Kunst aus und in Marzahn-Hellersdorf: Wild, scheiße und trotzdem gut
Michail Fanghaenel ist in Marzahn aufgewachsen. Er arbeitet als Türsteher in einem Technoclub und ist Fotograf. Jetzt stellt er in seinem alten Bezirk aus.
Michail „Mischa“ Fanghaenel steht vor seinem alten Wohnhaus, einer Platte in Marzahn. Schwarze Hose, schwarze Jacke, schwarzes Shirt, nur die Brille hat Farbtupfer in Blau, Grau und Grün. „Das hier war der Himmel für uns“, sagt der Vierzigjährige und zeigt auf das graue Haus, das hoch in den Himmel ragt. „Wir kamen aus einer Zweiraumwohnung in Pankow. Plötzlich hatte jeder sein eigenes Zimmer. Das war unendlich viel Platz.“
Fanghaenel blickt auf den ersten Balkon links, Hochparterre. Hier ist er aufgewachsen, im Block um den Bürgerpark. Nächste Woche stellt er hier im Bezirk seine Fotos aus beim „Acht Tage Marzahn“-Kunstfestival, nur ein paar Minuten Fußweg von seinem früheren Lebensumfeld entfernt.
Von 1983 bis 2002 wohnte die Familie hier. Der deutsche Vater hatte die russische Mutter beim Studium in Moskau kennengelernt. Zusammen waren sie nach Berlin gekommen, da war Mischa zwei Jahre alt. „In Russland zu bleiben, das stand außer Frage. Die Frau ging damals eben mit dem Mann“, sagt er.
„Es hat sich vieles geändert im Bezirk“, sagt Mischa Fanghaenel. Um die Ecke steht ein einstöckiger, kastenförmiger Bau. „Da war früher unsere Kaufhalle. Und die Rohstoff-Annahmestelle. Da haben wir gesammelte Flaschen hingebracht und uns ein paar Pfennige zum Taschengeld verdient.“ Jetzt ist da eine Spielhalle. Auf der anderen Straßenseite wird ein Haus gebaut. Baulärm mischt sich mit Kinderlachen, ein paar Meter weiter ist die Grundschule am Bürgerpark. Da ging Mischa auch zur Schule. Das Schulgebäude, in dem er Lesen und Schreiben gelernt hat, steht heute nicht mehr. Stattdessen ein Rohbau auf demselben Platz.
Marzahn verändert sich
„Das wird jetzt wieder zur Grundschule“, sagt ein Mann von der Nachmittagsbetreuung. Kinder toben ausgelassen auf dem Schulhof. „Das wurde alles abgerissen und dann genau so wiederaufgebaut, weil die gemerkt haben, dass die Leute hier doch wieder Kinder bekommen“, sagt Mischa Fanghaenel. „Marzahn verändert sich.“ Als er hier zur Schule ging, hieß die Schule noch 31. Polytechnische Oberschule (POS) Mikail-Sholochhov, benannt nach einem sowjetischen Schriftsteller und Nobelpreisträger. Bis die Wende kam. Da war der Westteil der Stadt plötzlich zugänglich, Michail Fanghaenel war 13 Jahre alt. „Das hat eine neue Welt eröffnet“, sagt er.
Das Ende des Sozialismus fand der Junge aber erst mal doof. Sein Vater beschwichtigt ihn. Der hatte eigentlich Zahnarzt werden wollen, dann aber, gedrängt vom sozialistischen System, Architektur studiert. „Das sind Sachen die man erst später realisiert. Wie wichtig Freiheit ist“, sagt Fanghaenel. Freiheit, das ist für ihn auch das Fotografieren. Wenn er nachts durch die Straßen läuft, oft durch seinen alten Bezirk, und Bilder macht.
„Ich hab angefangen zu fotografieren, weil mein Vater das nicht gemacht hat. Ich wollte meine Familie festhalten“, sagt Fanghaenel. Das war Hobby, bis seine Tante, selbst Künstlerin, ihn zu einer Ausbildung zum Fotografen animiert. Er fängt eine Ausbildung bei einem Modefotografen in Düsseldorf an. „Ein einschneidend negatives Erlebnis,“ sagt er über diese Zeit. „Der Fotograf und ich, wir kamen nicht miteinander klar.“
Das Festival: Vom 1. bis 8. Juli findet in Marzahn das interdisziplinäre Kunstfestival „Acht Tage Marzahn“ statt. Innerhalb dieser Tage sind Kunstausstellungen mit Werken aus den Bereichen Performances, (Hochhaus-)Konzerten, Installationen und Fotografie geplant.
Begleitet von einem vielseitigen Rahmenprogramm, erstreckt sich das Festival vom Einkaufszentrum Eastgate entlang der Marzahner Promenade bis zum Freizeitzentrum Marzahn. Besonderheit: Alle Künstler haben Bezug zu dem Bezirk oder sind selbst dort aufgewachsen.
Der Bezirk: Marzahn-Hellersdorf hat rund 262.000 Einwohner und entstand 2001 durch die Fusion von Marzahn und Hellersdorf. Hier befindet sich die größte Großsiedlung, die in industrieller Plattenbauweise in der DDR errichtet wurde. Nach der Wende erfuhr der Bezirk Abwanderung und Abwertung. Heute ziehen so viele Menschen dorthin wie seit DDR-Zeiten nicht mehr.
Die Serie: Seit April bringt die Internationale Gartenausstellung (IGA) viele Besucher nach Marzahn. Zeit für die taz, den Wandel im Bezirk mit einer Serie unter die Lupe zu nehmen.
Hallo. Guten Tag. Willkommen.
Ein halbes Jahr später ist er wieder zurück in der Hauptstadt. „Ich dachte, ich hätte die Fotografie hinter mir“, sagt er. Nimmt stattdessen Jobs von einer Sicherheitsfirma an. Weil er Russisch und Deutsch spricht, wird er zum Personenschutz für Gäste aus dem Hotel Adlon eingesetzt. Die Sicherheitsfirma, für die er arbeitet, betreut auch Clubs. „Und ich war Ende zwanzig und hatte Spaß dran, Gäste zu empfangen: Hallo. Guten Tag. Willkommen.“ Also arbeitet er auch als Türsteher.
2009 wollte er eigentlich aufhören, dachte, das könne nicht alles sein im Leben. Dann kam das Angebot, in einem großen und sehr bekannten Berliner Club als Türsteher zu arbeiten. „Ich mag Menschen und verstehe das Bedürfnis individueller Entfaltung, die da möglich ist. Dieser Club ist ein besonderer Ort für mich.“ Vor der Tür ist immer viel los. Im Gegenzug ist Michail aber auch gern mal allein. Sucht sich eine dunkle Ecke, wie er sagt. „Das Fotografieren ist dann eine Art Flucht. Ein Schritt raus in eine andere Perspektive und Wahrnehmung.“
An der früheren Gesamtschule, die auch abgerissen und im selben Stil wiederaufgebaut ist, und einer kleinen Parkanlage vorbei spaziert er in den Bürgerpark Marzahn. Die riesige Grünanlage war zentraler Treffpunkt der Marzahner Jugend. „Wenn ich einem Marzahner sage, ich komme vom Bürgerpark, dann weiß der gleich, wo man aufgewachsen ist.“
Mit dem Blick auf einen braunen Plattenbau bleibt er stehen. „Wenn man so guckt, hat das ein bisschen was von New York. Mit viel Fantasie stehe ich jetzt im Central Park.“ Das mehrstöckige braune Haus ist eines seiner Motive. Das Foto dazu sieht allerdings ganz anders aus. Düster und schwarz erzählt es eine andere Geschichte als an diesem sonnigen Sommertag.
Sich in den Bildern verlieren
„Es geht nicht darum, was es ist, sondern was du darin siehst“, sagte er über seine Bilder. „Dass man sich verlieren kann darin.“ Er möchte einen Schritt herausgehen aus der Realität und dem Betrachter erlauben, sich hineinzudenken in eigene Geschichten.
Dass Michail Fanghaenels Fotografien bei dem Marzahner Kunstfestival, „eine Hommage an den Bezirk“, wie er es nennt, hängen, kam ziemlich spontan. Eigentlich hat er in den vergangenen Jahren nur für sich selbst fotografiert. Seine Ehefrau überredete ihn dann, mit seinen Bildern an die Öffentlichkeit zu gehen, sie jemandem zu zeigen und nicht nur im häuslichen Rahmen aufzuhängen. 2016 arbeitete er als Sicherheitsmann bei einer Ausstellung – und fragte, ob er den Organisatoren seine eigenen Fotos zeigen könne. Die kamen so gut an, dass er bei deren nächster Ausstellung selbst als Künstler dabei war.
Dann ging alles ziemlich schnell: Mittlerweile hat Fanghaenel eine Agentin und stellt im September auf der Kunstmesse „Berliner Liste“ im Postbahnhof aus. Und nächste Woche bei „Acht Tage Marzahn“. Einer seiner Türsteher-Kollegen ist Stefan Kirste. Der Kommunikationsdesigner und Fotograf hat das Kunstfestival mitorganisiert. Und hat Mischa Fanghaenel nach dessen Schritt an die Öffentlichkeit gefragt, ob auch er daran teilnehmen möchte. „Alle Künstler haben Bezug zu Marzahn. Wir wollten schon lange etwas in unserem alten Bezirk machen“, sagt Kirste. „Denn: Marzahn war wild, es war alles scheiße hier, aber es war trotzdem gut.“
So ähnlich beschreibt auch Mischa Fanghaenel seinen alten Bezirk. „Ich hab eine positive Verbindung zu dem Festival“, sagt er. „Das sind alles Marzahner, die das machen, weil sie dem Bezirk noch mal was zurückgeben wollen. Weil keiner negative Erinnerung hat.“
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