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„Viele wissen nicht, was es heißt, im Osten gelebt zu haben“

Helmut Holter ist der erste linke Präsident der Kultusministerkonferenz – und will mehr Schüleraustausch zwischen West- und Ostdeutschland. Der Thüringer erklärt, was er mit der Idee bezweckt. Und warum es mehr Demokratiebildung in den Schulen braucht

„Man muss vermitteln, wie das Leben in der DDR aussah.“ Helmut Holter plädiert für mehr Demokratiebildung in den Schulen Foto: Hans Peter Stiebing

Interview Ralf Pauli

taz: Herr Holter, Sie haben mit Ihrem Vorschlag, wieder mehr Schüleraustausch zwischen Ost- und Westdeutschland zu machen, für einige Furore gesorgt. Überraschen Sie die Reaktionen?

Helmut Holter: Die Vielzahl der Reaktionen hat mich tatsächlich überrascht. Neben pauschaler Zustimmung und pauschaler Ablehnung gab es erfreulicherweise viele differenzierte Debatten. Alleine die Intensität, mit der diese Frage diskutiert wird, zeigt, dass das Thema die Menschen bewegt.

Was wollen Sie mit Ihrem Vorschlag bezwecken?

Ich habe in meiner Zeit in Mecklenburg-Vorpommern erlebt, dass Jugendliche aus Ost und West kaum miteinander reden, weil sie so selten zusammenkommen. Unsere Geschichte ist aber so unteilbar wie unsere Zukunft. Deshalb braucht es mehr Austausch, gerade an der innerdeutschen Grenze.

Soll heißen?

In Westdeutschland wissen viele Jugendliche doch gar nicht, was es heißt, im Osten gelebt zu haben. Es reicht halt nicht aus, nur das politische System zu erklären. Man muss auch vermitteln, wie das Leben in der DDR aussah. Dass es dort bestimmte Freiheiten nicht gab, dass es dennoch zu einer friedlichen Revolution kam. Und umgekehrt müssen ostdeutsche Schüler auch lernen: Warum gibt es im Westen bestimmte Verhaltensmuster. Etwa, dass man gewisse Probleme als „Ostprobleme“ abtut. Als ob es im Westen nicht genauso verrohte Sprache und enthemmte Gewalt gäbe.

Die Idee mit dem Schüleraustausch gehört zu Ihrem Schwerpunktthema, das Sie sich für Ihre gerade begonnene Amtszeit als Vorsitzender der Kultusministerkonferenz (KMK) erkoren haben: Demokratiebildung. Warum dieses Thema?

Ich habe das Thema gewählt, weil uns 2019 drei wichtige Jubiläen bevorstehen: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Dann feiern wir am 23. Mai 2019 70 Jahre Grundgesetz und schließlich 30 Jahre friedliche Revolution – die Wende – in der DDR.

Warum sind diese Daten für heutige SchülerInnen wichtig?

Nehmen Sie das Beispiel der Weimarer Republik. Irgendwann gab es dort keine Demokraten mehr, die die Demokratie verteidigten. Schüler müssen verstehen, dass demokratische Freiheitsrechte nicht selbstverständlich sind. Dass sie immer wieder verinnerlicht und verteidigt werden müssen. Das sehe ich in meinem Bundesland Thüringen. 70 Prozent der Schüler sind zwar klar für Demokratie. Bei der Juniorwahl aber, die pa­rallel zur Bundestagswahl an vielen Schulen im Land abgehalten wurde, haben viele AfD gewählt. Da frage ich mich: Wie passt das zusammen? Es geht mir nicht darum, gleich ein neues Fach „Demokratie“ einzuführen. Aber Schüler sollen sich stärker mit dem Thema Demokratie beschäftigen.

In Sachsen hat das Kultusministerium kürzlich ein neues Demokratiemodul für Schulen aufgelegt, weil im Unterricht wenig und spät über Rechtsstaat und Zivilgesellschaft geredet wird. Ist das auch Ihre Erfahrung in Thüringen?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin ja erst seit fünf Monaten Thüringer Bildungsminister. Aber jedenfalls ist während meiner Amtszeit die Landesschülervertretung auf mich zugekommen und hat sich gewünscht, dass an den Schulen mehr über die DDR-Geschichte unterrichtet wird. Das haben wir den Schülern in einer gemeinsamen Vereinbarung auch zugesichert. Das hat mich schon beeindruckt, dass Schüler sich das von sich aus wünschen.

In Berlin hat eine Staatssekretärin einen verpflichtenden KZ-Besuch gefordert, um SchülerInnen für Antisemitismus zu sensibilisieren. Könnte ein landesweiter Pflichtbesuch einer Stasi-Gedenkstätte helfen, die ostdeutsche Geschichte im Westen präsenter zu machen?

