: Solltet ihr ein Baumhaus verlassen wollen und benötigt dabei Unterstützung, könnt ihr euch an unseren Kontaktbeamten wenden. Wir sind da, um euch zu helfen.“ Um 15.45 Uhr gibt es eine Schweigeminute. Für den frühen Abend ist eine Trauerfeier an der Mahnwache geplant. Für den wöchentlichen Waldspaziergang am kommenden Sonntag rechnen die Organisatoren mit mindestens Zehntausend Menschen.
Die Forderungen: Räumung stoppen, Besetzung beenden
In Düsseldorf übergeben am Donnerstag Mittag Umweltgruppen eine Liste mit 500.000 Unterschriften an die Landesregierung mit der Forderung, Räumungen und Rodungsvorhaben sofort zu stoppen. Die Hambach-Aktivisten schreiben: „Wir fordern die Polizei und RWE auf, den Wald sofort zu verlassen und diesen gefährlichen Einsatz zu stoppen. Es dürfen keine weiteren Menschenleben gefährdet werden.“
Schon am Morgen hatte die Landesregierung ihre Forderungen gestellt: Die BaumhausbewohnerInnen, so NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), sollten jetzt freiwillig ihr Zuhause verlassen, „dann wäre ja gar kein Problem mehr“.
Bis zum Nachmittag hat sich die Polizei bei mir wegen der Zeugenaussage noch nicht gemeldet. Die Staatsanwaltschaft Aachen vermeldet gleichzeitig, es lägen nach den bisherigen übereinstimmenden Zeugenaussagen „keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden“ vor. Eine Obduktion des Leichnams ist angeordnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein