Tabubruch Für Bernd Dreyer, schwer krebskrank, gibt es nur noch ein Medikament, das ihm hilft. Dann gerät er zwischen die Fronten der Gesundheitspolitik – es verschwindet vom deutschen Markt. Wie kann das sein?: Zu Tode gerechnet
Von Heike Haarhoff (Text) und Oliver Sperl (Illustration)
Ende April 2016 will Bernd Dreyer ein neues Rezept in der Apotheke einlösen. Die Tabletten gegen den Krebs in seinem Magen und die Metastasen in der Leber gehen zur Neige; etwa jedes Vierteljahr fährt Bernd Dreyer deshalb von Magdeburg nach Berlin zu seinem Arzt. Dort, im Klinikum Buch, spezialisiert auf die anderswo längst aufgegebenen Fälle, lässt er dann Größe und etwaiges Wachstum der Krebszellen vermessen, bespricht mit dem Arzt die Dosierung und lässt sich eine neue Verordnung geben. Sogar das Leben mit Krebs im weit fortgeschrittenen Stadium birgt eine gewisse Routine.
Doch an diesem Apriltag kommt es anders.
Die Apothekerin, die Bernd Dreyer abends zu Hause anruft, hat schlechte Nachrichten. Das mit seinen Tabletten funktioniere leider nicht mehr, sagt sie. Stivarga, das Medikament, das er seit eineinhalb Jahren nimmt und das verhindert hat, dass sich der Krebs weiter ausbreiten konnte, werde nicht mehr ausgeliefert in Deutschland, sagt die Apothekerin.
Wie bitte, fragt Bernd Dreyer, sein Stivarga? Ob denn festgestellt worden sei, dass das Mittel schädlich sei? Nein, sagt die Apothekerin, es sei so gut oder schlecht wie zuvor. Nur werde das Präparat in Deutschland nicht mehr vertrieben. Der Hersteller, die Bayer Vital GmbH, habe es vom Markt genommen.
Bernd Dreyer erinnert sich, wie ihm erst schwindlig wurde, dann übel. Mehrfach schon hatten ihn die Ärzte aufgegeben. Gleich bei der ersten Diagnose, im Februar 2011, hatten sie ihm gesagt, er habe noch maximal ein Jahr. Dreyer war damals 52, ein selbstständiger Bauunternehmer mit 17 Angestellten, 14-Stunden-Tagen, Krediten und Gläubigern. Er wechselte den Arzt, er wechselte die Klinik. Er wollte kämpfen.
In Berlin-Buch erklärten die Ärzte im Frühsommer 2011: Die seltenen gastrointestinalen Stromatumoren – von einer Million Menschen erkranken 10 bis 15 pro Jahr neu daran – seien in der Tat unheilbar; gegen Chemotherapien etwa sind sie resistent. Aber es gebe Medikamente, die das Wachstum aufhalten könnten, manchmal für Jahre. Erst bekam er ein Präparat namens Glivec, später dann eines, das Sutent hieß. Und als auch diese Tabletten, im Herbst 2014 war das, nicht mehr wirkten: Stivarga. In Europa seit August 2013 zugelassen zur Behandlung von metastasiertem Darmkrebs, seit Juli 2014 auch zur Therapie von metastasiertem Magenkrebs. Eine therapeutische Innovation. Ein letzter Anker.
Stivarga, Wirkstoff Regorafenib, ist europaweit bis heute das einzige Arzneimittel, das zugelassen ist zur Behandlung gastrointestinaler Stromatumoren, nachdem die bisherigen Standardtherapien versagt haben. Die Leitlinien ärztlicher Fachgesellschaften empfehlen Stivarga zur Behandlung von Patienten wie Bernd Dreyer mit weit fortgeschrittener Erkrankung als Goldstandard. Wenn auch Stivarga irgendwann versagt, er weiß das, können seine Ärzte nichts mehr tun, um das Tumorwachstum und damit den Tod aufzuhalten.
Bislang war Bernd Dreyer davon ausgegangen, dass er möglicherweise sterben werde, weil Stivarga eines Tages bei ihm nicht mehr wirkt. Aber nicht, dass er sterben werde, weil es Stivarga eines Tages für ihn nicht mehr gibt.
