Die 130-Millionen-Einwohner-Stadt: Willkommen in Jing-Jin-Ji
In China entsteht eine Metropole für 130 Millionen Einwohner. Das sind mehr Menschen, als in Deutschland, Polen, Österreich und der Schweiz leben.
Zhang Wei hatte sich mit ihrem Laden einst auf Blumenmuster spezialisiert. Sie zeigt auf eine Kleiderstange mit Blusen, Röcken und Mänteln. Mäntel und Röcke mit Blumen bestickt, Kleider und T-Shirts mit Blumen gemustert. Sie stehe auf dunkle Farben, sagt sie. „Bourdeauxrot, Schwarz, Lila, dunkles Grün.“ Sie selbst trägt ein weinrotes Oberteil mit einer Blumenrosette, darüber eine schlichte Jacke, ohne Blumen. „Kontrast“, sagt sie knapp. Damit ihre Ware mehr hervorsticht.
Blumen erinnert sie an ihre Heimat im fruchtbaren Süden des Landes. Peking hingegen ist karg und trocken. Sie schlägt mit der Hand auf die Mäntel, Staub wirbelt auf. Dabei habe sie erst vor zwei Tagen sämtliche Kleiderstücke ausgeklopft, sagt sie. Pekings Trockenheit sei aber nicht der einzige Grund für den Staub. Sie zeigt auf das Ende des Gangs. Bauarbeiter reißen Zwischenwände ein. „Chai“ steht in großen Schriftzeichen geschrieben: „Abriss“.
Noch vor Kurzem war diese Gegend in der Nähe des Pekinger Zoos bekannt für seine Kleidermärkte. Einkaufskomplexe mit Tausenden von Boutiquen und Marktständen säumten die große Kreuzung an der zweiten Ringstraße. Sie boten Mode für ziemlich jeden Geschmack – grell, schlicht, Winter- und Sommerklamotten zu jeder Jahreszeit, günstig und massenhaft. Mongolen, Kasachen, selbst Russen kamen angereist und stopften ihre Plastiktaschen mit Jeanshosen, Lederjacken und T-Shirts voll.
„Wer fährt schon freiwillig nach Hebei?“
„Das ist nun vorbei“, sagt Zhang Wei. Sie zeigt über die Straße auf eine gigantische Baustelle. Dort stand mal Tianhaocheng, der größte Kleidermarkt in Peking. Er ist bereits abgerissen und wird im Umland in der Nachbarprovinz Hebei neu errichtet, sagt sie. Dem Einkaufszentrum, in dem Zhang Wei ihre Blusen, Kleider und Mäntel verkauft, steht das gleiche Schicksal bevor. Ihr Geschäft in Hebei fortführen? „Unrealistisch“, antwortet sie. „Wer fährt schon freiwillig nach Hebei?“
Jing-Jin-Ji lautet das Zauberwort, das die Regierung ausgegeben hat: dreimal J, dreimal i, zweimal n. An diesen Zungenbrecher sollten sich auch Europäer langsam gewöhnen. Jing-Jin-Ji – das sind Bei-Jing, Tian-Jin, und Ji, der traditionelle Name der umliegenden Provinz Hebei. Die größte Megametropole der Welt soll bis 2030 hier entstehen mit über 200.000 Quadratkilometern – die doppelte Fläche von Bayern – und mit 130 Millionen Einwohnern mehr Menschen, als in Deutschland, Schweiz, Österreich und Polen leben.
Damit die Infrastruktur mithalten kann, sind Hochgeschwindigkeitstrassen im Bau. Und mit mehr als 1.000 Kilometern Länge wird die siebte Ringstraße vorangetrieben. Peking mit seinen über 20 Millionen Einwohnern und die benachbarte Hafenstadt Tianjin mit weiteren zehn Millionen platzen aus allen Nähten, Wohnungspreise schießen in die Höhe, es fehlt an Schulen, Kindergärten, Spielplätzen und Grün.
Es stinkt nach Schwefel und Kohlebrand
Vor allem aber steckt Peking im Dauerstau. Mehr als sechs Millionen Autos rollen täglich über eine der sechs Ringstraßen. Lücken in der Blechlawine tun sich selten auf, das macht die Autofahrer aggressiv. Die U-Bahn ist keine Alternative, da auch sie meist verstopft ist. Und dann ist da die Luftverschmutzung. Fast die Hälfte des Jahres umhüllt ein graugelber Schleier die Stadt, an extremen Tagen stinkt es nach Schwefel und Kohlebrand.
Dehnen sich die beiden Städte in die umliegende Provinz aus, könnten sie von Verkehr und Luftverschmutzung zumindest ein Stück weit entlastet werden – so die Idee der chinesischen Regierung. Peking soll Zentrum für Politik und Kultur bleiben und sich auf Hochtechnologie und Dienstleistungen konzentrieren. Die Hafenstadt Tianjin wird sich als Industriezentrum positionieren, Hebei soll Zentrum für Handel werden. Jing-Jin-Ji soll so die wirtschaftsstärkste Megametropole der Welt werden. Trotz allem muss sie aber auch lebenswert sein. Das derzeit noch trostlose Hebei soll auch Naherholung bieten.
Doch viele Pekinger trauen den Plänen nicht. Sie wollen ihre Stadtviertel nicht freiwillig verlassen. Die Pekinger Führung hilft daher nach. Teile der Stadtverwaltung hat sie bereits in den Außenbezirk Tongzhou verlegt. Die Zwangsverlagerung der Kleidermärkte gehört auch dazu.
