: Die Mittlerin
„Ich bin gerne Lehrerin“, sagt Marta Huhnholt mit Überzeugung. Sie unterrichtet unbegleitete jugendliche Flüchtlinge in Bremen
von Gabriele Goettle
Marta Huhnholt, Lehrerin. Geboren und aufgewachsen in Ostróda (Osterode), Polen. Nach dem Abitur an einem altsprachlichen Gymnasium (1994) studierte sie an der Nikolaus–Kopernikus-Universität zu Toruń (Thorn). Abbruch des Studiums und Aufenthalt in Deutschland (Bremen- Schwachhausen) als Au Pair für ein Jahr, mit der Absicht, danach in Bremen ein Studium aufzunehmen und in Deutschland zu bleiben. Sie lernt Deutsch, es folgt die Anerkennung ihres Abiturs in Deutschland. Sie absolviert die Aufnahmeprüfung an der Universität Bremen (Nachweis der deutschen Sprachkenntnisse), erhält einen Studienplatz. Herbst 1995: Aufnahme des Studiums, Spanisch und Deutsch als Fremdsprache (auf Lehramt). Im zweiten Studienjahr Wechsel zu Romanischer Philologie. Romanistik als Hauptfach, Kunst und Geschichte als Nebenfächer. 2001 geht sie als Austauschstudentin für sechs Monate nach Palermo. Neben dem Studium unterrichtete sie als Dozentin Italienisch an der Volkshochschule in Rotenburg/Wümme. 2002 erstes Kind. 2003 Abschluss des Studiums. Arbeitserlaubnis. In Folge des neuen Zuwanderergesetzes 2004 gab es einen Bedarf an Deutschlehrern, Anfang 2005 unterrichtet sie an der Volkshochschule auch Deutsch (Integrationskurs). Gründet mit einer Gruppe von Eltern eine freie Schule in Verden (ist im Vorstand). Sie beschließt, Lehrerin zu werden. 2009 beginnt sie ein Lehramtsstudium und absolviert es zügig. 2013 Geburt des zweiten Kindes, 2014 Kolloquium, Bachelor und Master. Von 2015 an Referendariat in Bremen. Geburt des dritten Kindes im Jahr 2016. Danach übernimmt sie an der Wilhelm Olbers-Schule in Bremen die Neugründung eines Projektes zur zweijährigen Vorbereitung von jungen Flüchtlingen (mit entsprechender Vorbildung) auf die Oberstufe. Marta Huhnholt ist 1975 geboren, ihr Vater war Automechaniker, die Mutter war eine höhere Verwaltungsangestellte beim städtischen Elektrizitätswerk. Huhnholt lebt auf dem Land, sie ist in zweiter Ehe verheiratet und hat drei Kinder.
Während eines Berlinbesuches mit ihrer Klasse treffen wir Marta Huhnolt zum Gespräch. Sie erzählt von der „medienpolitischen Reise durch das literarische Berlin“, die sie derzeit mit ihren Schülern macht. Und sie erzählt vom Aufbau und von den Fortschritten ihrer pädagogischen Arbeit mit diesen Schülern – jungen Flüchtlingen – , die sie in an der Bremer Wilhelm-Olbers-Schule unterrichtet
„Ich habe mit vier Schülern angefangen und musste ein Curriculum schreiben, das hatten wir ja logischerweise nicht. Und dann kamen nach und nach die übrigen Schüler. Die senatorische Behörde hat den Vorklassen 25 Unterrichtsstunden zugesagt und über die verfügen wir. Und das ist kein päpstliches, sondern ein reelles ‚wir‘. Die Schule gibt zwar keine Lehrer für zusätzliche Stunden frei, erlaubt und befürwortet aber Doppelbesetzung, wenn möglich. Für Deutsch ist es auf jeden Fall notwendig, weil die sprachlichen Voraussetzungen der Schüler doch sehr heterogen sind. Alle Deutschstunden haben wir doppelt besetzt. Hervorragend! Es wird in zwei Gruppen gearbeitet. Aber es gibt ganz viele Schnittstellen und gemeinsame Projekte. Wir sind ein gutes Team. Helfen uns auch gegenseitig, zum Beispiel, wenn die junge Kollegin mal Unterstützung braucht bei Grammatik, denn Grammatik ist mein Spezialgebiet, ich kann sie so verkaufen, als wäre sie das Schönste der Welt.
Meine Kollegin beginnt gerade ein Referendariat. Sie hat die schwächere Gruppe. Sie macht das wunderbar, die Schüler vertrauen ihr. Ich habe die stärkere Gruppe, die ich explizit auf die Oberstufe vorbereite. Anfangs hat die senatorische Behörde uns die Schüler zugewiesen, inzwischen kommen die Schüler zu uns, hospitieren – und wir entscheiden, ob wir sie nehmen oder auch nicht. Im Zweifelsfalle nehmen wir sie. Aber eine Garantie hat man natürlich nie.
Ich habe schnell gemerkt, dass viele Schüler schüchtern sind, sich isoliert fühlen, und mir wurde klar, wir müssen raus, gemeinsame Aktivitäten entfalten, damit wir lernen, uns als Gruppe zu definieren. Wir haben Ausflugstage organisiert, Beachvolleyball gespielt, wir haben Songtexte für Rap- und HipHop-Stücke geschrieben, es wurde getanzt, es gab öffentliche Auftritte, sodass sie aufatmen konnten und lachen. Sie müssen sich erst mal einigermaßen ‚normal‘ fühlen, sonst können sie nicht lernen. Sie sind ja traumatisiert; manche mehr, manche weniger. Es gab ein Kunstprojekt, ein Container wurde bemalt und mit Graffiti besprüht, die Projekte fielen nur so vom Himmel. Und dann ging es weiter mit ‚Jugend im Parlament‘.
Einer unserer Schüler, Ahmad aus Afghanistan, hat sogar die Bremische Rüstungsindustrie bei dem Projekt ‚Jugend im Parlament‘ thematisiert. Schon davor hatte er sich mit dem Thema befasst, mit Leuten darüber gesprochen, er war sehr irritiert. Dann nutzte er das Forum ‚Jugend im Parlament‘, um seine Kritik an der Rüstungsindustrie und der Waffenpolitik Bremens vorzutragen. Unterstützt von Oberstufenschülern hielt Ahmad in deutscher Sprache eine kritische Rede in der Bremischen Bürgerschaft. Das hat mich als seine Lehrerin sehr stolz gemacht. Es gab darüber auch einen Bericht bei Radio Bremen.“ (Seine Rede ist unter dem folgenden Link zu finden: vimeo.com/184650054. Jugend im Parlament, Aktuelle Stunde „Waffenproduktion in Bremen und Waffentransporte über Bremische Häfen“, 27. 9. 2016, ab ca. Min. 5, Anm. G.G.)
Sie muss auch mal den Chef raushängen lassen
Auf die Frage, ob es denn keine Autoritätsprobleme gibt und wie die Einstellung der Jungs zu Frauen ist, sagt sie: „Mhm … unterschiedlich, eigentlich begegnet man mir mit Toleranz. Aber für manchen war das anfangs nicht so einfach – wir sprechen jetzt immer nur über den Anfang, später ändert sich das Verhalten. Ich bin ja blond, mache einen naiven Eindruck, da haben manche am Anfang schon so einen herrischen Ton gehabt. Den kannte ich schon von der Volkshochschule, wo ich es mit arabischen und kurdischen Männern zu tun hatte, also ausgewachsenen Männern. Das Verhalten ist ähnlich, sie schauen mich von der Seite an, der Ton ist etwas strenger, auch wenn sie kaum Deutsch können. Meist geht es darum, dass sie etwas ihrer Meinung nach Ehrenrühriges tun sollen. ‚Ja, warum soll denn ich den Boden fegen?‘ oder ‚Wieso soll ich denn das Handy wegpacken?‘ Man kann das ja auf verschiedene Arten sagen. Aber so geht es gar nicht. Da muss ich dann den Chef raushängen lassen. Ich sage zum Beispiel: ‚Pass auf, ich habe hier das Sagen und du packst jetzt das Telefon weg. Sofort!‘ Und das unterstreiche ich durch einen strengen Blickkontakt … den halte ich so was von aus! Und sie kriegen das dann hin.“ Sie lacht.
„Irgendwann ist er dann weichgespült und so was von süß und charmant, wie ausgewechselt. Aber es gibt auch politische Konflikte. Wir haben einen Jungen, der kommt aus Albanien und hat eine erstaunliche Weltanschauung … Man kann sie kurz so zusammenfassen: Albanien ist das beste Land überhaupt, Albaner wissen auf allen Gebieten über absolut alles Bescheid. Alles, was nicht albanisch ist, ist schlecht und schlechter. Dieser Junge ist sehr gebildet, mathematisch gut, in Englisch hervorragend, sein Allgemeinwissen ist wirklich gut, aber ansonsten hat er engstirnige Denkweisen. Es ging so weit, dass er ein Mädchen aus Griechenland derartig kränkte, dass sie wirklich fast in Tränen ausbrach. Er sagte immer wieder: ‚Ihr Griechen, ihr pumpt ja immer nur die EU an!‘ Oder er hat seine Mitschüler in Englisch korrigiert, sogar die Englischlehrerin, was ja wirklich nicht geht.
Ich habe mich dann entschlossen, als seine Klassenlehrerin mal sehr ernst mit ihm zu reden. Ich habe herausgefunden, dass er einige Jahre in Italien gelebt hatte. Dann habe ich ihn einfach mal in Italienisch auf den Pott gesetzt. Drei ernste Gespräche und wir hatten ihn! Ich habe ihm gesagt, was sein Job hier ist. Sein Job ist nicht, Lehrer zu sein, sondern Schüler, und als solcher hat er zuzuhören, Vokabeln zu lernen, Grammatik, Hausaufgaben zu machen. Inzwischen geht es ganz gut. Aber jetzt haben wir ganz aktuell und noch nicht gelöst, ein anderes Problem. Besser gesagt, eine Situation: Ich spreche jetzt exklusiv von Jungs aus Syrien, manche sind jesidische Kurden. Und dann gibt es Jungs, die sind nicht kurdisch, nicht jesidisch, sondern muslimisch, auch eines der Mädchen. Wir haben sogar ein syrisches Mädchen, das ist christlich. Ja, Wir haben auch Mädchen, tolle Mädchen.
Also die Religionszugehörigkeit war bis jetzt überhaupt kein Problem, es störte niemanden, interessierte niemanden. Jeder hatte sein Gepflogenheiten und die wurden von allen akzeptiert. Dann kam ein Junge zu uns im Januar. Er ist jesidisch, sehr schlau, sehr ehrgeizig, sehr sympathisch und klug. Aber aufgrund seiner Erlebnisse in Syrien, in Nordsyrien, also in Kurdistan, ist er leidenschaftlich politisiert. Wenn aber politische Konflikte in die Klasse eindringen, wenn es auf einmal Lager gibt und das dazugehörige Lagerdenken, dann geht das nicht, dann endet so etwas nicht gut. Das weiß ich. Ich kenne das bereits aus der Volkshochschule. Wir sind jetzt dabei, mit ihm zu reden, es genau zu beobachten. Noch ist alles nicht so schlimm, aber es verändert sich bereits die Atmosphäre. Er fühlt sich damit zwar auch nicht wohl, macht aber weiter. Möglicherweise ist er so verunsichert, dass er sich nur durch sein starkes Auftreten etwas sicherer fühlt. Aber das geht natürlich nicht und darf keine Entschuldigung sein. Kein Grund, andere zu beleidigen, indem er zum Beispiel sagt: ‚Rührt diesen Apfelsaft nicht an, das gehört uns, das ist eine kurdische Flasche!‘ Oder dass er das Bilden einer kurdischen Ecke betreibt, das geht einfach nicht. Und wenn das zum siebten oder zehnten Mal passiert, dann ist das kein Spaß mehr. Und das ist passiert. Auch jetzt, während der Klassenfahrt! Wo wir doch eigentlich so eng und intensiv zusammen sind.
Da muss ich natürlich einschreiten. Das Traurige aus meiner Sicht ist, wenn man über andere Themen mit ihm spricht, ist er so toll, so souverän und aufmerksam. Er ist hilfsbereit, witzig, freundlich, offen, extrovertiert. Nur wenn es um seine Biografie geht, um seine Politisierung, dann ist er ganz anders. Wir sprechen mit ihm darüber und in kleinen Gruppen, versuchen klar zu machen, dass wir alle keine Schuld haben an seinen Erfahrungen und dass wir aber ebenso wenig solche schwerwiegenden politischen Konflikte in der Klasse lösen können. Schön wäre es! Dann wären sie schon beigelegt. Aber so ist es eben nicht. Wir können diese Konflikte nicht hier in der Klasse austragen. Unsere Sorge ist nun, dass, wenn er in die nächsthöhere Stufe wechselt, sich die Probleme automatisch verhärten werden. An unserer Schule gibt es nämlich viele Schüler aus türkischstämmigen Familien. Wir müssen da unbedingt rechtzeitig gegensteuern.