Es dauerte, erzählt er, bis er begriff, was die Apothekerin ihm da mitgeteilt hatte. Dann ging er zu dem Schrank, in dem er seine Medikamente aufbewahrt, und zählte die Tabletten. Es waren noch zwei Flaschen à 28 Pillen, genug für zwei Wochen. „Doris!“ Es war mehr ein Gurgeln denn ein Schrei, er galt seiner Frau.
27 Medikamente betroffen
Dass ein Medikament, für das es keine therapeutische Alternative gibt, über Nacht vom deutschen Markt verschwindet, ist nicht nur ein Schock für betroffene Patienten. Es ist ein gesundheitspolitischer Tabubruch: Bislang galt Deutschland europaweit als Vorbild, wenn es um den schnellen, verlässlichen und dauerhaft bezahlten Zugang zu pharmazeutischen Innovationen ging. Wer hier lebt, konnte bislang davon ausgehen, alles zu bekommen, was medizinisch notwendig und von der europäischen Arzneimittel-Zulassungsbehörde European Medicines Agency, kurz EMA, für sicher, verlässlich und wirksam befunden worden war.
Dieses Mantra der deutschen Gesundheitspolitik wankt. Nicht nur Stivarga ging vom Markt. Nach Recherchen der taz haben Pharmahersteller seit 2011 mindestens 27 Medikamente, die bereits zugelassen waren, aus Deutschland zurückgezogen. Für einige Patienten ist das ein existenzielles Problem.
Klinikum Berlin-Buch, Oktober 2016. Doris Dreyer, 52, sitzt im Wartesaal des Klinikums, ihr Mann Bernd kommt gerade aus der Computertomographie. Er ist schlank; wer ihn im Herbst 2016 zum ersten Mal sieht, kann denken, er sei ein alternder Athlet. Ein Irrglaube. 20 Kilo hat er seit dem Frühjahr verloren. „Wir hoffen jetzt einfach mal“, sagt Doris Dreyer, „dass es vor allem am Stress der vergangenen Monate liegt.“
Der Stress. Die Aprilnacht nach dem Anruf aus der Apotheke verbringen die Dreyers vor ihrem PC. Sie wollen verstehen, was passiert ist, und wissen, wie es weiter geht. Wenn es Stivarga in Deutschland nicht mehr gibt – vielleicht gibt es anderswo Reserven? Die Dreyers googeln. Sie finden eine Pressemitteilung der Bayer Vital GmbH vom 15. April 2016: „Konsequenz aus GBA-Beschluss – Bayer stellt Vertrieb für Regorafenib in Deutschland ein“. Ein paar Klicks, und es gelingt ihnen, die Fachsprache zu entschlüsseln. Bernd Dreyer will bloß seine Medizin haben, ahnt aber nun, dass er zwischen die Fronten der Gesundheitspolitik geraten ist.
Es geht in diesem Konflikt, verkürzt gesagt, um die Frage, wie viel Regorafenib, also der Wirkstoff, auf dem Stivarga basiert, in Deutschland kosten darf. Darüber gestritten haben die Bayer Vital GmbH, eine Tochter des Pharmakonzerns Bayer, die Krankenkassen, die das Medikament, wenn es verschrieben wird, bezahlen müssen, und der Gemeinsame Bundesausschuss.
Dieser Ausschuss, kurz GBA, lernen die Dreyers, ist ein wenig bekanntes, aber sehr mächtiges Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, in dem Vertreter der Ärzte, Krankenkassen und Krankenhäuser sitzen. Er kann beispielsweise verfügen, dass einzelne Medikamente von den gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr erstattet werden. Der Ausschuss orientiert sich dabei an einem Wirtschaftlichkeitsgebot, wonach die Versorgung medizinisch notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein muss. Er steht unter der Rechtsaufsicht des Bundesgesundheitsministeriums. Seine Richtlinien sind verbindlich für die behandelnden Ärzte und die Krankenkassen – und deren 70 Millionen Versicherte.
