Tödliche Polizeischüsse: Der Fall Grigorij S.
Drei Schüsse feuert ein Zivilpolizist aus nächster Nähe auf Grigorij S. ab. Der stirbt. Der Fall ist typisch für mangelnde Kompetenz der Polizei.
Ein Mann in einer psychischen Ausnahmesituation, bewaffnet mit einem Messer, erschossen in vermeintlicher Notwehr – der Fall Grigorij S. ist in vielerlei Hinsicht typisch. Und keine Seltenheit: Seit 1990 sind in Deutschland mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen worden. Im Jahr 2016 starben 13 Menschen auf diese Weise – so viele wie seit den neunziger Jahren nicht mehr. 2015 waren es zehn; einer davon ist Grigorij S.. Hinter seinem Tod steckt eine individuelle und tragische Geschichte. Nachgegangen wird den Hintergründen in solchen Fällen nur selten; die Frage, wie es so weit kommen konnte, bleibt oft unbeantwortet.
Drei Wochen nach dem Tod sitzt Sylvia King auf ihrer Couch und scheint durch die Wand in das angrenzende Ein-Zimmer-Apartment zu schauen, in dem S. wohnte. „Sie müssen den Falschen erwischt haben“, sagt King. Ihren ehemaligen Nachbarn in der ersten Etage des Neungeschossers beschreibt sie als „freundlich“ und „ruhig“. Als Dank für entgegengenommene Pakete habe er ihr hin und wieder Pralinen oder einen selbst geangelten Fisch gebracht. Dass er wie ein Verbrecher ums Leben gekommen ist, macht sie fassungslos.
S. tritt an seinem Todestag kurz vor 13 Uhr vor die Haustür – da warten bereits sechs Polizisten in Zivil. Sie wollen einen Haftbefehl vollstrecken. Als S. die Beamten bemerkt, lässt er seinen Rucksack mit dem Proviant fallen und zückt ein Taschenmesser. Klingenlänge knapp 9 Zentimeter. Die Polizisten versetzt das in höchste Alarmbereitschaft – so haben sie es in ihrer Ausbildung gelernt.
Den Blick auf seine Verfolger gerichtet, versucht sich S. langsam zu entfernen. Das Messer in der Hand, läuft er rückwärts den Weg entlang, der etwa 60 Meter bis zu einer Straße führt. Drei Polizisten folgen ihm unmittelbar, zwei haben ihre Waffe gezogen. „Ich dachte zunächst, das sei ein Spiel“, sagt eine Rentnerin, die zufällig alles vom Balkon aus beobachtet. Erst als die Polizisten rufen, der Mann solle das Messer fallen lassen, wird ihr klar, dass es ernst ist. S. erreicht die Höflerstraße, eine kaum befahrene Gasse. Ab hier ist der Zeugin der Blick durch eine Tanne versperrt. Die drei Schüsse, die fallen, kann sie nur hören. Zwei treffen S. in die Brust, einer davon tödlich.
Wie die Mehrheit aller Erschossenen war Grigorij S. weder mit einer Pistole bewaffnet noch mussten die Polizisten eine akute Straftat unterbinden. Typischerweise ereignen sich die meisten Fälle dieser Art im privaten Raum – und auch bei S. können keine Augenzeugen oder Videoaufnahmen dabei helfen, das Geschehen zu rekonstruieren.
Bei dem Memminger Staatsanwalt Christoph Ebert laufen die Ergebnisse der Ermittlungen, die mit dem Bayerischen Landeskriminalamt eine externe Behörde übernimmt, zusammen. Der taz sagt Ebert, laut Tatortbericht und Obduktion seien die tödlichen Schüsse aus einer Distanz von nur einem Meter gefallen. Ein toxikologisches Gutachten habe bestätigt, dass die Polizisten zuerst Pfefferspray eingesetzt haben – doch davon habe sich S. nicht stoppen lassen.
Der Staatsanwalt sagt, S. sei „mit kräftigen Schritten“ und nach vorne gebeugt auf den Polizisten zugegangen. Die Hand, in der er das Messer hielt, sei „wie eine Lanze nach vorn gestreckt“ gewesen, sodass der Abstand zwischen Klinge und Brustkorb des Beamten nur noch 60 Zentimeter betragen habe. Weil ein Ausweichen nicht mehr möglich gewesen sei, habe der Beamte im Zurückweichen den ersten Schuss abgegeben, ohne zu treffen. Dann schoss er zwei weitere Male auf den Brustkorb. Das Fazit des Staatsanwalts: „Ein Lehrbuchfall für Notwehrsituationen.“
Doch es bleiben Fragen: Wieso gelingt es sechs Polizisten nicht, einen mit einem Messer bewaffneten Mann zu überwältigen, ohne ihn zu erschießen? Wieso haben die Beamten nicht einen größeren Abstand zu S. gehalten? Und wieso feuert ein ausgebildeter Beamter drei Schüsse in Brust- und nicht in Beinhöhe ab?
