Nach Rechtsabbieger-Unfall in Hamburg: Lebensretter in der Warteschlange
Computer-Assistenzsysteme könnten Abbiegeunfälle von Lkw verhindern. Niemand ist gegen ihre Einführung, doch die Hersteller zögern noch.
„2017 kamen nach unseren Recherchen 38 Radfahrende bundesweit so ums Leben“, weiß der Hamburger Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs, Dirk Lau. Die Bundesanstalt für Straßenwesen registriert Jahr für Jahr rund 600 Unfälle, bei denen RadfahrerInnen von einem abbiegenden Laster verletzt oder getötet werden.
Viele dieser Unfälle hätte verhindert werden können – mit der entsprechenden technischen Ausrüstung. Längst gibt es elektronische Abbiege-Assistenz-Systeme, die andere Verkehrsteilnehmer im Umfeld des Lkw registrieren, den Fahrer warnen und das Fahrzeug selbstständig zum Stehen bringen können. 40 bis 60 Prozent aller Abbiege-Unfälle, so glauben Experten, ließen sich durch diesen Frühwarn-Radar verhindern.
Das Problem aber ist: Fast niemand stellt diese lebensrettenden Systeme her und fast niemand baut sie ein. Bislang hat nur Mercedes diese Technik zur Serienreife entwickelt – allerdings ohne automatische Abbremsung und nicht für seine gesamte Lkw-Flotte. Nachrüstsysteme für Altfahrzeuge sind noch gar nicht auf dem Markt. „Wir wollen diese sinnvolle Technologie, aber die meisten Hersteller bieten sie einfach noch nicht an“, klagt der Geschäftsführer des Verbands Straßenverkehr und Logistik Hamburg, Frank Wylezol.
Gäbe es diese Systeme würden fast alle Spediteure in ihre Anschaffung investieren wollen, ist Wylezol sicher. Die Branche rechnet damit, dass viele Hersteller auf der Internationalen Automobil-Ausstellung, die im September in Hannover stattfindet, nun neue Assistenzsysteme anbieten – die Zeit dafür sei reif.
2017 starben in Hamburg drei RadlerInnen durch Unfälle. In diesem Jahr sind es schon zwei. Immer wieder gab es schwere Unfälle durch abbiegende Lkw:
Am 23.3.2017 überfuhr ein Laster an der Kreuzung Juliusstraße /Stresemannstraße eine 59-jährige Radlerin. Sie überlebte schwer verletzt.
Am 11.10.2016 übersah ein von der Wandsbeker Chaussee in die Ritterstraße einbiegender Lkw eine 19-jährige Radlerin. Die Frau verstarb noch am Unfallort.
Am 20.6.2016 erwischte es einen 43-jährigen Radler. Der Lkw-Fahrer übersah ihn beim Abbiegen von der Kieler Straße in den Wördemanns Weg. Der Radler verlor ein Bein.
Bis dahin aber behelfen sich fast alle Speditionssysteme mit einem komplizierten System von sechs Außenspiegeln. Doch diese sind oft falsch eingestellt, so dass es immer noch einen toten und damit oft tödlichen Winkel gibt. Zudem erfordert die Spiegelvielfalt einen durchgehend hoch konzentrierten, aufmerksamen Fahrer, der niemals einen Fehler macht.
Die politischen Initiativen, die elektronischen Abbiegehilfen an den Start zu bringen, füllen inzwischen viele Seiten bedrucktes Papier. Im Koalitionsvertrag kündigte die Berliner Große Koalition an, sie werde „nicht abschaltbare Notbremssysteme oder Abbiegeassistenten für Lkw und Busse verbindlich vorschreiben“.
Im März brachten die Grünen einen Antrag in den Bundestag ein, die Bundesregierung möge darauf hinwirken, dass Abbiegeassistenzsysteme EU-weit bei Neufahrzeugen verpflichtend vorgeschrieben und bei Bestandfahrzeugen ebenso verpflichtend nachgerüstet werden. Der Antrag dreht nun eine Warteschleife in den zuständigen Fachausschüssen, in die er überwiesen wurde.
Dieses Schicksal teilt auch ein Bundesratsantrag, den fünf Bundesländer, darunter Bremen, Ende April in die Länderkammer einbrachten. Er fordert ebenfalls die Pflicht von Abbiegeassistenten bei Lastwagen.
Auch Hamburg unterstützt diesen Antrag inhaltlich, auch wenn die Stadt nicht zu den Erstunterzeichnern gehört und noch Details am Text gerne ändern würde. Schon im März vergangenen Jahres verpflichtete die rot-grüne Bürgerschaftsmehrheit den Hamburger Senat darauf, auf Bundesebene aktiv zu werden, die Abbiege-Assistenz zumindest bei neu zugelassenen Lkw zur Pflicht zu machen. Doch dafür müssen sie erst einmal von der Lkw-Industrie angeboten werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video