Debatte Antisemitismus in der AKP: Erdoğan und die Zinslobby
Der türkische Präsident lastet die Misere seines Landes den Juden als „Strippenziehern“ an. Damit entlarvt er seine antisemitischen Denkmuster.
W enn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan europäische Spitzenpolitiker als Nazis verunglimpft, unterstellt er letzten Endes eine jüdische Verschwörung. Nachdem in Deutschland und den Niederlanden politische Veranstaltungen mit türkischen Kabinettsmitgliedern abgesagt wurden, warf Erdoğan der Bundeskanzlerin Angela Merkel „Nazimethoden“ vor und nannte die Niederländer „Nazi-Nachfahren“.
Was in der Aufregung übersehen wurde, ist, wie sich der türkische Präsident Erdoğan nationalsozialistischer Motive bedient, wenn er „den internationalen Juden“ für seine Probleme und die seines Landes verantwortlich macht.
Vielen im Westen ist entgangen, dass Erdoğan die Schuld am Putschversuch vom 15. Juli 2016 wiederholt einem angeblichen „Strippenzieher“ zugeschrieben hat. Laut Erdoğan „wird heute ein ganz hinterhältiges, ganz abscheuliches und mieses Spiel mit unserer Region und unserem Land getrieben. Was ich den Strippenzieher nenne, zeigt sich uns jeden Tag mit neuen Teufeleien und versucht, die Saat der Feindschaft und Zwietracht in unserer Region zu säen. Er versucht, die Zukunft unserer Region in Blut und Tränen, in Bürgerkrieg und Sezessionskriegen zu ertränken. Uns ist bewusst, dass es hier um einen Machtkampf geht.“
Erdoğan wirft dem „Strippenzieher“ vor, in Form einer angeblichen „Zinslobby“ die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei zu hemmen; in der internationalen Presse, beispielsweise in der „jüdischen“ New York Times Lügen über die Türkei zu streuen, um ihn aus dem Amt zu jagen; Intellektuelle zur Türkeikritik aufzustacheln, so etwa die sogenannte „internationale Schriftstellerlobby“; Unruhe im Innern zu stiften, darunter die Gezi-Proteste von 2010; für Terroranschläge verantwortlich zu zeichnen, ob sie nun von linken, islamistischen oder kurdischen Guerillas verübt werden; und schließlich wirft er ihm auch den Juli-Putsch vor.
Erdogan sagt klar, wen er meint
Erdoğan hat explizit erklärt, der türkische Islamprediger Fethullah Gülen, angeblich Kopf einer kriminellen und bewaffneten Terrororganisation, der „Fethullaistischen Terrororganisation“ (Fetö), sei nicht der „Strippenzieher“.
Laut der mit zahlreichen Passagen aus Erdoğan-Reden gespickten zweistündigen Dokumentation „Strippenzieher“, die vom Erdoğan-nahen türkischen Fernsehsender A Haber ausgestrahlt wurde, ist der „Strippenzieher“, der im Geheimen die Welt kontrolliert und mittels Marionetten seine schändlichen Pläne ins Werk setzt, jener internationale Klüngel, der den Islam, Muslime, die Türkei auslöschen möchte – der „internationale Jude“.
Zu Beginn des Films behauptet Erdoğan in einer Parlamentsrede, dass die Angriffe auf seine Regierung in Wahrheit Teil von Aktivitäten seien, die sich gegen die Türkei als solche richteten.
Und hinter all dem stecke der „Strippenzieher“: „Die Menschen fragen mich: Wer ist dieser ‚Strippenzieher‘? Recherchieren Sie zu diesem Thema. Sie wissen, wer es ist.“
Wurzel vor Tausenden Jahren
Der Sprecher der Dokumentation erklärt: „ ‚Der Strippenzieher‘ – der die Welt kontrolliert und dessen Wurzeln Tausende Jahre in die Vergangenheit reichen, der Vernichtung bringt, Kriege, Revolutionen, Staatsstreiche anzettelt und innerhalb von Staaten Parallelstaaten aufbaut – ist eine Krankheit, mit der nicht nur die Türkei, sondern die ganze Welt zu kämpfen hat.“ Was heute in der Welt geschieht, lasse sich aus seinen historischen Ursprüngen vor 3.500 Jahren erklären, denn in dieser Zeit sei das Judentum entstanden.
Mit wackliger Kamera in schummrigem Licht gefilmte „Experten“ behaupten, von bedrohlicher Musik untermalt, dass Juden beigebracht werde, sich selbst als „die Herren“ und alle anderen Menschen als ihre Sklaven zu betrachten.
Juden würden glauben, sie seien zum Herrschen geboren und alle anderen Völker seien ihre Untertanen. Deshalb hätten sie Gläubige seit Tausenden von Jahren unterdrückt und Streit in der Welt gesät, um sie für ihre eigenen Zwecke zu beherrschen. Das „internationale Judentum“, so die Argumentation des Sprechers und der „Experten“, sei der Feind der Türkei, des Islams und der Muslime.
Sogenannte Kryptojuden
Welche Beweise liefert der Film für diesen diabolischen Plan der Juden? In der Hauptsache stützt er sich auf angebliche Zitate des mittelalterlichen jüdischen Gelehrten Maimonides, Charles Darwins (der als Jude hingestellt wird) und Leo Strauss’.
Ungeachtet der dünnen „Beweislage“, vermittelt die Dokumentation, die mit Erdoğan im Originalton beginnt und endet, den Eindruck, dass nur der türkische Präsident mit Gott an seiner Seite den verschlagenen Juden und ihren bösartigen Plänen die Stirn bietet, dass nur die Türken nicht in ihre schändlichen Fallen tappen.
Erdoğan wirft dem „Strippenzieher“, das heißt den Juden, vor, den Gülen-Anhängern den Putschversuch befohlen zu haben. In seinen Augen ist Gülen lediglich der Handlanger eines „jüdischen“ Staatsstreichs. Türkische Beamte und die Erdoğan-nahe Presse haben behauptet, Gülen sei entweder Jude oder Kryptojude („Dönme“), Sohn einer jüdischen Mutter und eines armenischen Vaters.
Ein Minister hat erklärt, Gülen werde nach seinem Tod auf einem jüdischen Friedhof beerdigt.
Wo nichts passt werden Bilder konstruiert
In den Worten eines Kolumnisten in Erdoğans Sprachrohr, der Tageszeitung Sabah, die sich in der Hand des Bruders von Erdoğans Schwiegersohn befindet, hat Gülen „einen Riecher für Geld und Macht, weil er ein Jude ist … Fethullah Gülen liebt das Geld; es gibt nichts, was er nicht für Geld tun würde.“
Dieser Logik zufolge ist Gülen also ein Jude, der die gegen die Türkei gerichteten Pläne „der Juden“ ausführt. Karikaturen in der islamistischen Tageszeitung Yeni Akit, die zum Pressepool des Präsidenten gehört, zeigen Gülen mit einer Kippa mit Davidstern auf dem Kopf.
Andere antisemitische Bilder in dieser Zeitung stellen Gülen als Spinne mit Beißklauen dar, zugleich mit Schnauzer und derselben jüdischen Kopfbedeckung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut
T.C. Boyle zur US-Präsidentschaftswahl
„Halb Amerika schwelgt im Hass“