Freispruch nach Silvester-Übergriffen: Ermittlungsfehler unter Erfolgsdruck
Der wohl letzte Prozess zu den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht endete mit Freispruch. Das Gericht kritisierte die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft.
Kritik an Ermittlungen
Auch in dieser Urteilsbegründung – wie schon in zwei vorherigen Verfahren – übte Richterin Schoel Kritik an den Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Man müsse sich fragen, warum der Angeklagte angesichts der „dünnen Beweislage“ überhaupt in Untersuchungshaft gekommen sei und warum die Staatsanwaltschaft so vehement an der Anklage festgehalten habe. Wie schon in den anderen Verfahren im Zuge der Silvester-Übergriffe basierte auch die Anklage gegen den 34-jährigen S. vor allem auf Fotos eines Partyfotografen, die den vermeintlichen Opfern vorgelegt worden waren.
Einem Opfer sei von einer Kriminalbeamtin ein Foto gezeigt worden, das nach Feststellung des Gerichts 15 Minuten nach der Tat aufgenommen wurde. Die 21-Jährige habe auf dem gezoomten Bild den nicht ermittelten Haupttäter erkennen und die Gruppe mit dem Angeklagten einkreisen sollen. Die Beamtin habe gewusst, dass die Zeugin dazu gar nicht in der Lage war, weil das Bild nicht zum Tatzeitpunkt aufgenommen wurde, so die Richterin.
Wegen sexueller Übergriffe in der Silvesternacht 15/16 gab es 243 Anzeigen von 403 betroffenen Frauen, die belästigt, begrapscht und bestohlen wurden.
Die Ermittlungsgruppe „Silvesternacht“ konnte 23 Tatverdächtige ermitteln, vor allem durch die Ortung geklauter Handys.
Fünf Männer mussten sich in Gerichtsverfahren verantworten, weil die Frauen glaubten, sie auf Fotos als Täter identifiziert zu haben. Sie wurden allesamt freigesprochen.
Zuletzt musste selbst die Anklagebehörde eingestehen, dass eine Zeugin nur glaubte, den Angeklagten S. als Täter wiedererkannt zu haben. Das sei ein Irrtum gewesen, so das Gericht, richtig erinnert habe sie sich nicht.
Staatsanwaltschaft bestand auf U-Haft
Da die massenhaften Übergriffe öffentlichen Druck erzeugten, legte sich die Polizei bei der Tätersuche schnell fest, ohne entlastendes Material – so zum Beispiel Handyfotos, die den Angeklagten zur Tatzeit am S-Bahnhof Reeperbahn zeigten – zu berücksichtigen. Schon in einem anderen Verfahren stellte sich erst im Gerichtssaal heraus, dass der Angeklagte nicht der Täter gewesen sein konnte, weil er zu klein war.
Auch der am Donnerstag zu Ende gegangene Prozess hatte einen speziellen Vorlauf. Im April vergangenen Jahres hatte das Gericht den Haftbefehl gegen S. aufgehoben, da es keinen hinreichenden Tatverdacht gesehen hatte. Dagegen legte die Staatsanwalt Beschwerde wegen Befangenheit ein, da die Anklagebehörde vor der Entscheidung nicht angehört worden war. Die Beschwerde wurde zwar zurückgewiesen, da das Gericht aber über den Kopf der Staatsanwaltschaft hinweg eigene Nachermittlungen anstellen ließ, hatte ein weiterer Befangenheitsantrag teilweise Erfolg. Der Kammervorsitzende wurde ausgetauscht. „Das ist ein etwas außergewöhnlicher Vorgang“, sagt Gerichtssprecher Kai Wantzen.
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