Frau Nings Schweißperlen
Ihre Nachbarn kennt Ning Xiaoxiao kaum. Freunde hat sie in ihrer Umgebung auch keine. Sie seien allesamt weggezogen. Ning Xiaoxiao hat vom Treppensteigen Schweißperlen auf der Stirn. Der Fahrstuhl ist defekt. Dennoch ist sie froh, dass ihr die Zweizimmerwohnung gehört. Sie ist alles andere als ein Juwel, ein Plattenbau aus den achtziger Jahren, die Wandfarbe blättert und die einst weißen Fensterrahmen sind dunkel vom Smog. Auch das Treppenhaus ist heruntergekommen, Müll stapelt sich.
Für diese Wohnung spricht, dass sie nur etwas außerhalb des dritten Rings liegt, für Peking also noch zentral. Vom Balkon aus blickt Ning Xiaoxiao auf den Chaoyang-Park, dahinter auf ein Meer von Hochhäusern. Es ist später Abend. Sie hat lange gearbeitet. Ning lässt sie sich auf einen Stuhl fallen. „Ich bin so froh, dass ich damals zugeschlagen habe“, erzählt sie. Würde sie heute eine Wohnung suchen – sie könnte sich keine mehr leisten.
Dabei gehört Ning noch zu den Wohlhabenden. Sie ist 32 Jahre alt und leitet ein Start-up, das ein Videoportal betreibt. Ning verdient rund 30.000 Yuan im Monat, etwa 4.000 Euro, viermal so viel wie der durchschnittliche Pekinger. Die Miete könnte sie sich hier trotzdem kaum leisten. 20.000 Yuan im Monat sind nicht selten. Und ein Kauf käme sowieso nicht mehr in Frage.
Peking für Millionäre
Hatte Ning 2012 mit Hilfe ihrer Familie noch rund 3.500 Euro pro Quadratmeter bezahlt, hat sich der Preis mehr als verdoppelt. Allein seit Jahresbeginn sind die Immobilienpreise um 30 Prozent gestiegen. „Wer heute jung ist, top ausgebildet ist und einen guten Beruf gefunden hat, kann trotzdem nicht nach Peking ziehen“, sagt Ning. „Zu teuer.“
Der Immobilienboom hat das soziale Gefüge durcheinandergebracht. Wer schon seit 20 Jahren in der Stadt lebt, hat Glück. Er bekamen Ende der 90er und Anfang der nuller Jahre im Zuge der Liberalisierung des Wohnungsmarkts die Wohnung, bis dahin in staatlicher Hand, für wenig Geld übertragen. Ob Putzfrau, Taxifahrer oder Verwaltungsangestellter – der Boom hat sie nun zu Millionären gemacht.
Daran will die chinesische Führung nicht rütteln. Jing-Jin-Ji soll diesen Reichtum aber in die Provinz tragen. Ein Stück weit geht die Strategie auf. Diejenigen, die ihre Wohnungen nun verkauft haben und in einer der neuen Satellitenstädte in Hebei leben, sitzen auf sehr viel Geld. Arbeiten müssen sie nicht mehr.
Herr Cai braucht Sicherheit
Dieses Glück hat Cai Canggong nicht. Der 51-Jährige ist aus anderen Gründen nach Hebei gezogen. Er ist Chef der Vicutu Clothing Company. Er hat kurzes nach hinten gegeltes Haar. Ein Hemdzipfel hängt aus seinem Jackett heraus. Der Kragen sitzt schief. Stolz zeigt er die neue Halle. Die Wände sind frisch gestrichen, der Geruch der Farbe kratzt in der Nase. Rund zwei Dutzend zumeist älterer Frauen nähen Hosen.
Keine von ihnen blickt auf, als Cai vorbeigeht. Vor einem halben Jahr verlegte er seine Firma nach Hengshui in Hebei, rund 130 Kilometer vom Pekinger Zentrum entfernt. „Freiwillig“, sagt er, mehr oder weniger. Die Behörden haben ihm einen günstigen Pachtvertrag angeboten. „Es war ganz sicher der richtige Schritt“, sagt er. Doch es gab auch andere Gründe. Er brauche eine stabile Belegschaft. Die Kosten sollten kalkulierbar bleiben, ebenso die Mieten. „Wir brauchen Planungssicherheit.“
Diese fehlende Sicherheit ist für viele Unternehmer das größte Problem. Wer in Peking ein Unternehmen oder auch nur ein Geschäft zum Laufen gebracht hat, muss vielleicht bald schon schließen wegen der galoppierenden Miete. Zudem kündigen Mitarbeiter, weil sie die Wohnungsmieten nicht zahlen können. Sie wechseln in eine andere Firma. „Hundert Yuan Lohn im Monat mehr und schon sind sie weg“, beklagt sich Cai. Das sind rund 13 Euro. Oder die Mitarbeiter verlassen Peking gleich ganz.
Mehr Wohlstand nach Hebei
In Peking und Tianjin liegen die Gehälter über dem Durchschnitt, es gibt bescheidenen Wohlstand. Die meisten Menschen in der umliegenden Provinz hingegen verdienen wenig und klagen über schlechte Sozial- und Krankenversorgung. Auch die Schulen sind schlecht, die Jobaussichten dürftig. Mit Jing-Jin-Ji sollen auch die Menschen in Hebei gewinnen.
Ob das klappt? China hat gezeigt, wie man Städte aus dem Boden stampft. Landesweit gibt es sechs Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, zehn weitere zwischen fünf und zehn Millionen Menschen. Doch reicht die Erfahrung, um Jing-Jin-Ji zu errichten?
Boutiquen-Inhaberin Zhang Wei hält sich nicht bei solchen Fragen auf. „Mir wird jetzt die Lebensgrundlage genommen“, klagt sie. Sie klopft auf ihre Mäntel. Staub wirbelt auf. „Ich habe diese Gegend noch nie gemocht.“
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