„Ist jemand von euch mit dem Boot angekommen?“
Zum Glück sind die Schüler sehr offen zu uns, zum großen Teil. Wir wissen viel von ihnen, aber nicht alles über jeden Einzelnen. Vor ein paar Wochen gab es in der Kunsthalle Bremen so ein Projekt zum Thema. Gleich am Eingang gab es ein Fernsehgerät, das als Dauerschleife ein Boot zeigte, das an einem Anker hängt. Und irgendwie ist die Verlängerung aus diesem Bild die authentische Situation. Wir standen davor und schauten es an und die Kunstpädagogin, die uns begleitete, sagte: ‚Ja – wie geht es euch denn damit?‘ Und irgend jemand sagte: ‚Es geht so. Es ist gar nicht so schlimm.‘ Sie fragte: ‚Ist vielleicht jemand von euch mit dem Boot angekommen?‘ Und jemand sagte cool: ‚Wir sind doch fast alle mit dem Boot gekommen!‘ Einige sind auch über den Landweg gekommen. Aber das Boot ist wohl nach wie vor das übliche Fluchtmittel. Einer erzählte mir: ‚Frau Huhnholt, ich habe es dreimal versucht, zweimal ist das Boot kaputtgegangen und wir mussten umdrehen. Beim dritten Mal hat es geklappt. Angst hatte ich nicht, ich kann schwimmen. Deshalb haben sie mir ein Baby in den Arm gegeben von einer Familie, die alle nicht schwimmen konnten.‘ Er hat mir das ziemlich unbeschwert erzählt.
Das hat mich schockiert, sie sind ja noch relativ jung und bräuchten eigentlich noch die Eltern, die Familie. Ach, es gibt so viele Flüchtlingsschicksale … Wir haben einen Jungen – ein Einzelkind –, der lebte allein mit seiner Mutter in Syrien, die Eltern waren getrennt. Eines Tages sind die beiden nach Ägypten geflüchtet, dort war er in einer internationalen Schule und zuvor in Syrien in einer British School. Die Mutter war schwer an Krebs erkrankt und sie waren sehr eng zusammen, aber sie hat ihm zugeredet, nach Deutschland zu gehen. Er ist allein gekommen, hat wunderbare Umgangsformen, ist sehr selbstständig. Im Juni, da war er vier Monate bei uns, hat er bereits sehr auf seine Mutter gewartet, er sagte, sie käme in 14 Tagen. Das hat er ein Jahr lang erzählt. Unlängst ist die Mutter dann tatsächlich gekommen, und sie will bleiben. Wir haben uns alle sehr gefreut.
Erst Container, dann in Übergangseinrichtungen
Er hat einen wunderbaren Vormund in Bremen: eine Frau, sehr engagiert, die alles tut, was man machen kann. Alle unbegleiteten Flüchtlinge haben einen Vormund, entweder einen Amtsvormund oder eine Privatperson. Und dann haben sie noch Betreuer, die sich um das Soziale und die Termine kümmern. Da pflegen wir die Kontakte, denn ein Netzwerk ist wichtig, damit sich die Verantwortung und Mitverantwortung auf viele Schultern verteilt. Die meisten Jugendlichen sind ja noch minderjährig. Sie leben anfangs in Containern, danach gibt es Übergangseinrichtungen, in dieser Clearingstelle sollen sie vom Gesetz her nicht länger als drei Monate bleiben und dann eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen. Durch den Wohnungsmangel kann sich das verzögern, aber inzwischen haben fast alle ihre Wohnungen. Mittlerweile sind auch viele Eltern gekommen, viele Familien nachgezogen, sodass einige wieder in ihrer Familie wohnen.“
Auf die Frage, ob es denn nicht auch richtig negative Beispiele gibt, abgestürzte Jugendliche, die kriminell, werden oder drogensüchtig, sagt sie leise: „Doch, doch!“ Ich frage: „Vergewaltiger?“ Sie sagt heftig: „Nein! Vergewaltiger nicht. Aber wir hatten einen ganz fantastischen Jungen aus Westafrika – wir haben ihn noch. Schlau, mehrsprachig, er kann ganz schnell verknüpfen, dazu ist er musikalisch talentiert. Er war zum Schüleraustausch in England und war auf einer Privatschule in Holland. Er stammt aus einer gebildeten Familie, der Vater hatte eine politische Funktion. Der Junge war eine Bereicherung für uns und für die ganze Schule. Aber eines Tages kam er immer seltener zum Unterricht – das ist generell ein Problem – aber bei ihm war es extrem. Er sagte, ich ziehe um, von der Clearingstelle in eine Wohnung, ich muss renovieren, Möbel organisieren. Dann haben wir erfahren, dass sein Vater starb. Wir waren sehr tolerant, aber er kam bis Ende Mai nur sporadisch in die Schule. Er wird uns verlassen, wir können ihm kein Zeugnis ausstellen. Sein Betreuer sagte mir, es geht Richtung Ausbildung. Und inoffiziell erfuhr ich, dass er mit Drogen handeln soll. Wir haben keinen Einfluss auf ihn, leider. Aber vielleicht, er ist sehr intelligent, besinnt er sich und kriegt die Kurve, sodass er eines Tages studieren kann. Er hat absolut die Prädisposition dazu.