Das Gremium stellt zudem, und hier kommt Bernd Dreyers Stivarga ins Spiel, auch die Weichen für die Preisklasse, in der ein neues Medikament einmal rangieren wird. Es überprüft dafür, ob das neue Medikament für Patienten überhaupt einen höheren Nutzen hat als diejenige Therapie, die bislang gegen die Krankheit eingesetzt wurde. Das kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn das neue Medikament das Überleben beträchtlich verlängert oder nachweislich weniger Nebenwirkungen hat. Pharmahersteller müssen also nachweisen, dass ihr neues Medikament mehr nutzt als herkömmliche Medikamente.
Dieser Nachweis ist kompliziert. Kann er nicht erbracht werden, bedeutet das nicht, dass das Präparat per se unnütz ist. Aber sein Preis sinkt: auf das oft recht niedrige Niveau der herkömmlichen Medikamente. Als Faustformel gilt: Nur was mehr nutzt, darf auch mehr kosten.
Verschiedene Methoden
Und die Sache geht noch weiter. Die Prüfung des Gemeinsamen Bundesausschusses in Deutschland, erfahren die Dreyers, wird erst durchgeführt, nachdem das Medikament bereits von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zugelassen worden ist und oft schon viele Monate auf dem Markt war – und Patienten gegeben wurde.
Die Anforderungen an die Studien und an die Methodik, die für die Zulassung durch die EMA oft ausreichen, sind häufig nicht kompatibel mit den Anforderungen an die Studien und an die Methodik, die in der Nutzenbewertung durch den GBA verlangt werden. Im ersten Schritt soll sichergestellt werden, dass das Medikament die Krankheit bekämpfen kann und dem Patienten mehr hilft als schadet. Im zweiten, dass es besser ist als andere Medikamente. Auf dieser Grundlage wird spätestens ein Jahr nach der Markteinführung der künftige Preis des Medikaments zwischen Hersteller und Kassen ausgehandelt.
Die beiden Systeme stehen zueinander wie eine Führerscheinprüfung zu einem Autorennen.
Stivarga, hatte die Prüfung des Ausschusses ergeben, sei nicht nützlicher als andere Medikamente. Zur Begründung hieß es, es fehlten Studien. Bayer, der Hersteller, fürchtete nun, in den Verhandlungen mit den Krankenkassen einen Preis zu erzielen, der die Kosten für die jahrelange Erforschung und Entwicklung des Stivarga-Wirkstoffs Regorafenib nicht einspielen würde. Vor allem aber hatte das Unternehmen Sorge, dass der in Deutschland festgesetzte Preis Auswirkungen haben könnte auf das Preisniveau in anderen europäischen Ländern. Denn diese orientieren sich an Deutschland, Europas größtem Arzneimittelmarkt: Ein Medikament, das in Deutschland keinen attraktiven Preis erzielt, wird ihn in Spanien, Finnland oder Bulgarien erst recht nicht erzielen.
Mitte April 2016 entschloss sich die Bayer Vital GmbH zum „Opt-out“, wie es im Fachjargon heißt. Auf dem deutschen Markt kann man Stivarga seither nicht mehr kaufen.
Weil die Zulassung aber für ganz Europa gilt, gibt es eine legale Möglichkeit, trotzdem an Stivarga zu kommen, erfahren die Dreyers: Man kann das Rezept eines deutschen Arztes wie gewohnt in der Apotheke abgeben. Diese gibt es weiter an eine internationale Apotheke, die auf den Handel mit Arzneimitteln aus dem Ausland spezialisiert ist. Das alles ist im Arzneimittelgesetz geregelt.
Zu klären bleibt dann noch die Frage, ob die deutsche Krankenkasse die Kosten für das Präparat erstattet. 3.400 Euro kostet Stivarga derzeit. Pro Monat.
Es klingt kompliziert, aber es ist eine Hoffnung. „Es hat dann noch fast vier Wochen gedauert, bis ich Stivarga tatsächlich wieder bekam“, sagt Bernd Dreyer. Vier Wochen Bangen, Panikattacken, zuweilen Todesangst. Er schrieb Briefe an seine Krankenkasse, er faxte, er telefonierte. Ohnmacht, Abhängigkeit, Verzweiflung. Dreyer sagt: „Es gibt Momente, da fühlst du dich wie ein Bettler.“ Als wäre Krebs im fortgeschrittenen Stadium nicht genug.
Schließlich, es war Mitte Mai, Doris Dreyer überlegte schon, von welchen Freunden sie sich noch Geld borgen könnten, um im Ausland die Tabletten für ihren Mann selbst zu besorgen, schickte die Krankenkasse Antragsformulare für die Kostenübernahme, mehrere Seiten lang. Aus Kulanz und ohne Rechtsanspruch, hieß es.
Es war der Zeitpunkt, als die Dreyers überlegten, ob sie öffentlich erzählen sollten, was ihnen widerfuhr. Schließlich ist Bernd Dreyer nicht der einzige Patient mit gastrointestinalen Stromatumoren. Schließlich ist Stivarga nicht das einzige Medikament, das im Streit um Zusatznutzen und Preis vom Markt verschwunden ist. Zwischen 2011 und 2015 ließ die EMA 141 Arzneimittel mit neuen oder neu kombinierten Wirkstoffen zu, die später in Deutschland eine Nutzenbewertung durchliefen. Bald jedes fünfte von ihnen ist auf dem deutschen Markt nicht mehr erhältlich. Es ist eine neue Entwicklung, und sie wird angesichts der demographischen Entwicklung und des rasanten medizinischen Fortschritts noch zunehmen.
Betroffen sind nicht nur Krebsmedikamente. Auch Präparate gegen Epilepsie, Diabetes, Depression, Schizophrenie oder Bluthochdruck sind darunter. Eine schriftliche Umfrage der taz bei den hiervon betroffenen 21 Firmen ergab: Ausnahmslos alle Hersteller nannten die Diskrepanz zwischen den Anforderungen an die Zulassung einerseits und an die Nutzenbewertung andererseits als Grund für ihre Entscheidung, den deutschen Markt zu verlassen. Die damit verbundene Aussicht auf einen wirtschaftlich für sie nicht akzeptablen Preis schreckt sie ab.
Rund eine Milliarde Euro und bis zu 12 Jahre wissenschaftliche Untersuchungen investiert ein Pharmaunternehmen, um ein neues Medikament zu finden, es zuzulassen und auf den Markt zu bringen. Dieses Geld wollen die Unternehmen mit dem Verkauf des Medikaments wieder reinholen – während der 20 Jahre, in denen das Mittel patentgeschützt ist. Je kleiner die Patientengruppe, für die das Medikament wirkt und verordnet werden darf, desto größer das Interesse des Unternehmens, einen möglichst hohen Preis zu erzielen.
Das rückte in weite Ferne, als der Gemeinsame Bundesausschuss beschloss, für Darmkrebspatienten etwa sei Stivarga „in der Gesamtbewertung“ nicht nützlicher als bereits existierende Therapien – es verlängere das Leben zwar, aber die Nebenwirkungen seien massiv.
Dreyers Arzt wird laut
In der Klinik für Interdisziplinäre Onkologie in Berlin-Buch durchquert Peter Reichardt sein Chefarztzimmer wie ein gefangenes Raubtier. Mit jedem Schritt wird er lauter. Reichardt hat eine saalfüllende, schwäbisch gefärbte Stimme, die keinen Widerspruch duldet. „Es ist vollkommen absurd, völlig grotesk“, er ruft es fast, „es geht hier doch nicht darum, dass sich irgendwer um unzumutbare Nebenwirkungen sorgen würde oder gar um das Patientenwohl.“ Seine Hände fahren durch die Luft. „Es geht um knallharte Preispolitik, um ökonomische Interessen, und zwar von Seiten der Industrie wie von Seiten der Kassen, und ausgetragen wird das Ganze auf dem Rücken meiner Patienten.“
Seiner Patienten. Bernd Dreyer ist einer von ihnen, seit fünf Jahren. Und es stimmt ja, sagt der Arzt, auch Dreyer habe zeitweilig an schweren Nebenwirkungen durch Stivarga gelitten. Es gibt Fotos, die zeigen ihn mit Verbrennungen an den Händen, an den Füßen, am Rücken. Die Haut hat sich abgeschält, man sieht rohes Fleisch, alles Begleiterscheinungen von Stivarga. Dazu kommen schwere Durchfälle und Schlaflosigkeit. Peter Reichardt sagt: „Man muss das mit jedem Patienten individuell abwägen, man muss schauen, wer reagiert wie, und dann muss man überlegen, ob man die Dosierung verändern kann oder ob der Patient unter diesen Umständen das Mittel vielleicht gar nicht mehr haben möchte.“
Dass aber der Streit um Nebenwirkungen und Studienanforderungen am Ende in die Formel mündet: kein Zusatznutzen gleich niedriger Preis gleich Marktrücknahme gleich keine Therapiealternative – das findet Reichardt „ethisch nicht vertretbar“.
