piwik no script img

Plattenbauromantik in LeipzigPerle mit Zaun

Leipzigs Stadtteil Grünau kämpft mit einem Ruf als Brennpunkt. Doch das Image könnte sich ändern. Immer mehr Menschen ziehen in die Platte.

In Grünau finden sich immer noch Spuren des Sozialismus Foto: dpa

LEIPZIG taz | „Ganz ehrlich, ich bin genervt.“ Antje Kowski schnaubt, ihre Stimme wird lauter und schneller. Zusammen mit ihrem Mann leitet sie das Quartiersmanagement im Leipziger Stadtteil Grünau, kümmert sich um Projekte im Stadtteil und vermittelt zwischen Bürger_innen und Politik.

Grund für ihren Zorn: Ein Zaun, der vor einigen Wochen um zwei Wohnblöcke und einen Innenhof der Plattenbausiedlung gezogen wurde. 1,63 Meter hoch aus Doppelstahlmatte – angeblich wegen eines Asylbewerberheims, das im März in unmittelbarer Nachbarschaft eröffnet.

Die Bild-Zeitung stürzte sich Anfang Februar auf die Geschichte und titelte „Aus Angst vor Flüchtlingen: Leipziger Wohnsiedlung zäunt sich ein.“ Namentliche Quellen konnte die Autorin keine nennen. Warum auch, schließlich passt die Schlagzeile zu gut in das Bild, das Medien gern von Grünau zeichnen: Migrant_innen, Fremdenfeindlichkeit, raues Pflaster, sozialer Brennpunkt.

Dass der Zaun schon seit gut zwei Jahren geplant ist, wurde großzügig ignoriert. Das zeigt: Auch wenn sich in den vergangenen Jahren viel getan hat, Grünau kann die Vergangenheit so schnell nicht abschütteln. Zu tief sitzen die Vorurteile.

Besuch vom holländischen Königspaar

Der Wirbel um den Zaun kam Antje Kowski auch zeitlich so gar nicht gelegen. Denn für Mitte Februar hatte sich royaler Besuch angekündigt. Das holländische Königspaar kam auf ihrer Deutschlandtour auch nach Leipzig. Der ausdrückliche Wunsch von König Willem-Alexander und Königin Máxima: eine typische ostdeutsche Platte sehen.

Lieber hätte ihnen Bürgermeister Burkhard Jung zwar einen anderen Teil Leipzigs vorgeführt, das von Investoren seit Jahren aufgehübschte Plagwitz zum Beispiel. Auch die Grü­nauer_innen fragten sich heimlich, was die hier eigentlich wollen. Doch das Königspaar setzte sich durch, und so wandelten sie schließlich in schickem Frack und Kleidchen zwischen grauen Betonpfeilern, Spielplätzen und den dick eingepackten Bewohner_innen umher.

Nach Fertigstellung der Siedlung in den 80ern lebten 85.000 Menschen in Grünau

Das Königspaar war äußerst interessiert, stellte viele Fragen zur größten Plattenbausiedlung Sachsens. Erbaut in der ehemaligen DDR, sollte Grünau einmal ein moderner und junger Stadtteil werden. 1976 hatte man mit dem Bau des ersten Wohnkomplexes begonnen, sieben weitere kamen hinzu. Als die Großraumsiedlung in der 1980ern fertiggestellt wurde, lebten dort 85.000 Menschen – der vorläufige Höhepunkt.

Grünau war damals ein Privileg: Moderne Wohnungen, Technik auf dem neuesten Stand – ganz anders als in den Altbauten der Innenstadt, wo das Etagenklo und die Kohleheizung nur wenig Komfort boten. Hier lebten alle in gleichen Wohnungen unter gleichen Bedingungen, ob Arbeiter, Familie, Arzt oder Professor. Die Platte als sozialistische Utopie.

Doch Grünau wurde als sogenannte Schlafstadt gebaut: Die Arbeit und das Leben sollten sich woanders abspielen. Dieses Image hängt dem größten Stadtteil Leipzigs noch heute nach und wirkt sich auch auf die Stadtteilplanung aus. Es gibt nur wenig Gewerbe, die Kommune zieht sich immer mehr zurück. Kultureinrichtungen für Jugendliche und Senioren werden geschlossen, die Stadtteilbibliotheken befinden sich in einem schlechten baulichen Zustand.

Kürzlich hat eine Außenstelle des Sozialamts geschlossen, vor fünf Jahren bereits ein Bürgeramt, über das zweite Bürgeramt wird immer wieder diskutiert. Auch die Sparkasse, teilweise in städtischer Trägerschaft, will ab 2018 sechs Filialen schließen – zwei davon in Grünau.

