Kolumne German Angst: Wir dürfen nicht schweigen
Ungleiche Privilegien, Faschismus überall, Massensterben im Meer – es verschlägt einem die Sprache. Genau das können wir uns aber nicht leisten.
Z um ersten Mal, seit ich diese Kolumne schreibe, fehlen mir die Worte. Wie soll man schreiben über etwas, das viel monströser ist, als Worte es fassen können: das Massensterben im Mittelmeer, die Ungleichheit von Ressourcen und Privilegien, faschistische Tendenzen überall.
Und in Deutschland? Von neuen Nazis aufgesetzte Feindeslisten mit tausenden Namen, Anfragen zur Registrierung von Sinti und Roma im Parlament, „Absaufen, absaufen!“-Chöre auf den Straßen – und die Helfer des NSU werden mit einem beschämenden Nichts an „Strafe“ rehabilitiert.
Das alles ist so beschämend. Was ist noch zu sagen, wenn es nun radikal bis anstößig ist, auf das Grundgesetz zu verweisen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich nicht gedacht, dass dies einmal mein Maß sein könnte: der Erhalt des Status quo. Wer hätte gedacht, dass Linke einmal MinisterInnen an ihr Commitment erinnern. So etwas wie: Menschen an der Grenze abweisen ohne Prüfung auf das Recht auf Asyl – illegal; oder: Nichtdeutsche abschieben wollen, weil sich nicht deutsch sind – illegal.
Die Festung Europa ist keine Metapher mehr. Europa ist eine Festung. Alles muss reingehalten und eingehegt werden, mit Mauern und Zäunen. Zur dieser brutalen Verkleinerung der Welt gehört die brutalere Erweiterung des Vorstellbaren, um das Eigene zu schützen – und koste es das Leben Zehntausender.
Eine Armee der Habenichtse
Und da ist er wieder, jener immer bedrohte, fragile faschistoide Volkskörper. Die Fluten und Ströme, die heute Nation und männliche Identität gefährden, heißen Einwanderungsflut und Migrationsstrom, Invasion der Flüchtlinge und, imaginiert als eine Armee der Habenichtse: Soldaten ohne Uniform. Zuerst nehmen sie die Grenzen, dann unsere Smartphones, ALG II, Jobs, unsere Frauen. – Und was bitte bleibt für die Deutschen? German Angst überall.
Feinde, Täter und Eindringlinge in Massen: vor Europa, in Europa. In der Schule. In der Regierung. Da hilft nur ein Theweleit’scher Kollektivpanzer. Eine Festung Nationalstaat. Nur: Die Geschichte der Migration kann genauso wenig rückgängig gemacht werden wie die der Einwanderung nach Deutschland.
Die Radikalisierung im Sinne des Einteilens der Menschen, deren Recht auf Leben man schützt, und jenen, deren Rechte und Leben nichts mehr wert sind sobald sie sich in Bewegung gesetzt haben, der Rückzug in das eigene Fort, indes hat längst die politische Mitte erreicht.
Und was nützt da ein Verfassungsschutzbericht, der einen wichtigen Teil des rechten Extremismus außen vor lässt? Nämlich den Extremismus der Mitte. Den der Straße, der Parlamente, der Worte. Dafür steht symptomatisch, dass sich die Rechte so gern zu Unrecht „in die rechte Ecke gestellt“ fühlt, ist für sie doch die Mitte längst dort, wo sie selbst sind. Und leider stimmt genau das seit einiger Zeit. Wort- und Handlungslosigkeit kann man sich da nicht mehr leisten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht