Kolonialgeschichte: Der Ursprung unseres Reichtums
Europäische Meistererzählungen und das koloniale Erbe: der neue Nationalismus und was in seinem Schatten glatt vergessen wird
Europa befindet sich in einem Zustand erregter Verunsicherung. Jahrzehntelange Gewissheiten werden zunehmend infrage gestellt. So hat sich etwa Großbritannien in einem Referendum für den Austritt aus der EU, den „Brexit“, entschieden. In den Niederlanden trieb Geert Wilders die etablierten politischen Kräfte erfolgreich vor sich her nach rechts. Und in den französischen Präsidentschaftswahlen kann Marine Le Pen im ersten Wahlgang vielleicht sogar die meisten Stimmen auf sich vereinen, wenn sie sich wohl auch (noch) nicht in der Stichwahl durchsetzen mag. In Polen und Ungarn drohen autoritäre Bewegungen den Staat zu vereinnahmen.
Welchen Weg Deutschland nehmen wird, ist noch nicht absehbar: Der Auftrieb der neuen Rechten scheint hier vorerst etwas abgeschwächt, die jahrzehntelange Vergangenheitsaufarbeitung doch einen gewissen Schutz vor allzu offen rassistischen und xenophoben politischen Positionen zu bieten.
Fast überall war in den letzten Monaten eine nationalistische, populistische Rechte im Aufwind, die allerorten den Diskurs vom Weltoffenen, Kosmopolitischen zum Nationalistischen verschob und mancherorten immer noch verschiebt.Die Gründe dafür sind vielfältig, wurzeln in nationalen Politiken des Neoliberalismus ebenso wie in den Auswirklungen der Globalisierung. Abschottung, Abkoppelung, nationale Alleingänge scheinen einen Ausweg zu versprechen aus den Komplikationen der verflochtenen und immer schneller werdenden Welt.
Neues soll zurückgedreht werden
Diese globalisierte und verbundene Welt wird als neu wahrgenommen, als Entwicklung, die es zurückzudrehen gilt. Das versprechen zumindest Populisten aller Couleur, die eine Vergangenheit beschwören, die diese Verflochtenheit und gegenseitige Abhängigkeit angeblich nicht kannte, in der der menschliche Erfahrungsrahmen lokal war, in welcher die eigene Bezugsgruppe aus sich heraus und in Selbstgenügsamkeit ihre Geschicke lenkte, zum Wohle aller, die dazugehören.
Diese Fokussierung auf die regionale oder nationale Geschichte geht einher mit dem Wiederauferstehen heroischer Geschichtsnarrative, welche allen Wohlstand, alle „Errungenschaften“ aus sich selbst heraus erklären, zur eigenen „Leistung“ machen und so die eigene Auserwähltheit bestätigen. Im Gegenzug legen nicht eigene Taten oder Versäumnisse den Grundstock für die Verflechtung der globalisierten Gegenwart, sondern externe Entwicklungen. Die Flucht in die Vergangenheit ist auch eine Flucht aus der Vergangenheit.
Diese Entwicklung läuft synchron zur alltäglichen Erfahrung gesteigerter und von vielen als bedrohlich wahrgenommener Internationalisierung, für die die Europäische Union, geflüchtete Menschen oder aber allgemein die Globalisierung stehen. Die eigene historische Leistung wird beschworen, positiv abgesetzt von der anderer. Der eigene Wohlstand wird als vollständig aus eigener Leistung stammend behauptet, was zugleich die Schuld am Ausbleiben eben dieses Wohlstandes einseitig und ausschließlich den Menschen aus ärmeren Regionen zuschreibt, von denen einige den gefährlichen Weg nach Europa suchten. Letztere und die Gesellschaften, aus denen sie stammen, sind in dieser Lesart selbst schuld an ihrem Elend. Ein Anspruch auf Solidarität oder Hilfe besteht nicht.
Europa grenzt sich ab
Europa wird im Zeichen der Europakritik essenzialisiert, sein Wohlstand als aus sich selbst gewachsen präsentiert, als Beleg für die inhärente Leistungsfähigkeit und Überlegenheit. So entsteht ein Geschichtsbild von der europäischen Überlegenheit, das sich wahlweise auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder europäische Werte beruft, um sich vom nicht-europäisch Anderen abzugrenzen. Im Namen der Illiberalität wird die Aufklärung beschworen, Frauenrechte im Namen eines neochristlichen Fundamentalismus gegen den Islam ins Feld geführt.
