piwik no script img

Reden, aber auch gehört werden

Seit drei Jahren engagieren sich Opfer von sexueller Gewalt im Betroffenenrat. Sie beraten Institutionen und Behörden, sie wollen verhindern, dass sich ihre Geschichten wiederholen. Jetzt treffen sie sich zum Kongress in Berlin. Drei Menschen und ihre Geschichten

Betroffenenratsmitglied Sonja Howard mit ihren Kindern Foto: privat

Von Nina Apin

Sonja Howard kann ihre Kindheit in drei Wörtern zusammenfassen: „15 Jahre Hölle“, sagt die 30-Jährige. Ihren leiblichen Vater hat sie erst spät kennengelernt. Der Stiefvater war ein tiefreligiöser Mann, engagiert in einer Freikirche, zu Hause ein prügelnder Tyrann und Vergewaltiger. Vom vierten Lebensjahr bis in die Teenagerzeit missbrauchte er die Tochter. Und die Mutter? „Sie war schwach, die typische Mitwisserin“, sagt Howard. Mit zehn ging sie allein zur Polizei, das Jugendamt kam, doch die bürgerliche Fassade hielt. Grün und blau geprügelt, suchte sie Zuflucht bei der Mutter einer Freundin – die schickte sie wieder heim. Erst mit 23 Jahren zeigte sie ihren Peiniger an. Er kam mit zwei Jahren auf Bewährung davon. „Er hat nicht einen Tag im Gefängnis zugebracht, ich war so unglaublich wütend“, sagt Howard heute. Sie drückte die Wut weg, konzentrierte sich auf ihr eigenes Leben. Ausbildung, Familiengründung, ein Leben in den USA.

Als sie zurück nach Deutschland zog, war die Vergangenheit wieder präsent. Die Wut, aber auch das Bedürfnis zu verhindern, dass sich ihre eigene Geschichte hunderttausendfach wiederholt. Sonja ­Howard engagiert sich jetzt für Prävention. Im Netz berät sie verunsicherte Eltern. Die würden meist versuchen, das dunkle Thema von ihren Kindern fernzuhalten. Ein Fehler, meint Howard. „Wir sprechen mit unseren Kindern über die Gefahren im Straßenverkehr und über Krankheiten, nur über die Gefahr von Missbrauch sprechen wir nicht“, sagt sie. Dabei sei das „wie Krebs, es kann jeden treffen“.

Untersuchungen gehen davon aus, dass 6 bis 13 Prozent eines Jahrgangs sexuelle Gewalt erlebt haben. Das sind ein bis zwei Kinder pro Schulklasse. Mit wem können sie sprechen über das, was sie erlebt haben? Howard weiß, wie schwer es ist, Gehör zu finden. Weil sie will, dass sich das ändert, wurde sie Mitglied beim Betroffenenrat. Das Gremium existiert seit 2015, angesiedelt beim Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. 15 Betroffene sexueller Gewalt aus allen Bereichen der Gesellschaft haben sich dort zusammengeschlossen. Sie wurden als Kinder in Heimen, Sportvereinen, Schulen, kirchlichen Internaten oder in der Familie sexuell missbraucht. Sie sind heute Journalistinnen, Berater, Pädagoginnen, Künstler. Rund sechsmal im Jahr treffen sie sich in Berlin, sie arbeiten mit Behörden und Selbsthilfegruppen zusammen, stehen für Stellungnahmen zur Verfügung. Kurz, sie machen ihre Betroffenheit zur Expertise.

Am 14. und 15. September organisiert der Betroffenenrat einen Kongress in den Räumen der Berliner Stadtmission. Das Motto heißt „Mitsprache, gemeinsam stark“. Dass die Betroffenen mitreden, wenn es etwa um Präventionskonzepte für Schulen, um die Aufarbeitung von Missbrauch in Institutionen oder um Fragen der Opferentschädigung geht, war lange nicht selbstverständlich. 2010, als die großen Missbrauchsskandale vom jesuitischen Canisius-Kolleg bis zur reformpädagogischen Odenwaldschule das Land erschütterten, wurde ein Runder Tisch aus ExpertInnen und „relevanten gesellschaftlichen Gruppen“ einberufen. Betroffene waren nicht dabei.

„Es gab da in der Politik einige Berührungsängste“, erinnert sich Johannes-Wilhelm Rörig, der seit 2011 Missbrauchsbeauftragter ist. Heute geht ohne die Stimmen der Betroffenen nichts mehr: Ihre persönlichen Erfahrung fließen in Initiativen, Publikationen und Gesetzesvorlagen mit ein. Ein „Erfolgsmodell“ nennt es Rörig, eine große Verantwortung nennt es Sonja Howard. Eine kräftezehrende Angelegenheit ist es für Renate Bühn.