Abriss und Aufbau

Besonders schlecht sieht es bei Schulen, Kindergärten und Kitas aus. Obwohl die Schülerzahlen stetig steigen, wird in Grünau nur schleppend saniert. So wie die 84. Oberschule in der Stuttgarter Allee befinden sich viele Schulen nach wie vor in 70er-Jahre-Platten mit maroden Fenstern und schimmligen Kellern. Im Sanierungsplan der Stadt fallen sie regelmäßig hinten runter. Dieser Zustand schmerzt den Stadtrat der CDU Andreas Habicht besonders: „Wenn die Heizung nicht funktioniert, gehen die Kinder auch nicht gerne zur Schule.“

Den Sanierungsstau kann man der Stadt nicht verübeln. Nach der Wende zogen viele weg aus Grünau. Vor allem junge Menschen und Familien suchten ihr Glück an anderen Orten. Zurück blieben Alte und Einkommensschwache. Heute ist Grünau mit einem Durchschnittsalter von 48 Jahren der älteste Stadtteil – mehr als fünf Jahre über dem Leipziger Durchschnitt. Bis 2010 halbierte sich die Bewohnerzahl, zeitweise standen bis zu 20 Prozent der Wohnungen leer. Ein Kran zwischen den Plattenbauten bedeutete zu dieser Zeit öfter Abriss als Aufbau.

Die taz im Neuland

Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.

Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de

Heute wächst Leipzig jährlich um 10.000 Einwohner_innen. „Das hatte man damals nicht kommen sehen“, erinnert sich Antje Kowski. Wohnraum in der Innenstadt wird knapper und teurer. Davon profitiert nun Grünau: Abrisse sind heute kein Thema mehr, und die Leute ziehen wieder her. Viele von ihnen sind Rückkehrer. Sie haben, wie Antje Kowski, schon ihre Kindheit hier verbracht.

Auch junge Familien kommen wieder verstärkt. Sie schätzen das gute Wohnungsangebot und die Infrastruktur. Sogar einige Studierende will man zwischen den Plattenbauten schon gesichtet haben.Deshalb haben Investoren jetzt die Platte für sich entdeckt. Zwar ist der Großteil der Wohnkomplexe nach wie vor in der Hand von Genossenschaften wie Unitas und Lipsia, doch auch private Investoren erwerben immer mehr Gebäude. Schließlich steht noch immer jede siebte Wohnung in Grünau leer.

Doch mit einigen der privaten Eigentümer gibt es bereits Probleme. Ein luxemburgischer Investor ist für die Bewohner_innen der Ringstraße und Wohnkomplex 8 nicht ansprechbar. „Da tut sich nichts mehr“, beklagt Sören Pellmann, Vorsitzender der Linken in Grünau. „Der saniert nicht, der repariert nicht, der ist auch nicht ansprechbar, wenn die Heizung ausfällt.“

Glück in der Platte

Andere private Eigentümer vermieten vorwiegend an Migrant_innen um die leer stehenden Wohnungen möglichst schnell besetzen zu können. Die Alteingesessenen werden nicht in den Prozess involviert, sie fühlen sich übergangen. Stadtrat Heiko Bär (SPD) vermisst hier eine längere Perspektive: „Da wird überhaupt nicht geschaut, ob das soziale Gefüge noch stimmt.“

Auf dem engen Raum der Plattenbauten sind so Probleme vorprogrammiert: Fehlende Kommunikation und Sprachkenntnisse führen zu Streit über die Hausordnung und nächtliche Ruhe. Nachhaltige Stadtteilentwicklung sieht anders aus. Doch entsprechende Ideen im Stadtrat durchzubekommen ist schwierig, sagt Bär. „Wir sind nur vier Stadträte, damit ist die politische Vertretung aus Grünau relativ schwach.“

Daran sind auch die Grünauer_innen selbst schuld – die Wahlbeteiligung ist niedrig. Das spürt auch CDU Stadtrat Habicht: „Den Stadtrat davon zu überzeugen, dass etwas im Stadtteil gemacht werden muss, das ist Schwerstarbeit.“

Zwar sei die Stadt gewillt, zu erhalten, was da ist. „Aber es fehlt noch eine Vision für Grünau“, beklagt Habicht. „Die Stadt hat Grünau als Perle noch nicht entdeckt.“ Dafür die Bewohner_innen selbst – das zeigt eine Intervallstudie des Umweltforschungszentrums: 68 Prozent der Grünauer_innen sind uneingeschränkt glücklich mit ihrer Wohnsituation.

Heute steht der Zaun, das lässt sich nicht leugnen. Manche nennen als Grund die andauernden Kellereinbrüche, Hundekot im Hof und Scherben im Sandkasten. Andere finden den Zaun auch gut, weil er sie von den Asylbewerber_innen abschirmt. „Natürlich hat Grünau seine Probleme“, sagt Antje Kowski. „Haben andere Stadtteile doch auch.“ Doch Grünaus größtes Problem ist und bleibt sein schlechter Ruf.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!