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Nach Ausscheiden aus Berliner ParlamentPiraten auf zu neuen Ufern

Was machen die Mitglieder der Piratenfraktion heute? Neue Heimathäfen finden sich in allen politischen Lagern – von der Linke über die FDP bis zur AfD.

Die Party ist vorbei bei den Piraten Foto: dpa

Oktober 2011: Zwei neu gewählte Piratenabgeordnete stellen den Antrag, das geltende Handyverbot in den Ausschüssen des Abgeordnetenhauses abzumildern. Wenn man die Mobiltelefone während der Sitzungen auf den „Flugmodus“ schalte, werden die Aufzeichnungsgeräte nicht gestört, argumentieren sie. Abgeordnete können dann aber zumindest ihre Termine verwalten. Der Antrag wurde damals abgelehnt. „Wir sind doch alle erwachsen“, hatte ein SPD-Mann gemeint.

Gut fünf Jahre später scheint diese Diskussion wie aus einem anderen Zeitalter. Ganz selbstverständlich twittern Abgeordnete aus den Parlamentssitzungen. Im Lichtenberger Bezirksparlament wurde die Wahl der Bürgermeisterkandidatin Evrim Sommer (Linke) nur darum verhindert, weil mitten in den Wahlakt die Meldung des RBB platzte, sie hätte zu Unrecht einen akademischen Titel geführt. Verordnete mehrerer Fraktionen hatten die Nachricht während der Sitzung auf ihrem Handy gelesen.

Historisches Verdienst

Eine Piratenfraktion gibt es nicht mehr. Doch die Piraten haben die Berliner Politik geprägt. Bernd Schlömer, bis 2013 Bundesvorsitzender der Freibeuter, sitzt heute für die FDP im Abgeordnetenhaus und sagt: „Als historisches Verdienst der Piratenpartei wird stehen bleiben, die Digitalpolitik in Deutschland auf den Weg gebracht zu haben. Sie hat alle etablierten Parteien dazu getrieben, Digitalpolitik inhaltlich zu besetzen.“

Dass seine ehemalige Partei heute politisch tot sei, sei in seinen Augen nicht schlimm. „Viele Akteure setzen ihr Anliegen in anderen Parteien fort.“ In verschiedenen Parteien, denn die Piraten waren, so Schlömer, „eine heterogene Bürgerrechtsbewegung“.

Schlömer selbst hat sich für die FDP entschieden, „weil die für bürgerrechtsliberale Politik steht“. Und er denkt, dass Ex-Piraten in andere Parteien mehr einbringen können als nur die Digitalisierung. „Ich weiß, wie man Menschen erreicht, die sonst mit Politik nichts am Hut haben. Ich bin anders vernetzt als klassische FDPler. Und ich bringe viel politische Erfahrungen und ein liberales Werteverständnis mit.“

Anne Helm ist die zweite Ex-Piratin, die heute im Landesparlament sitzt. Sie ist Medien- und Rechtsextremismusspezialistin der Linken. „Bei den Piraten hat mir ein Gesellschaftsentwurf gefehlt. Den gibt es bei den Linken.“ Auch als Frau fühlt sie sich bei den Linken besser aufgehoben als in der männerdominierten Piratenpartei. „Wenn ich dort über negative Erfahrungen als Frau in Parteistrukturen gesprochen habe, galt ich als Nestbeschmutzerin. Bei den Linken sind Frauen untereinander vernetzt und ich bekomme von diesen Netzwerken Unterstützung.“

Sie denken nicht so formalisiert

Linken-Sprecher Thomas Barthel über die Qualitäten von Ex-PiratInnen

Umgewöhnen musste sich Helm im Arbeitsstil. Sie liebt die Kommunikation über Twitter. „Die Linken sind mehr eine Facebookpartei. Und ich muss jetzt mehr mit Papier arbeiten.“ Dass Diskussionen strukturierter ablaufen als bei den Piraten, sei „erst einmal positiv, aber man muss als Neue aufpassen, nicht unbeabsichtigt ins Kreuzfeuer der Parteiflügel zu geraten“. Und wenn Helm jetzt ihren Ex-Parteichef Schlömer in der Parlamentskantine trifft, „gehen wir freundschaftlich und entspannter miteinander um als vorher. Wir sind ja in unterschiedlichen Parteien, und da sind Unterschiede in politischen Inhalten normal.“

Helm und Schlömer sind nicht die einzigen Ex-Piraten, die die Berliner Politik noch heute prägen. Der ehemalige Fraktionschef Martin Delius, bekannt geworden als Vorsitzender des Flughafen-Untersuchungsausschusses, hat heute eine Anstellung in der Senatskanzlei.

Und mit Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) und Innensenator Andreas Geisel (SPD) haben sich gleich zwei Regierungsmitglieder für persönliche ReferentInnen entschieden, deren Einstieg in die Politik 2011 eine Tätigkeit bei den Piraten war: Jana Nescovic und Christian Schröder gelten als riesige politische Talente. Sie sind parteiübergreifend anerkannt und äußerst gut strukturiert. Bei der neuen politischen Kraft der Piraten konnten sie einst ihre Fähigkeiten schneller einsetzen als bei einer etablierten Partei, bei der man sich zuerst im Ortsteil und im Bezirk einen Namen hätte machen müssen.

Einer von Berlins bekanntesten Piraten: Martin Delius, damals BER-Untersuchungsausschussvorsitzender Foto: dpa

Was bringen die Ex-Piraten noch mit? „Wir mussten uns in sehr kurzer Zeit unter chaotischen Strukturen sehr viel Wissen aneignen“, sagt Anne Helm. „Wer da bestanden hat, ist stressresistent und hat ein dickes Fell, das auch woanders nützlich ist.“ Und Thomas Barthel, Sprecher der Linken, bei denen viele Ex-Piraten eine neue politische Heimat gefunden haben, findet: „Die ehemaligen Piratenmitglieder bringen Erfahrungen und Netzwerke aus der digitalen Welt mit, wo bestimmte Diskussionen noch mal stärker geführt werden als in traditionellen Parteien. Und sie denken nicht so formalisiert, was eine Bereicherung sein kann.“

Einmal auf den Geschmack gekommen, können Ex-Piraten offenbar nicht leicht von der Droge Politik lassen. So engagiert sich der ehemalige Flüchtlingspolitiker Fabio Reinhardt heute in der Industrie- und Handelskammer. Ex-Fraktionschef Christopher Lauer sorgt nicht nur in der SPD für frischen Wind, er verdient seine Brötchen als Politikberater. Die einstige Bundesvorständlerin Julia Schramm wirkt heute im Landesvorstand der Linken.

Am überraschendsten ist allerdings die Personalie Ulli Zed­ler: Einst hat er sich als Bezirksverordneter der Piraten in Friedrichshain-Kreuzberg und Assistent der Abgeordnetenhausfraktion für eine sozial verträgliche Mietenpolitik engagiert. Heute ist er Referent für Stadtentwicklung. Und zwar ausgerechnet bei der AfD-Fraktion, die viele Vertreter der Immobilienwirtschaft in ihren Reihen hat.

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