Studien zu rechter Diskursmacht: Wir blicken in einen Zerrspiegel
Rechte Trolle haben das Internet verstanden und treiben mit koordinierten Kampagnen Medien und Politik vor sich her. Was tun?
In dieser Woche ist an mehreren Beispielen klar geworden, wie rechte User*innen strategisch Online-Debatten manipulieren. WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung veröffentlichten am Dienstag eine Recherche über ein neurechtes Netzwerk namens „Reconquista Germanica“, das unmittelbar vor der Bundestagswahl zu gezielten Aktionen in sozialen Netzwerken aufgerufen hat.
Die nationalistischen Medienaktivist*innen verabredeten sich zu sogenannten Raids. Koordinierte Aktionen, bei denen sie Wahlkampfvideos oder Ausschnitte des „Kanzlerduells“ immer wieder mit neurechten Slogans kommentierten – und Kommentare immer wieder teilten.
Die Algorithmen vieler sozialer Medien neigen dazu, Beiträge mit vielen „Interaktionen“ – also Likes, Antworten, Weiterleitungen – prominenter zu platzieren. Die rechten Trolle machen sich dieses Prinzip zunutze, um möglichst sichtbar zu sein und so den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine große Bewegung.
Während das Gegenteil der Fall ist – womit wir zur zweiten Nachricht kommen: Der IT-Spezialist Philip Kreißel hat analysiert, wie Hasspostings in den Kommentarspalten der großen deutschen Medien zustande kommen. Konkret, wie viele Accounts es braucht, um gewaltige Mengen an Hasspostings zu generieren. Das Ergebnis: Eine winzige Minderheit – ein Prozent der Profile – sorgt auf beliebten Nachrichtenseiten wie bild.de, focus.de oder tagesschau.de für ein Viertel aller Likes auf Hasspostings. Die Expert*innen glauben nicht daran, dass hier zufällig ein paar Neurechte viel Zeit und Lust zum Hass haben – sondern dass sie strategisch vorgehen.
Die Kunst, recht zu behalten
Diese Strategien sind online einsehbar: Das „Handbuch für Medienguerilla“ ist eine Anleitung zum neurechten Netzaktivismus, das seit etwa einem Jahr in entsprechenden Kreisen die Runde macht, auch bei „Reconquista Germanica“. Das Dokument fasst auf unter zehn Seiten den Werkzeugkasten der Onlinebewegung zusammen: Hilfestellung zur Zielauswahl, Tipps zu Zweit- und Drittaccounts und zum Angriff – auf Menschen, die dagegenhalten. „Du willst bei Diskussionen im Internet nicht Deinen Gegner überzeugen“, heißt es da. „Und es geht hier nicht darum, wer Recht hat, sondern wer vom Publikum Recht erhält.“
Es folgt ein Hinweis auf die eristische Dialektik Schopenhauers – die Kunst, recht zu behalten, ohne recht zu haben. Das Handbuch inszeniert den Diskurs als einen Kampf um die Köpfe und benennt seine Strategien wie Manöver: „memetisches Sperrfeuer“, „Ruf zu den Waffen“ und eben der „Raid“, den „Reconquista“ vor der Wahl eingesetzt hat.
Das Ganze hat Erfolg: Oft sind Kommentarspalten, etwa unter tagesschau.de-Artikeln kaum noch zu gebrauchen, da sich dort Hetze an Hetze reiht. Dasselbe gilt für Twitter-Debatten unter den Hashtags der großen Polit-Talkshows. Dafür braucht es keine russischen Trollfabriken – auch wenn diese natürlich ihren Teil beitragen.
Einige würden an dieser Stelle vielleicht mit den Schultern zucken und sagen, dass sich die paar Rechten in ihren Online-Nischen doch bitte austoben sollen. Das Problem ist aber, dass Social-Media immer öfter als Abbild der Gesellschaft wahrgenommen wird. Vielen gelten Netzdebatten als „real“. Auch Journalist*innen checken Twitter- und Facebook-Diskussionen, um sich für ihre Themensetzung inspirieren zu lassen. Postings werden direkt in Artikel eingebunden – oder sogar in TV-Beiträge – an der Stelle, an der früher die Fußgängerzonen-Umfrage stand. Oder aber die sozialen Medien werden direkt zum nachrichtlichen Ereignis – der „Shitstorm“ gegen eine Politikerin, die „heftige Kritik in den sozialen Medien“. Nicht nur die AfD und Donald Trump können solche medialen Ereignisse gezielt herbeiführen. Das Ergebnis: Wir blicken in einen Zerrspiegel. Die rechten Diskurse sind selbstverständlich da – aber wie groß sind sie wirklich?
Natürlich kann nicht jeder journalistische Artikel einen ganzen Rattenschwanz von Einordnungen enthalten: „Shitstorm gegen Merkel – wobei, na ja, wer weiß, ob nicht genau die Rechten wollen, dass wir das hier schreiben.“ Aber: Das Netz hat nichts mehr mit der Utopie vom Marktplatz des freien Austauschs zu tun – sofern es das jemals hatte. Es ist ein Ort der Kampagnen.
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