Porträt Muharrem Ince: Links, laut, leutselig
Dank Muharrem Ince glaubt die CHP wieder an den Erfolg. Er verkörpert einen Siegeswillen, der seine Partei aus der Lethargie wachgerüttelt hat.
Muharrem Ince ist das Gegenteil des Parteivorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu ist eher ein Mann der leisen Töne, seine Anhänger nennen ihn den „Gandhi der Türkei“, aber bei Wahlen konnte Kılıçdaroğlu gegen Recep Tayyip Erdoğan auch in acht Anläufen nicht gewinnen. Deshalb hat er nun Ince den Vortritt gelassen. Ince will sich mit dem zweiten Platz nicht zufriedengeben. Er wettert gegen die Status-quo-Denker innerhalb der CHP, das Beamtentum in der Partei, das noch 2014 dazu geführt hatte, dass er als Kandidat für den Parteivorsitz gegen Kılıçdaroğlu knapp unterlag.
Anders als sein Parteivorsitzender verkörpert der 1965 geborene Ince einen unbedingten Siegeswillen, der auch seine Partei aus der Lethargie wachgerüttelt hat. Plötzlich haben sie alle das Gefühl, es geht was. Zählt man die Stimmen von Ince und der anderen aussichtsreichen Präsidentschaftskandidatin, Meral Akşener, zusammen, was in einem zweiten Wahlgang der Fall sein könnte, kann Ince Erdoğan tatsächlich schlagen.
Ince ist Lehrer und war zuletzt, bevor er 2002 ins Parlament gewählt wurde, Rektor seiner Schule in Yalova, einer Stadt auf der Südseite des Marmarameeres, Istanbul gegenüber. Muharrem Ince gilt als linker Kemalist, ein Mann in der Tradition Atatürks, aber für Veränderungen offen. Das gilt vor allem in der Kurdenfrage.
Ince hat den HDP-Kandidaten Selahattin Demirtaş im Gefängnis besucht und seine Freilassung gefordert. Anders als viele andere CHP-Leute, die sich oftmals damit zufriedengeben, in Istanbul, Izmir und Ankara präsent zu sein, geht Ince in die Provinz, auch in die kurdische. Da die von Erdoğan gelenkten TV-Sender ihn boykottieren, muss er unentwegt selbst auf die Leute zugehen. Das liegt ihm, er ist ein Mann zum Anfassen, der keine Scheu vor der Menge hat.
Ob er wirklich eine Chance gegen Erdoğan hat, hängt zum einen davon ab, wie groß der Verdruss der Wähler über den amtierenden Präsidenten wirklich ist. Und ob die Menschen ihm zutrauen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Renten zu sichern. Persönlich wirkt er glaubwürdig und integer, kommt aus kleinen Verhältnissen und lebt auch nach 16 Jahren im Parlament noch so. Den protzigen Präsidentenpalast Erdoğans will er im Falle eines Wahlsieges nicht beziehen. Daraus, schlägt er vor, machen wir eine Bildungseinrichtung.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen