WiederholungsgefahrDie Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen hat sich grundlegend verändert, sagt Bettina Leonhard von der Bundesvereinigung Lebenshilfe: „So etwas gibt es nicht mehr“
Interview Friederike Gräff
taz: Frau Leonhard, warum kommt die Entschädigung für Kinder, die in Behindertenheimen misshandelt wurden, erst so spät?
Bettina Leonhard: Es hat zu lange gedauert – auch in den Heimen der Jugendhilfe, da starteten die Fonds vor drei Jahren. Die Lebenshilfe und auch Caritas und Diakonie haben von Anfang an darauf gedrungen, dass für die Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie die gleichen Leistungen gewährt werden. Es hat aber viele Jahre gebraucht, bis die Politik diese Einschätzung teilte.
Ist die Lobby dieser Menschen kleiner?
Das glaube ich nicht. Es war durchaus bekannt, dass es auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe in der fraglichen Zeit viel Unrecht und Leid gegeben hat. Nach der NS-Zeit wirkten Erzieher und Mitarbeiter dort weiter, was zu entsprechenden Erziehungsmethoden geführt hat. Aber in der Politik und in den Ländern gab es lange Widerstände gegen eine Entschädigung.
Warum?
Wegen der enormen Kosten, mit denen man gerechnet hat. Bei dem ersten Fonds in der Kinder- und Jugendhilfe war das Budget gesprengt worden.
Welche Kontrollmechanismen gibt es inzwischen, um zu verhindern, dass sich solche Übergriffe wiederholen?
Seit dem Bericht der Psychiatrie-Enquete im Jahr 1975 ist man sehr kritisch mit geschlossenen Institutionen, deren Wirkungsweisen und der Arbeit darin umgegangen.
Was hat sich dadurch konkret in den Heimen geändert?
Es gibt heute die Heimaufsicht, die Missstände verhindern soll. Aber der Ansatz ist vielschichtiger: Früher lebten die Menschen über einen sehr langen Zeitraum sehr abgeschottet in diesen Einrichtungen – so etwas gibt es heute eigentlich nicht mehr.
Wie hat man diese Isolation aufgebrochen?
Die Lebenshilfe hat sich immer sehr dafür eingesetzt, dass Kinder und Jugendliche bei ihren Eltern aufwachsen, dem Normalitätsprinzip verpflichtet, so wie andere Kinder und Jugendliche auch. Nur wenn das nicht möglich ist, soll es Einrichtungen geben, wo dann aber ein enger Kontakt zur Familie besteht – ganz anders als früher, wo Kinder, auch unliebsame Kinder und Jugendliche abgeliefert wurden, und zu ihren Familien keinen Kontakt mehr hatten. Die Kinder waren auf sich gestellt und den Einrichtungen tatsächlich ausgeliefert.
Ich habe einen Mann getroffen, der Ende der 1940er-Jahre als uneheliches Kind in die Alsterdorfer Anstalten abgeschoben wurde.
Das hat mit der damaligen Stellung der Frau und des unehelichen Kindes zu tun. Es wurden sehr viele Säuglinge in Einrichtungen abgeliefert und dort hospitalisiert, haben dann auch Verhaltensauffälligkeiten entwickelt und wurden als behindert oder nicht bildbar abgestempelt. Sie erfuhren eine Behandlung, die ihren tatsächlichen Anlagen und Begabungen nicht entsprach. Die Mitarbeiter haben nicht mit der nötigen Empathie für das einzelne Kind gewirkt, oft waren sie wohl auch überfordert, vor allem wegen des schlechten Personalschlüssels.
Ist der Personalschlüssel heute so viel besser?
Das ist er auf jeden Fall, gerade auch, um solche Übergriffe zu verhindern, gibt es eine Heimpersonalverordnung beziehungsweise entsprechende landesrechtliche Regelungen. Ideal ist er aber noch nicht. Je besser die Betreuung ist, desto besser kann man Menschen fördern und sie in ihrem Selbstbestimmungsrecht unterstützen. Es ist immer die Frage: Was ist es einer Gesellschaft wert, den Menschen, die Unterstützung brauchen, diese auch zukommen zu lassen.