Natürlich. Wobei ich eine Verpflichtung nicht für sinnvoll erachte, weder bei einer KZ- noch bei einer Stasi-Gedenkstätte. Das hat auch mit den Indoktrinationserfahrungen in der DDR zu tun. Ich setze da auf Freiwilligkeit. Ein guter Weg, Jugendliche für das Thema zu interessieren, sind beispielsweise Zeitzeugengespräche. Ich glaube nicht, dass man das heute leicht erklären kann, wie der Unterricht in einer ideologisierten Schule in der DDR ausgesehen hat, wie wir als Kinder und Jugendliche das aufgenommen haben. Es ist wichtig zu vermitteln: Wir waren damals im Denken nicht frei. Damals war die Chancengleichheit aus politischen Gründen eingeschränkt, heute ist sie aus sozialen Gründen eingeschränkt.

Union und SPD haben sich in ihren Sondierungen für eine neue Bundesregierung jüngst diesem Problem gewidmet – und einiges vereinbart: einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschul­alter, mehr Bafög und kostenfreie Kitas im ganzen Land. Als linker Bildungsminister müssten Sie sich über die Ergebnisse freuen, oder?

Wenn diese Vorschläge auch mit der nötigen finanziellen Unterstützung einhergehen, sind sie zu begrüßen. Aber noch ist davon nichts entschieden, die Vorschläge sind Ergebnisse einer Sondierung. Jetzt müssen wir abwarten, ob es überhaupt zu einer Großen Koalition kommt. Und wenn ja, möchte ich wissen, was diese Vorschläge konkret bedeuten. Wer realisiert denn das Recht auf Ganztagsschulbetreuung? Übernimmt der Bund auch die Kosten? Oder sagt er nur: Ich garantiere das Recht – aber, liebe Länder, macht mal. Das ist ja alles nicht aus dem Sondierungspapier abzulesen.

Die geplante Abschaffung des Kooperationsverbots hingegen ist recht eindeutig.

reuters

Helmut Holter, 64 Jahre, ist seit August 2017 Bildungsminister in Thüringen – und seit einer Woche Vorsitzender der Kultusministerkonferenz, des Zusammenschlusses aller Bildungsorgane der Länder. Zuvor war der Bauingenieur Linken-Fraktionschef in Mecklenburg-Vorpommern.

Zunächst mal ist es eine Lockerung des Kooperations­verbots. Kultus bleibt weiterhin Hoheit der Länder. Das steht ja klar in dem Sondierungspapier. Aber es stimmt, dass der Bund künftig mehr Verantwortung für Bildung übernimmt, und das ist gut so. Jetzt müssen wir sehen, was daraus wird: ein neuer ­Bildungsstaatsvertrag oder, wie der Thüringer Ministerpräsident vorschlägt, eine neue Gemeinschaftsaufgabe im Grundgesetz. Die Situation in den Ländern ist so prekär, dass die neue Bundesregierung schnell ihre Versprechen umsetzen muss, sei es beim Digitalpakt, der Schulsanierung oder den Versprechen aus dem Sondierungs­paket. Wenn es zur Groko kommt, müssen Bund und Länder zügig über die Umsetzung sprechen.

Ihre Vorgängerin an der Spitze der KMK, die baden-württembergische Bildungsministerin Susanne Eisenmann, hat sich in der taz sehr kritisch gegenüber Vorgaben aus Berlin geäußert. Sind Sie da offener?

Ich denke, wie müssen so oder so über einheitliche Standards reden. Gucken Sie beispielsweise auf die unterschiedliche Besoldung von Lehrkräften. Ein A13-Beamter in Thüringen verdient nicht so viel wie ein A13-Beamter in Bayern. Da sind mindestens 300 Euro Unterschied. Ein anderes Beispiel ist die schlechte Vergleichbarkeit der Abiturnoten. Ich sehe es schon als Fortschritt, dass wir seit einem Jahr den gemeinsamen Aufgabenpool haben. Und dennoch kann es nur der erste Schritt gewesen sein. Wir brauchen klar einheitliche Standards, um höhere Vergleichbarkeit herzustellen.

Ein paar gemeinsame Abiaufgaben machen noch kein vergleichbares Abitur. Dazu müssten Sie doch auch die Lehrpläne vereinheitlichen.

Ich hoffe, dass ich unter meiner Amtszeit eine Debatte darüber anstoßen kann, um auch die Lehrpläne stärker zu vereinheitlichen. Als linker Präsident bin ich ja nicht in einer möglichen GroKo-Regierung gefangen. Ich könnte in der KMK als Moderator zwischen SPD und CDU auftreten. Als Präsident gebe ich ja den anderen Kultusministern keine Anweisungen. Aber über einheitliche Lehrpläne sollten wir reden.

Sie sind der erste linke Politiker im Amt des KMK-Präsidenten. Was wird das Linke Ihrer Amtszeit sein?

Ich weiß nicht, ob es „das Linke“ gibt. Mein Spruch ist: Das Beste für die Kinder ist nur gut genug. Das hat was mit Chancengleichheit zu tun. Wenn es mir als KMK-Präsident gelingt, einen größeren Konsens zwischen den SPD- und unionsgeführten Ländern herzustellen als in der Vergangenheit, sind wir schon einen ganzen Schritt weiter.

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