Die Antworten von Polizei und Staatsanwaltschaft bleiben unbefriedigend. Ebert spricht vom „letzten Moment“, in dem sich der Polizist vor der Entscheidung sah: „Er oder ich.“ Dass sich die Situation so gefährlich zuspitzen konnte, liegt für ihn an dem langen Zögern vor der Schussabgabe. Die Beamten hätten früher schießen dürfen. S. Gefährlichkeit ist für Ebert unzweifelhaft: Vier weitere Messer wurden an seinem Körper und in seinem Auto gefunden.
Nahezu immer, wenn Beamte in Deutschland einen Menschen erschießen, sprechen die Behörden von Notwehr – schon bevor die Umstände eingehender untersucht werden. Das soll die Polizisten schützen, doch Zweifel sind angebracht. „Immer wenn jemand zu Tode kommt, ist ein Fehler gemacht worden“, sagt der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes.
Fakt ist, Polizisten sind im Umgang mit der Waffe ungeübt, viele schießen in ihrem Dienstleben niemals auf einen Menschen. Fehler können bei der Schussabgabe passieren, häufig aber schon in den Augenblicken zuvor. Der Drang, Situationen unmittelbar lösen zu wollen, und das Ziehen der Waffe können erst die Gefahr erzeugen, in der der Schuss dann als letzte Option erscheint. So geschehen 2013, als ein Polizist zu einem verwirrten Nackten in den Berliner Neptunbrunnen stieg – und dann im Zurückweichen stolperte und schoss.
Der ungeübte Umgang mit psychisch Kranken ist wohl das größte Problem. Mehr als die Hälfte der Opfer zwischen 2009 und 2017 gehört dieser Gruppe an. Oft fehlt es Polizisten an Wissen, wie Kranke auf Stressmomente reagieren und wie solche Situationen zu entschärfen sind. Bis auf wenige Ausnahmen werden Ermittlungsverfahren gegen die Schützen bald eingestellt. Gerichtsverfahren gegen Polizisten sind selten, zu Verurteilungen kommt es so gut wie nie.
Zu einer der seltenen Verurteilungen kam es infolge eines Polizeieinsatzes in der Silvesternacht 2008. Im brandenburgischen Schönfließ will ein Verdächtiger mit dem Auto fliehen, als ihn Polizisten festzunehmen versuchen. Ein Polizist gibt sechs Schüsse durch die Seitenscheibe ab, um den Wagen zu stoppen. Er erhält eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren wegen Totschlags in einem minder schweren Fall.
Grigorij S. wird in den Pressemeldungen nach seinem Tod mit nur einem Attribut beschrieben: als Person, die „aufgrund diverser Konflikte mit Behörden bekannt war“. Doch das Bild ist vielschichtiger und gibt Hinweise darauf, wie es zu seinem Tod kommen konnte.
1966 in Kasachstan geboren, kommt S. in den neunziger Jahren gemeinsam mit seiner Frau als Spätaussiedler nach Deutschland. Auch die meisten seiner Nachbarn in dem Memminger Hochhaus stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie schildern ihn als eher zurückgezogenen Menschen. An Feiern der Russlanddeutschen habe er nicht teilgenommen. Der gelernte Pilot arbeitete bei Liebherr in der Endmontage von Kühlgeräten. In einem Nachruf wird er als „zuverlässiger und fleißiger Mitarbeiter“ beschrieben.
Ein Streit ums Sorgerecht
Die Tragik liegt in S.' Kampf um seinen Sohn. Die Ehe zerbricht, nach der Scheidung bleiben der Sohn und die ältere Tochter bei der Mutter. Der Junge besucht seinen Vater regelmäßig. Auf S. Profil in einem russischen sozialen Netzwerk sieht man Bilder des stolzen Vaters mit seinen fröhlichen Kindern. Auch Nachbarn beschreiben S. als fürsorglich. Eine Frau im Haus erinnert sich, wie er stets nach unten eilte, wenn der Sohn beim Spielen gestürzt war oder mit anderen Kindern in Streit geriet.