Das war auf jeden Fall ein negatives Beispiel. Etwas sehr Trauriges haben wir leider auch erlebt. Es betraf einen Schüler, der mit uns zugleich angefangen hat. Er kam aus Russland, aus einer jüdischen Familie, mit ihr gemeinsam kam er nach Deutschland. Er war eher still, aber sehr schlau. Nach drei Monaten waren Osterferien und danach kam er nicht wieder. Die Mama teilte uns mit, er sei im Krankenhaus. In welchem, wussten wir nicht. Wir wollten ihn besuchen, bekamen aber keine Antwort. Irgendwann habe ich zufällig erfahren, er hat Krebs, ganz schlimm, ganz böse. Und ein paar Wochen nach den Sommerferien ist er gestorben. Ich habe es dann den Schülern mitgeteilt und sie waren unglaublich entsetzt, hatten Tränen in den Augen. Das hätte ich nie gedacht, weil sie den Jungen ja nur drei Monate lang kannten. Die meisten sind dann mit zur Beerdigung gegangen.
Solche Ereignisse wirken sich schon auf die Gruppe aus, auch auf den einzelnen Schüler. Sie sind immerhin zwei Jahre zusammen und müssen lernen. Das fällt leichter, wenn eine entspannte Atmosphäre herrscht. Und zuallererst geht es gezielt um den Spracherwerb. Dafür gib es den europäischen Referenzrahmen, den gibt es seit 1991. Kennt ihr den? Er ist so strukturiert, dass es sechs Stufen gibt, und das Ziel dessen ist, das Ganze so etwas EU-mäßig zu vereinheitlichen. Also rein theoretisch, wenn zum Beispiel ein Litauer Spanisch lernt und A2 hat, und wenn ein Norweger Spanisch lernt und A2 hat, dann müssen beide etwa auf dem gleichen Niveau sein, sodass man mit Aussagen, mit Zertifikationen auch etwas anfangen kann.
Der bestgekleidete Junge in der Klasse
Und damit arbeiten wir. Die Sprachkenntnisse teilen sich auf nach den Stufen A1, die einfachste Stufe, dann A2, dann B1 und B2, das ist dann schon eine selbstständige Kommunikation. C1 ist fast schon muttersprachlich und zum Beispiel auch Voraussetzung für die Universität. Also sie haben ein bestimmtes Pensum zu erfüllen. Mancher lernt schneller, ein anderer braucht vielleicht etwas länger, kommt aber doch ans Ziel. Beispielsweise der, der an der British School und International School war, der hat eine unglaublich tolle Selbstlernkompetenz und kann sich selbst gut einschätzen. Er lernt selbstständig und souverän. Wir haben auch ein Mädchen aus Syrien, sie ist Christin. Auch sie ist sehr selbstständig und sucht selbst nach Lösungen. Die europäischen Mädchen – ich hab eine Schülerin aus Albanien, eine aus dem Kosovo, eine aus Bulgarien – sind relativ selbstständig. Es muss eben das Minimum erlernt werden. Das Wie ist dabei gar nicht so wichtig. Man kann ja auf verschiedene Weise lernen. Aber nur mit der Reflexbildung kommt man bei Sprachen nicht wirklich weiter. Das ist zu wenig. Man braucht eine Methode. Es gibt Menschen – sicher kennt ihr solche auch –, die sind 20 bis 30 Jahre oder länger in Deutschland und können immer noch kein Deutsch, weil sie nie analytisch über die Sprache nachgedacht haben, sich niemals mit der Syntax der deutschen Sprache auseinandergesetzt haben.