Sie schätzt, dass sie in den letzten drei Jahren rund 1.000 Stunden ehrenamtliche Arbeit geleistet hat. Diese Zeit fehlt der Bremer Künstlerin für bezahlte Arbeit – ihre Rentenprognose derzeit liegt bei 400 Euro. „Wenn ich für eine Sitzung nach Berlin reise, bekomme ich eine Aufwandspauschale pro Sitzungstag – das war’s.“ Die Arbeit, sagt sie, gehöre nicht nur symbolisch wertgeschätzt, sondern auch materiell. Zurzeit springt Bühn, 56, hin und her zwischen Terminen in Berlin, ihrer Ausstellung in Bremerhaven und ihrem Schreibtisch, von dem aus sie den Betroffenenkongress in Berlin vorbereitet. Ihren Blog „ich habe angezeigt“ muss sie auch noch betreuen, den sie zusammen mit der ebenfalls im Betroffenenrat engagierten Dorina Kolbe betreibt. Darin dokumentieren Betroffene ihre Erfahrung mit Strafverfahren, also mit dem, was Renate Bühn „kollektives Justizversagen“ nennt. Bei 12.000 angezeigten Fällen von sexualisierter Gewalt werden pro Jahr die Ermittlungen eingestellt, das sind 60 bis 80 Prozent der Fälle. Kein Wunder, die Verfahren sind langwierig und für die Opfer oft traumatisierend, es fehlt an geschulten Gutachtern und Richtern, an kompetenter Beratung – sehr viele wissen nicht einmal, dass sie einen gesetzlichen Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung haben, weil es ihnen keiner sagt.

Auch Bühns künstlerische Arbeit kreist um die sexualisierte Gewalt, die sie als Kind durch ihren Vater erleben musste. „Noch immer immer noch“ heißt der Zyklus aus Texten und Installationen. „Noch immer erstickt das vierjährige Mädchen am Schwanz des Vaters“, steht da auf vielen aufgereihten kleinen Kalendern. Die Jahreszahl und das Alter des Mädchens ändern sich, der Text bleibt gleich. Auf dem Gelände der Berliner Stadtmission, wo der Betroffenenkongress stattfindet, wird Renate Bühn per Lichtinstallation das Wort „Geheimnis“ aufleuchten lassen. Als Symbol für das, was Täter und Opfer zusammenhält – und von der Gesellschaft nur schwer durchbrochen werden kann.

Reden hilft, findet Bühn. Sichtbar werden, aufstehen, Zeugnis ablegen. Aber dafür braucht es auch andere, die zuhören und handeln. Es müsse endlich dem Ausmaß von sexualisierter Gewalt entsprechend investiert werden in Hilfe für Betroffene, in Aufarbeitung, Qualifizierung und Prävention, sagt sie.

„Wir sprechen mit unseren Kindern über die Gefahren im Straßenverkehr und über Krank-heiten, nur über die Gefahr von Missbrauch nicht“

Sonja Howard

Mathias Katsch hat schon sehr viel geredet, der 55-Jährige gehört quasi zu den Veteranen der Betroffenenbewegung. Zusammen mit anderen Gewaltopfern am katholischen Berliner Canisius-Kolleg gründete er 2010 die Betroffenenorganisation Eckiger Tisch. Zusammen übten sie Druck auf die katholische Kirche aus, wehrten sich dagegen, als Einzelfälle zu den Akten gelegt zu werden. Katsch wird gern in Fernsehsendungen und auf Podien eingeladen. Er ist als Berater beruflich erfolgreich, eloquent – eine Widerlegung des Klischees vom Opfer mit lebenslangem Knacks.

Sie hätten einiges erreicht, sagt er. Einer der größten Erfolge ist für ihn die Verlängerung der Verjährungsfristen für sexuelle Gewaltdelikte; ein kleiner Erfolg, dass die katholische Kirche einen Missbrauchsbeauftragen installiert hat. Am wichtigsten findet Katsch aber, dass Politiker Menschen wie ihnen zuhörten: „Das gibt mir das Gefühl, dass meine Erfahrungen für etwas gut sind.“ Katsch will aber mehr: „In angelsächsischen Ländern gibt es Kommissionen, die gut ausgestattet und schlagkräftig sind, während man hier noch mit Ehrenamtlichen operiert.“

Katsch setzt sich beim Betroffenenrat ein für Schutzkonzepte, die Missbrauch in Institutionen erschweren sollen. Und er bleibt dran an seiner Geschichte: In der Broschüre zum Kongress kann man nachlesen, wie er auf den Spuren „seines“ Täters nach Chile und Peru reiste. Dort hatte sich der Priester ganz neue Jagdgründe gesucht: Als Jugendpfarrer in Lateinamerika vergriff er sich an Mädchen aus Armenvierteln. Trotz aller aktivistischen Erfolge habe sich die Strategie der Kirche nicht geändert, resümiert der ehemalige Jesuitenschüler: „Es wird weiterhin nur zugegeben, was bewiesen werden kann, und nur geahndet, wenn es sein muss.“

Mit seiner Aufarbeitung ist Mathias Katsch noch lange nicht durch – auch politisch will er weitermachen. Beim Kongress in Berlin organisiert er einen Austausch mit Betroffenen aus Chile, Jamaika, Polen und Italien. Das Thema: Aufarbeitung sexueller Gewalt in der katholischen Kirche.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen