Dafür Sie vertrauen Erdoğan, er schenke Freiheit. Wer stimmte in der Türkei mit Ja? Ein Besuch an der Küste: „Er ist einer von uns“
Aus Mersin ABİDİN YAĞMUR
Tuncay Bulgun hat mit „Evet“ gestimmt. 61 ist er und Kurde, seit mehr als drei Jahrzehnten lebt er in der türkischen Hafenstadt Mersin. Hier, an der östlichen Mittelmeerküste, betreibt er einen kleinen Textilhandel in der Altstadt, weil die Rente nicht reicht. 1.400 Lira bekommt Bulgun, der sagt, er arbeite seit seiner Kindheit. 370 Euro, mit denen er eine vierköpfige Familie zu ernähren versucht. Es hilft kaum, die Geschäfte laufen schlecht.
Bulguns Jastimme beim Referendum galt nicht unbedingt der Regierungspartei AKP, sagt er. Sie galt dem Staatspräsidenten Erdoğan: „Ich glaube nicht, dass unser Land jemals vom Volk regiert wurde. Es waren immer ausländische Kräfte im Spiel. Bis Erdoğan kam.“
Erdoğan, meint er, sei der einzige Führer, der es mit dem Westen aufnehme.
In den Siebzigern hat Bulgun die Linken gewählt, in den Achtzigern die Liberalen. Seit 2002 stimmt er jedes Mal für die AKP, 15 Jahre beobachte er Erdoğan nun. „Ich vertraue ihm“, sagt er und schweigt kurz. „Natürlich ist nicht alles, was er tut, richtig“, fügt er dann hinzu. „Zum Beispiel, was die Wirtschaft angeht. Aber das Gesundheitssystem hat sich sehr verbessert.“
Auf Stabilität hoffen
Und die Vorwürfe, das Referendumsergebnis sei manipuliert worden? „Nein, es gab keinen Betrug“, sagt Bulgun. „Das Volk hat frei gewählt.“
In Mersin sehen das einige anders. Mersin ist eine von vielen türkischen Städten, in denen die Menschen seit Tagen gegen das fragwürdige Ergebnis des Volksentscheids vom 16. April demonstrieren. Die Wahl, die über die Verfassungsänderungen und die Einführung des Präsidialsystems entscheiden sollte, ging knapp aus. 51 Prozent der türkischen Wählerinnen stimmten mit Ja.
Problematisch fanden viele Wahlbeobachter, darunter das internationale Team der OSZE, dass wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale das Wahlgesetz verändert wurde. Auch Stimmzettel ohne behördlichen Stempel, die normalerweise ungültig wären, wurden für gültig erklärt. Für viele Bürger sind das Gründe, an dem knappen Ergebnis zu zweifeln. Rund 2,5 Millionen Stimmen seien gefälscht worden, sagt die Opposition.
In Mersin stimmte man mit 64 Prozent mit Nein – während bei den Parlamentswahlen im November 2015 die AKP noch eine Mehrheit bekommen hatte. Aufgrund der hohen Zahl von Zugezogenen gehört die Hafenstadt zu den wenigen Orten in der Türkei, wo die drei großen Parteien AKP, die rechtsextreme MHP und die linkskemalistische CHP bei vergangenen Wahlen auf über 25 Prozent kamen. Selbst die prokurdische HDP kam 2015 auf 15 Prozent. Wie Wahlen ausgehen, ist in Mersin nie abzusehen.
Bekir Algüllü, Diplomphysiker, gehört zu den 36 Prozent, die hier mit Ja gestimmt haben. Er hat in seiner Branche keinen Job gefunden und verkauft darum Autozubehör in einem Laden auf einer der belebteren Einkaufsstraßen der Stadt. An diesem Nachmittag ist er noch keine einzige Ware losgeworden – wie meistens, sagt er. „An vielen Tagen schließe ich, ohne etwas verkauft zu haben.“ Er hofft auf Stabilität. Für sich und für sein Land. „Die Türkei soll nichts ins Chaos stürzen. Der Markt soll wieder belebt werden, deshalb habe ich mit Ja gestimmt.“
Algüllü ist davon überzeugt, dass die meisten Ja-Wähler das neue Regierungssystem verstanden haben und an es glauben. Er vertraue Erdoğan, sagt er, weil dieser ein Politiker sei, der das Volk kenne. „Er ist einer von uns. Es beeindruckt uns, wenn er arme Familien besucht und mit ihnen zu Abend isst.“
Und dann sei da noch seine Außenpolitik. „Unser Volk hat sich Europa gegenüber immer unterlegen gefühlt“, sagt Algüllü. „Natürlich gefällt es uns nun, wenn Erdoğan der EU die Stirn bietet.“
Zwar denke er nicht, dass das Ergebnis des Referendums manipuliert worden sei. Dennoch finde er, „dass man den Fall aufklären“ und den anderen 49 Prozent „entgegenkommen muss“.
Bis vor Kurzem hatte Mersin durch den Export von Zitrusfrüchten neuen Wohlstand erlangt. Nachdem der Exportmarkt kleiner wurde, vor allem nach den Boykott durch Russland, ist allerdings nicht viel von diesem Wohlstand geblieben. Einige Zitrusfrüchtebauern haben ihre Arbeit eingestellt, manche ihre Felder an Bauunternehmen verkauft.
Zu neuer Macht führen
Hidayet Dinçer, 52 Jahre, hat es anders gemacht: Er ist in den Einzelhandel gewechselt. Auch er glaubt, dass Erdoğan der einzige Präsident ist, der die Türkei zu neuer Macht führen kann. „Ich finde gut, wie er sich vom Westen nicht kleinkriegen lässt.“ Mit dem neuen Präsidialsystem werde es keine Chance mehr geben, dass ausländische Kräfte sein Land regierten.
Gül Bülbül, 40 Jahre alt, hat aus religiösen Gründen mit Ja gestimmt. Sie wollte einst Lehrerin werden und wurde aufgrund ihres Kopftuchs von der Universität exmatrikuliert. Heute arbeitet sie am Anmeldungsschalter des Stadtkrankenhauses. Dass es inzwischen kein Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen, etwa im Stadtkrankenhaus, mehr gibt, habe die Türkei Erdoğan zu verdanken, glaubt Bülbül.
Ihre Exmatrikulation sei in den Neunzigern gewesen, sagt sie – zur selben Zeit, als Erdoğan inhaftiert wurde, weil er ein religiöses Gedicht öffentlich verlesen hatte. „Wir wurden überall beschimpft. Man hat uns das Recht auf Bildung verweigert.“ Dank Erdoğan aber hätten Frauen wieder das Haus verlassen und arbeiten können. „Wenn es ein anderer Präsident gewesen wäre, der mir meine Glaubensfreiheit wieder schenkt“, sagt Bülbül, „würde ich heute für ihn stimmen.“
Abidin Yağmur, 38, schreibt unter anderem für die Zeitung Cumhuriyet.
Übersetzung: Fatma Aydemir
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