Sicher, es spielen auch die Familienverhältnisse mit eine Rolle, das gebe ich zu. Wir haben einen Jungen, der erzählte, seine Eltern und Familienmitglieder haben alle Jura studiert, er hat natürlich gute Voraussetzungen. Ein anderer Junge kommt aus Afghanistan, seine Mama ist Näherin und der Vater Arbeiter, er hat es schwerer. Er ist aber sehr ehrgeizig, vielleicht zu ehrgeizig. Er setzt sich unter Druck, ist nicht frei. Seine Mama näht fleißig, er ist der bestgekleidete Junge in der Klasse, aber er fühlt sich erst wirklich gut, wenn er absolut vorbereitet ist und alles sitzt, er sagte mal: Frau Huhnholt, ich muss doppelt lernen.“
Wir werden unterbrochen durch ein plötzliches Unwetter das sich mit Blitz, Donner und heftigem Regen entlädt.
Frau Huhnholt fährt mit lauterer Stimme fort: „Ich habe eine Kollegin, die ist türkische Kurdin, und sie erzählte mir zu meinem Entsetzen, dass in einigen arabischen Ländern so eine Art Verherrlichung des Hitlerfaschismus herrscht. Davon ist bei meinen Schülern zwar nicht zu spüren, aber ich hatte das große Bedürfnis, mit ihnen genauer darüber zu sprechen. Und so haben wir das Thema in Politik behandelt, haben so eine Kurzversion von Sophie Scholl gelesen, auch Bilder aus Auschwitz angeschaut. Ich dachte, das sollen sie sehen, bevor sie anfangen, das Ganze zu bagatellisieren. Es hat sich gezeigt, dass sie sich damit auseinandersetzen. Auch in der Kunsthalle kamen sie darauf zu sprechen – wir machten einen Crash-Kurs für moderne Kunstgeschichte, weil wir keinen Kunstunterricht haben. Vor einem Bild von Max Beckmann – ‚Andalusischer Tanz‘ – haben sich lebhafte Gespräche über die Figuren und die Nazizeit entsponnen.
Diskussion überFake News in der taz
Im Rahmen unserer medienpolitischen Klassenreise durch das literarische Berlin, auf der wir uns ja derzeit befinden, haben wir mit einem kundigen Führer literarische Spaziergänge gemacht, uns mit Autoren beschäftigt, deren Bücher in der Nazizeit verbrannt wurden, beispielsweise mit Erich Kästner. Wir waren im Bundestag und heute waren wir übrigens bei der taz. Wir wollten unter anderem wissen, wie solche außergewöhnlichen Zeitungen arbeiten. Es war sehr nett. Thematisiert wurde auch der Umgang mit Fake News und Fake Pictures. Wir wollten kritisch hinterfragen, was eine Zeitung wie die taz dagegen macht – oder auch nicht –, und wir haben einiges erfahren. Die Ergebnisse unserer Reise und unserer Recherchen halten wir in Reisetagebüchern fest, wir machen einen Blog, schreiben Berichte, und drehen Kurzvideos. Man kann sich das auch im Internet ansehen auf der Seite vom Verein Bremer Leselust“ (www.bremerleselust.de/bericht-aus-berlin-letzter-tag/ – Dort findet man alle Beiträge zur Reise. Anm. G.G.).
„Ich muss sagen, ich bin gerne Lehrerin“, sagt Marta Huhnholt mit Überzeugung. „Es macht mir Freude, wenn ich sehe, wie sich meine Schüler entwickeln und wie sehr das ihre Zukunft beeinflussen wird. Ich konnte das bei mir selbst sehen. Ursprünglich wollte ich ja mal Stewardess werden, aber mein Vater hat darauf bestanden, dass ich erst einmal studiere.“ Sie lacht und sagt: „Es hat aufgehört zu regnen, jetzt gehe ich schnell, bevor es wieder anfängt!“
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