Wahlzettel-Abfotografierer kriegen Ärger: Verknackt sie!
Sie fotografieren ihren Wahlzettel und tun so, als wären sie die krassesten Gestalten im Internet. Nun hagelt es Strafanzeigen. Recht so.
Ich weiß schon ganz genau, wie das nun wieder ausgeht: Erst kann man noch 42 Artikel über diese 42 Strafanzeigen lesen. Dann gibt es 42 Meinungen dazu. Dann werden alle 42 Ermittlungsverfahren wieder eingestellt. Alles doch nicht so wichtig, alles halb so wild.
Das lässt sich abkürzen, hier ist die echte Meinung. Dies ist zu tun: Verknackt sie alle.
Der Bundeswahlleiter hat 42 Strafanzeigen gestellt gegen 42 Personen, die im Zuge der Bundestagswahl ihre eigenen Wahlzettel fotografiert und ins Internet gestellt haben sollen. Das berichtet die Welt in diesem Text und nennt auch Hintergründe: „Wer einer dem Schutz des Wahlgeheimnisses dienenden Vorschrift in der Absicht zuwiderhandelt, sich oder einem anderen Kenntnis davon zu verschaffen, wie jemand gewählt hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
So steht es im Paragraf 107c des Strafgesetzbuches, in dem es um die „Verletzung des Wahlgeheimnisses“ geht und danach – Achtung! – droht bei der Verbreitung eines abfotografierten Stimmzettels gar eine Gefängnisstrafe.
Moralische Brachialästhetik der Belehrenden
Nun heulen also alle so vermeintlich Libertären wieder doppelt laut auf: Ja, was soll das denn, werden sie fragen. Darf man denn noch nichtmal mehr zeigen, was man wählt? Ein klitzekleines Foto? Vom eigenen Wahlzettel? Wo ist das Problem?
Ihr seid das Problem!
Ihr wollt keine Geheimnisse ertragen. Das ist schade, denn es macht Euch schwach. Und um offen zu sein: Es ist ja gar nicht nötig, dies politisch zu diskutieren, solange es schon rein ästhetisch durchfällt.
Nichts ist verzichtbarer als die moralische Brachialästhetik der Belehrenden, die meinen, sie müssten noch jedem anderen auf der Welt beweisen, wo sie ihr Kreuz auf einem Wahlzettel gesetzt haben, der nicht mal ihnen gehört. Als sei der Wahlzettel eine Pepsi-Cola, die zum Verkauf stünde; als sei die Wahlkabine Youtube; als müsse jeder Honk zum Influencer werden, so als müsse, um es etwas komplizierter auszudrücken, im deliberativen Prozess des Demokratischen auch noch die Wahlurne zum Produktversprechen werden. Was für ein trauriger Gestus patriotischer Überlegenheit. Was für Rebellentum geistiger Demokraten.
Take this, Habermas! We kill your idols with some selfies!
Sippenwahl für Anfänger
Es ließen sich nun Zerrbilder entwerfen, in denen Nacktmodelle sich in lasziver Pose und nur mit String-Tanga bekleidet über einen Wahlschein beugen, um dort recht kurvenreich ihren Wahlakt zu dokumentieren. Man stelle sich das nur einmal vor: Pornoimage, mit einem Kreuzchen bei der CDU! Und siehe da – genau so lief es wirklich: Das Berliner Nacktmodell Micaela Schäfer zeigte sich am 20. September, also vier Tage vor der Wahl, genau in dieser Art, offenbar um ihre Dudes zur Wahl zu rufen.
Auch im grünen oder linken Lager gibt es ja diese Pose der Belehrer. Sie kommt gewöhnlich mit etwas weniger Nacktheit daher, aber ihre Botschaft ist klar: Schaut mich an! Schaut auf meine Partei! Ich bin Euer Influencer.
Nein, bist Du nicht.
Die Sippenhaft war, in der deutschen Geschichte und im heutigen Nordkorea, schon immer eine schlechte Sache. Die Sippenwahl ist nichts Besseres.
Die Schönheit von Geheimnissen
Wenn Ihr, Brüder und Schwestern, uns unbedingt zeigen wollt, wen ihr gewählt habt, dann sagt es uns und tragt es sonst vor Gott. Wir wollen Eure Fotos nicht sehen.
Es ist schön, Geheimnisse zu haben. Es ist richtig, wenn es jemanden gibt, der darauf achtet, dass wir alle ein Geheimnis haben sollen. In diesem Fall ist dies der Bundeswahlleiter. Es hört sich bürokratisch an, doch eigentlich ist es Poesie: Er ist unser Geheimnisversteher.
Micaela Schäfer will uns nur bequatschen. Das ist nicht gut. Verknackt sie redlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“