Könnte eine juristische Entmündigung Erwachsener, wie sie etwa in den Alsterdorfer Anstalten stattfand, heute noch passieren?
1992 ist das Betreuungsrecht in Kraft getreten, das war ein wirklicher Paradigmenwechsel gegenüber dem alten Vormundschaftsrecht, das noch aus dem Jahr 1900 stammte. Die Entmündigung bedeutete, dass der Betreffende selbst keinerlei Möglichkeiten mehr hatte, rechtlich zu handeln, alles musste der Vormund für ihn tun. Der Vormund hat das Mündel eher verwaltet als sich persönlich zu kümmern.
Und heute?
Die Betreuung setzt auf die Selbstbestimmung und wenn jemand, der einen freien Willen hat, sagt: Ich möchte keine Betreuung, dann bekommt er auch keinen Betreuer. Damals war es so: Wenn jemand aus einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen kam, hat man im Zweifel gar nicht näher drauf geschaut, was dieser Mensch konnte und wozu er Unterstützung brauchte, sondern es gab eine ganz pauschale Einteilung.
Trotz aller Paradigmenwechsel kommt es immer wieder zu Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen in Hilfseinrichtungen. Sind das Einzelfälle oder ist das die Spitze des Eisbergs?
Die Berichterstattung etwa über die Missstände in den Heimen der Haasenburg, die eine Einrichtung der Jugendhilfe ist, hat dazu geführt, dass eine bereits laufende Diskussion noch einmal stärker geworden ist, nämlich zur Frage: Kontrollieren wir die Einrichtungen genügend?
51, ist Leiterin des Referats Recht bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. in Berlin.
Die Antwort war: Man muss genauer hinsehen. Wurde das auch umgesetzt?
Es war der Anlass dazu, bei der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts auch die Vorschrift aufzunehmen, dass die Heimaufsicht ohne Anlass und unangekündigt jederzeit eine Einrichtung besuchen kann. So kann sie sich ein Bild davon machen, was dort tatsächlich los ist.
Da fragt man sich: Wie kann ein Kontrollsystem jahrzehntelang mit einer solcher Lücke arbeiten?
Ich glaube, es ist immer so: Man macht eine Vorschrift und denkt, das müsste reichen. Und man merkt erst dann, wenn etwas nicht funktioniert, dass man nachjustieren muss. Ich fürchte, das ist kein Einzelfall.
Sie klingen sehr positiv. Sehen Sie noch größere Baustellen?
Es ist ein Wandel, der sich ganz grundsätzlich vollzogen hat. Wenn man sich das Menschenbild in der Erziehung ansieht, das Gewaltverbot und auch das Menschenbild des Menschen mit geistiger Behinderung: Da hat sich in den letzten Jahrzehnten unglaublich viel getan. Das führt dazu, dass auch die Menschen, die mit Menschen mit geistiger Behinderung zu tun haben, ihnen mehr zutrauen, ihr Selbstbestimmungsrecht wahren. Mehr und mehr Menschen mit einer geistigen Behinderung leben in betreuten Wohngemeinschaften oder auch alleine oder mit ihrem Partner/ihrer Partnerin in der eignen Wohnung und erhalten die für die notwendige Unterstützung ambulant.
Diese Entwicklung sehen Sie nicht gebremst durch die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, die zu einem gewissen Grad suggeriert, es gebe einen Anspruch auf ein gesundes Kind und alles andere sei ein vermeidbarer Anfall?
Dass das überhaupt kursiert, finde ich unmöglich. Die meisten Behinderungen entstehen bei und nach der Geburt, und von den Behinderungen, die vorgeburtlich entstehen, sind die wenigsten erkennbar. Das Downsyndrom, das man mit Pränataltests erkennen kann, ist eine vergleichsweise geringfügige Behinderung. Und es ist sehr problematisch, dass Eltern, die sich entschließen, ein Kind mit Downsyndrom zu bekommen, unter Rechtfertigungsdruck geraten. Das wollen wir auf jeden Fall verhindern. Unser Angang ist: Die Bedingungen müssen so gut sein, dass sich jede Familie für ein behindertes Kind entscheiden kann.
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