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Ein Prozessbeginnt

Die Dorfbewohner verfolgen das Verfahren beim Public Viewing. Gemeinsam suchen einstige Feinde einen Weg, miteinander zu leben

Joseph Mooro erlebte, wie seine Mutter zerhackt wurde, und wurde selbst zum Täter Foto: Simone Schlindwein

Aus Pajule Simone Schlindwein

Sobald der Fernseher läuft, wird es still in der Wellblechhalle. Es ist stickig im Gemeindesaal von Pajule, einem Dorf im Norden Ugandas. Rund drei Dutzend Frauen, Männer und Kinder sitzen auf Plastikstühlen, blicken auf den Bildschirm. Darauf sieht man den Gerichtssaal im über 6.000 Kilometer entfernten Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dort sitzen Richter in schwarzen Roben, Verteidiger und Ankläger.

Die Kamera richtet sich auf den Angeklagten: den Ugander Dominic Ongwen, einst hochrangiger Kommandeur der LRA, der Widerstandsarmee des Herren. Die ugandische Rebellenorganisation gilt als brutalste Miliz Afrikas. Über 20 Jahre lang führte sie im Norden Ugandas eine Rebellion gegen die Regierung. Ongwen ist der erste und einzige LRA-Fall vor dem Weltgericht. Er hatte sich 2014 ergeben.

Zerlumpt und mit langen Haaren hatten ihn US-Spezial­einheiten im Dschungel gefangen genommen. Jetzt sitzt er im feinen Anzug regungslos da. Er starrt ins Leere, während ihm 70 Taten vorgehalten werden: darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Entführung und Versklavung von Kindern und Frauen, Mord, Folter, Verstümmelung.

Für die Ugander vor dem Bildschirm wird die Anklage in ihre lokale Sprache übersetzt. Als Ongwen zu seiner Verteidigung das Wort ergreift, bleibt die Übersetzung aus: „Im Namen Gottes weise ich alle Anschuldigungen zurück“, sagt er in der Sprache der Acholi-Ethnie. Er sei selbst als 14-Jähriger entführt worden, also sei er selbst Opfer der LRA.

In Pajule geht ein Raunen durch die Halle. Hier kennen ihn die Menschen. Laut Anklage hat er hier ein Massaker angeführt: am 10. Oktober 2003. Die meisten der Zuschauer sind Opfer dieser brutalen Attacke – oder Täter. So wie Joseph Mooro. Der hagere 28-Jährige hält sich an seinem Spazierstock fest, der zwischen seinen Beinen lehnt.

Auf dem Monitor werden Fotos als Beweisstücke eingeblendet: ein Haufen Leichen im blutroten Gras, mit Macheten zerhackt. Eine Gruppe zerlumpter Rebellen mit krausen Rastas, die lachen. Der Größte von ihnen scheint schier zu tanzen. Mooro nickt. Er hat sich selbst erkannt. Dann wird ein Funkspruch eingespielt. Die Bildunterzeile besagt, es sei die Stimme des Angeklagten Ongwens: Er gratuliert zum erfolgreichen Angriff. Wieder nickt Mooro.

Die Bilder, der Funkspruch, die Stimmen – plötzlich sind die Erinnerungen wieder da. Besonders die, die er seit Jahren verdrängt habe. Nach der Anklageverlesung hockt der ehemalige LRA-Leutnant vor der Halle unter einem Baum. Er muss sich sammeln.

„Hier haben sie meine Eltern ermordet. Es war ein schönes Zuhause“

Mooro war im Jahr 2003 als Unteroffizier vom LRA-Oberkommando beauftragt, Pajule anzugreifen. LRA-Chef Joseph Kony befand sich schon im Exil im Nachbarland Sudan. Er hatte den Befehl an seinen Vize Vincent Otti weitergegeben, Mooros direkter Vorgesetzter, der ihn an Mooro weiterdelegiert hatte. Ongwen war mit seinen Truppen unweit von Pajule stationiert.

Mit einem Bataillon von rund 300 Kindersoldaten hatte Mooro an jenem Tag um 18 Uhr Pajule gestürmt, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, erinnert er sich. Ziel war die Kaserne der ugandischen Armee UPDF, direkt neben dem großen Vertriebenenlager, in welchem fast 40.000 Menschen dicht gedrängt Schutz suchten. Das Motiv des Angriffs: einen einzigen Mann zu töten – den Hubschrauberpiloten, der zuvor die Rebellen aus der Luft gejagt hatte. Um einen einzigen Mann zu töten, mussten Hunderte Menschen sterben. Die ganze Nacht wurde gekämpft. Als Mooro nach Sonnenaufgang das Schlachtfeld begutachtete, sah er Hunderte Leichen, darunter über 100 seiner eigenen Jungs. Die Kaserne und das Lager brannten lichterloh.

„Als ich damals Otti und Ongwen per Funk von dem erfolgten Angriff berichtete, haben sie mir gratuliert“, erklärt Mooro. „Wenn ich das heute im Fernsehen angucke, dann fühle ich mich schlecht. Damals habe ich nichts gefühlt. Es war mein Job, ich habe Befehle befolgt, habe doch nur meine Arbeit getan. Aber ich bin glücklich, dass jetzt mit dem Prozess die Wahrheit ans Licht kommt, über das, was wir getan haben.“

Die Wahrheit ist bislang umstritten. Uganda steht in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung noch ganz am Anfang. Dabei herrscht im Land selbst seit zehn Jahren Friede. Der Prozess ist jetzt ein erster Anlass, die Verbrechen zu thematisieren – nicht nur im entfernten Den Haag, sondern in Tatorten wie Pajule, wo Überlebende und Täter einen Weg finden müssen, miteinander zu leben.

Bislang herrschte Schweigen. Die Regierung hat Tausenden Exkämpfern wie Mooro Amnestie gegeben, sie in ihre Dörfer zurückgeschickt. Dafür fühlen sie sich ein Leben lang zum Schweigen verdammt. Würden sie vom Krieg erzählen, würden sie auch der Regierungsarmee Kriegsverbrechen vorwerfen. Die Armee unter dem noch heute regierenden Präsidenten Yoweri Museveni war selbst aus einer Rebellenorganisation entstanden. Sie ging mit Härte gegen die LRA vor. 2002 startete sie die Operation „Iron Fist“, übersetzt: Eiserne Faust. Es gab Rache, die Gewalt schaukelte sich auf. Im Jahr 2006, als auf internationalen Druck hin die Regierung mit der LRA Verhandlungen startete, die letztlich scheiterten, waren in Norduganda 1,7 Millionen Menschen vertrieben, 95 Prozent der ugandischen Ethnie der Acholi, also der Ethnie von LRA-Führer Kony und seinen Kämpfern. Musevenis Regierung weigert sich bis heute, einen Teil der Verantwortung zu übernehmen.

Im Gegenteil: Pünktlich zu Prozessbeginn zieht die Armee mit einem Filmteam durch Nord­uganda, um ihre Version des Krieges gegen die LRA nachzuerzählen. Die nordugandische Filmemacherin Achola Rosario will jetzt dieser Propaganda etwas entgegenstellen: Mooro ist mutig genug, ihr seine Wahrheit in die Kamera zu beichten. Sie begleitet ihn auf seinem Weg durch die schmerzlichen Erinnerungen. Denn für Mooro ist Pajule nicht nur Tatort, sondern auch sein Heimatdorf – und der Ort, wo er wie der Angeklagte Ongwen einst selbst von der LRA entführt wurde.

Dominic Ongwen, angeklagter Täter in Den Haag Foto: dpa

Nach dem Screening in der großen Wellblechhalle spaziert Mooro die staubige Hauptstraße entlang. Er trägt Jeans, polierte Schuhe, gebügeltes Hemd und Sonnenbrille. Markant ist sein Spazierstock, an welchem er sich festhält wie einst als Junge an seiner Kalaschnikow. Mooro war 2003 aus der LRA desertiert, kurz nach dem Überfall auf Pajule. Er hat wie Tausende andere LRA-Kämpfer Amnestie erhalten, denn die meisten waren selbst Opfer, bevor sie Täter wurden.

Entlang der staubigen Hauptstraße reihen sich Läden, Schneidereien, Werkstätten. Auf dem Markt verkaufen Frauen Obst und Gemüse. Halbnackte Kinder spielen am Straßenrand. Musik dröhnt aus den Lautsprechern einer Eckkneipe mit Billardtischen. Am Ortsrand wird emsig gebaut. Von dem gigantischen Vertriebenenlager, das einst Pajule ausmachte, sind nur noch wenige kreisrunden Lehmhütten übrig. Die meisten sind verfallen.

Die Grundschule von Pajule liegt am Ortsrand. Drei einstöckige Gebäude in Hufeisenform, in der Mitte der Pausenhof mit Mangobäumen, die Schatten spenden. Mooro marschiert durch das Gras. Noch immer hat sein Gang etwas vom Stechschritt eines Soldaten. Er steuert auf einen alten Baum zu. Als Mooro in die erste Klasse ging, gab es noch kein Schulgebäude. Damals saßen die Kinder im Schatten des Baumes, schrieben Buchstaben und Zahlen in den Staub, erzählt er. Sein Lieblingsfach sei Mathematik gewesen. Er träumte davon, Pilot zu werden.

Daraus wurde nichts. Als die Rebellen kamen, zerrten sie ihn in den Busch. Er musste sie zu seinem Elternhaus führen. Heute marschiert Mooro denselben Weg, tief in Gedanken. Filmemacherin Rosario folgt. Mooro hat noch nie seine Geschichte erzählt. Doch jetzt will er, dass durch den Prozess im fernen Den Haag die Wahrheit ans Licht kommt. Er fürchtet, die Ermittler hätten schlecht recherchiert, er wurde zum Überfall auf Pajule nie von ihnen befragt.

Hinter der Schule erstreckt sich die trockene Savannenlandschaft, es hat seit Monaten nicht geregnet. Zu Zeiten des Bürgerkrieges lagen hier überall Leichen im Gebüsch. Die Geier kreisten über ihnen, Hyänen fraßen die Kadaver. In den Hochzeiten des Massenschlachtens, so erzählt Mooro, war der sonst so trockene Boden von Blut getränkt, tiefrot und sumpfig.

Uganda und die LRA

Die LRA: Die Widerstandsarmee des Herrn entstand 1987 im Norden Ugandas. Ihr Führer Joseph Kony gab sich in der Nachfolge der "Holy Spirit Movement" als „Prophet“ der Acholi-Ethnie aus und kämpfte im Namen der Zehn Gebote.

Die Jagd: 2006 zog sich die LRA aus Uganda zurück: in die Demokratische Republik Kongo, die Zentralafrikanische Republik, nach Südsudan. Sie wird von den Armeen dieser Länder gejagt.

Der Prozess: Dominic Ongwen ist einer von fünf LRA-Kommandeuren, auf die der Internationale Strafgerichtshof 2005 Haftbefehl ausstellte. Er ergab sich 2014. Ende 2016 begann der Prozess, jetzt präsentiert die Anklage ihre Beweise. Joseph Kony lebt im Sudan. Die übrigen drei Gesuchten sind tot. (sms)

Andächtig bleibt er im Schatten eines Mangobaumes stehen. „Hier haben sie meine Eltern ermordet. Es war ein schönes Zuhause“, sagt er. Er hatte geweint, als sie seine Mutter mit der Machete in Stücke hackten, ihn zwangen, ihr Blut von der Klinge zu lecken. „Ich fühle bis heute ihren Geist in mir“, flüstert er. Es war der Beginn des Blutrausches, der ihn wie eine Droge zum Töten trieb. „Wir hatten solche Angst vor dem Feind, wir waren ja noch Kinder“, erklärt er. „Wir töteten, um die Angst zu bezwingen.“

Zu Beginn habe die LRA vor allem gegen die Armee gekämpft. Dann auch gegen Zivilisten. „Wir schnitten ihnen die Lippen ab oder rammten ihnen Vorhängeschlösser durch, damit sie uns nie wieder verraten konnten.“

So wurden aus Kindern Mörder. Blutrausch nennen dies Psychologen, doch die Forschung steckt noch ganz am Anfang. In Ruanda während des Völkermords 1994 kam es zu ähnlichen Gewaltexzessen, später auch im Ostkongo.

Fragt man Mooro nach der Verantwortung Ongwens, schüttelt dieser den Kopf. „Er war doch ein Entführter, wie ich auch“. Und Anführer Kony? Mooros Stirn liegt in Falten. „Wenn es einen Schuldigen gibt, dann ihn“, sagt Mooro und wendet ein: Kony habe Stimmen gehört und glaubte daran, von Geistern besessen zu sein, die ihm Befehle gaben. „Wenn die Geister über ihn kamen, dann war auch er wie wir, ein entführter Junge“, sagt Mooro.

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