Als der Junge 14 Jahre alt ist, wird S. das Sorgerecht entzogen; wieso, ist nicht mehr herauszufinden, auch weil niemand aus seiner Familie aufzufinden ist oder bereit ist, zu reden. Später gibt es Probleme zwischen dem Sohn und der Mutter, der Junge soll in eine Pflegefamilie. Als man den Jungen bei ihm abholt, rastet S. aus. So erzählen es Menschen, die ihn kennen. Wegen Beleidigung und Verleumdung wird er zu einer zwölfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafe fällt auch deshalb so hoch aus, weil S. bereits Vorstrafen hatte; für welche Vergehen, ist nicht bekannt.
Doch ins Gefängnis will S. auf keinen Fall. Auf die Ladung zum Haftantritt soll er der Staatsanwaltschaft schriftlich geantwortet haben, eine Verhaftung könne zu einem Problem werden. Am Tag des tödlichen Geschehens war die Frist zum Haftantritt bereits über einen Monat verstrichen.
Ein bekanntes Gesicht
Dass der Versuch, ihn festzunehmen, derart eskalieren konnte, hat womöglich noch einen weiteren Grund. Als S. die Beamten vor seiner Haustür bemerkt, schaut er in ein ihm bekanntes Gesicht. Dieser Polizist war bereits dabei, als sein Sohn bei ihm abgeholt wurde, um ihn in die Pflegefamilie zu bringen. S. kennt ihn mit seinem Namen. Ihm wendet er sich schließlich mit seinem Messer zu. Und von ihm wird er erschossen. Der Einsatz dieses Beamten war vermutlich ein folgenschwerer Fehler. Einer, den weder Polizei noch Staatsanwalt kommentieren.
Im Gespräch schildert Staatsanwalt Ebert die Bestürzung eines anderen Beamten, der bei der missglückten Verhaftung dabei war. Der Mann, ein erfahrener Polizeiausbilder, hatte ebenfalls seine Waffe auf S. gerichtet, auch er hätte schießen dürfen. „Wir haben es nicht geschafft, ihn festzunehmen“, soll er immer wieder gesagt haben. Noch am Tatort kümmert sich der Memminger Polizeihauptkommissar Rainer Fuhrmann um die Polizisten. Fuhrmann ist Leiter der sogenannten Verhandlungsgruppe, die in den siebziger Jahren für die Verhandlung mit Geiselnehmern oder Suizidgefährdeten gegründet wurde, inzwischen bietet sie aber auch bei internen Konfliktsituationen ihre Hilfe an.
„Seit einigen Jahren dürfen auch Polizeibeamte Gefühle zeigen“, sagt Fuhrmann. Nach einem traumatischen Ereignis wie einer Schussabgabe oder dem Einsatz bei einem schweren Verkehrsunfall obliegt es dem Dienststellenleiter, seinen Beamten für einige Tage vom normalen Dienst abzuziehen. Normal sei, erklärt Fuhrmann, dass ein Polizist noch zwei oder drei Wochen unter seinen Eindrücken leide. Dauert es länger, empfiehlt er einen Notfallseelsorger oder den psychosozialen Dienst.
Stress nach dem Schuss
Eine Studie für die Deutsche Polizeihochschule kommt zu dem Ergebnis: Ein Drittel der Beamten zeigt nach einem Schusseinsatz nur geringfügige Stressreaktionen. Bei einem weiteren Drittel ist die Belastung größer, nimmt jedoch nach einigen Tagen oder einigen Wochen wieder ab. Ein letztes Drittel der Polizeibeamten hat dagegen über einen längeren Zeitraum mit den psychischen Folgen von Schusseinsätzen zu kämpfen. Einige finden nie mehr den Weg zurück in den Streifendienst.
Wie üblich, werden auch gegen den Todesschützen im Fall Grigorij S. Ermittlungen aufgenommen. Noch am Tag des Einsatzes wird er vom Staatsanwalt befragt. Die Ermittlungen seien ein „rechtsstaatliches Grundprinzip und keine Vorverurteilung“, erklärt der Memminger Polizeihauptkommissar Fuhrmann. Dies vermittle er auch den Polizisten, denn für diese sei es durchaus problematisch, wenn nach so einem Ereignis „jemand kommt und es wagt, das Erlebte zu hinterfragen“.
Für den Polizisten, der im März 2015 in Memmingen die tödlichen Schüsse auf Grigorij S. abgegeben hat, währt der Status als „Beschuldigter“ nur kurze Zeit. Die Gutachten des Landeskriminalamts stützen die Annahme der Notwehr. Nach einigen Tagen Auszeit sind der Schütze und seine Kollegen in ihrem normalen Dienst zurückgekehrt.
Seit 1990 wurden mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen. Wie lässt sich das erklären? Das ganze Dossier von Erik Peter und Svenja Bednarczyk finden Sie unter taz.de/polizeitote
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