Dabei wird völlig verschwiegen, worauf der Reichtum Europas basiert, wie er erworben wurde, und auf welcher (materiellen) Grundlage die geistesgeschichtlichen Leistungen der Aufklärung, der Kodifizierung von Menschenrechten oder die Frauenemanzipation eigentlich entwickelt wurden. Von der europäischen Expansion, die in einem sechshundertjährigen Prozess weite Teile der Welt unterwarf, bleibt dabei nur das auf dem Rücken von Ausbeutung und Versklavung geschaffene Europa im Bild, nicht aber das Leid und die Leistung derer, welche die Kärrnerarbeit dafür leisteten.
Europas Krise ist eine Krise der Geschichtsbilder
Die Krise des liberalen Europa ist auch eine Krise der Geschichtsbilder. Nun rächt sich, dass in praktisch allen europäischen Ländern, die nahezu allesamt aktiv am kolonialen Projekt beteiligt waren, die Beteiligung am Kolonialismus, seine Folgen für die Kolonisierten und sein Nutzen für die Kolonisierenden niemals aufgearbeitet wurde. Europa diskutierte – und das völlig zu Recht – über die Verbrechen des Faschismus und des Dritten Reiches, über die Teilung des Kontinents im Kalten Krieg und die Bedeutung der sowjetischen Hegemonie für Osteuropa. Über die gleichzeitige Dekolonisation weiter Teile der Erde und vor allem die jahrhundertelange Geschichte dieser Kolonialreiche bis zu diesem Zeitpunkt wurde geschwiegen. Allenfalls hielt sich eine nostalgische Verklärung des Abenteuerlichen und Exotischen.
Die Millionen Toten der Teilung des indischen Subkontinents 1947 wurde ebenso wenig thematisiert wie die Opfer der Mau-Mau-Bewegung im britischen Kenia, die Brutalität der indonesischen Unabhängigkeit oder die Schrecken des Algerienkrieges; zumindest was das offizielle Erinnern in den Kolonialmächten angeht. Noch im Frühjahr 2017 musste sich der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron erhebliche Kritik seiner konservativen Gegner anhören, weil er bei einem Algerienbesuch darauf hinwies, dass die französische Armee „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen habe. Er würde unpatriotisch handeln und sich nur die Stimmen algerischer Einwanderer erschleichen wollen, hieß es.
Dass dies umgekehrt auch für die Ablehnung der längst historisch bewiesenen Tatsachen gälte, mithin es Marine Le Pen und François Fillon um die Stimmen der Pieds-Noirs ging, wurde nicht erwähnt. Auch dass in London Planungen für Handelsabkommen nach dem erfolgten Brexit unter dem Schlagwort „Empire 2.0“, also dem Relaunch einer alten Idee firmieren, gehört in diesen Kontext. Schon die Auseinandersetzungen über den EU-Austritt standen unter dem Zeichen imperialer Nostalgie.
Befreit von den Zwängen der EU
Nur so lassen sich die Hinweise auf die globalen Handelsverbindungen erklären, die man nun, befreit von den Zwängen der EU, spinnen würde. Als habe das Empire in der Form des Commonwealth nur darauf gewartet, dass Großbritannien wieder in seine angestammte Rolle am Ruder des Staatenverbandes zurückkehre. Dass das Vereinigte Königreich das Empire nicht freiwillig verlassen hatte, wurde dabei geflissentlich ebenso übersehen wie die unterschiedliche Bewertung der kolonialen „Errungenschaften“ aus der Sicht der ehedem Kolonisierten.
Im diskursiven Abwehrkampf gegen die Globalisierung wird von den Demagogen auf ein Geschichtsbild zurückgegriffen, das längst obsolet ist und von der Wirklichkeit überholt wurde. Es ist ein Geschichtsbild, in dem die postkoloniale Dekolonialisierung nicht stattgefunden hat, in dem die Globalisierung abgekoppelt ist von der sechshundertjährigen Geschichte des europäischen Kolonialismus.
Wenn man diesen Kolonialismus adäquat in die Identitätserzählung einbaut, wird die Meistererzählung von der europäischen Leistungsfähigkeit ergänzt und relativiert um eine der Ausbeutung und der gewaltsamen Ressourcenallokation im globalen Norden. Aus der Globalisierung als neuer Entwicklung, welche die Idylle der „Heimat“ und den Wohlstand der im globalen Norden lebenden Menschen gefährdet, wird dann das vorläufige Schlusskapitel einer Entwicklung, welche die Europäer primär selbst zu verantworten hatten.
Der Autor des Textes, Jürgen Zimmerer, ist Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg und Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die (frühe) Globalisierung“. Er wird am 11. April beim taz.salon „Wie umgehen mit der Kolonialgeschichte“ in Hamburg auf dem Podium sitzen.
Dieser Text von Zimmerer ist Teil des Schwerpunktes „Payback-Time“ zum Umgang mit dem kolonialen Erbe. Mehr in der taz.am wochenende oder hier.
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