Was also tun? Eine Lösung für das Problem ist nicht einfach zu haben. Politisch ist die Angelegenheit ein Pulverfass: Ein Jahr vor der Bundestagswahl sind Schlagzeilen, dass Patienten ihre Medizin nicht mehr bekommen, so wenig förderlich wie der Verdacht, die Regierung mache – etwa durch Veränderung der Standards bei der Nutzenbewertung – Geschenke an die Pharmaindustrie.
Und so schweigt der zuständige Bundesgesundheitsminister. Bitten um ein Interview mit Hermann Gröhe (CDU) werden abgelehnt, Fragen an sein Ministerium bleiben unbeantwortet. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, möchte sich ebenfalls „aktuell nicht äußern“.
Die Mitglieder des Gesundheitsausschusses des Bundesrats haben zumindest eine Empfehlung: Eine „Clearingstelle“ aus Vertretern von Patienten, Vertragsärzten und der Pharmaindustrie könnte künftig bei Streitigkeiten um Methoden und Daten vermitteln und so weitere drohende Marktrücknahmen verhindern. Ihre Ratschläge wären aber unverbindlich. Wirklich geholfen wäre Bernd Dreyer damit nicht.
Die Dreyers heißen in Wirklichkeit anders. Sie wollen anonym bleiben. Auch wer ihre Krankenkasse ist, sagen sie, tut nichts zur Sache. Sie haben Angst, dass die Bezahlung der Stivarga-Lieferungen aus dem Ausland, um die sie so viele Wochen gezittert haben, andernfalls wieder eingestellt werden könnte. So als seien sie, die Dreyers, diejenigen, die hier etwas Unanständiges tun und deswegen besser ihren richtigen Namen verschweigen. So als müssten sie sich dafür schämen, dass sie eine medizinisch notwendige Versorgung, auf die sie nach dem deutschen Sozialrecht Anspruch haben, nach wochenlanger Unsicherheit wieder bekommen. Aber da ist dieser Brief von der Kasse. Aus Kulanz. Ohne Rechtsanspruch. Es gibt Worte, die wirken nachhaltig.
Dabei liegt die Verantwortung, falls man überhaupt davon sprechen will, gewiss nicht bei einzelnen Versicherungen. Das Dilemma ist bedingt durch ein politisches System, das eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich ebenso fürchtet wie eine ehrliche Debatte darüber, wie viel ein paar Monate zusätzliches Leben der Solidargemeinschaft wert sein sollen – auf die Gefahr hin, möglicherweise zu dem Schluss zu gelangen, dass nicht mehr alles für alle finanzierbar ist. 35 Milliarden Euro haben die gesetzlichen Krankenversicherungen 2015 allein für Arzneimittel bezahlt. Das ist mehr als in jedem anderen Jahr zuvor seit Gründung der Bundesrepublik.
Doch anstatt Kosten und Nutzen abzuwägen und medizinische Leistungen und Patientengruppen bei der Therapievergabe entsprechend zu priorisieren, anstatt also Fairness und Transparenz gerade bei den mitunter brutalen Entscheidungen um Leben und Tod walten zu lassen, erfolgt die Rationierung der Mittel in Deutschland implizit: über ein in sich widersprüchliches Versorgungssystem, das Medikamente erst zulässt, aber anschließend nicht bezahlt.
Anruf bei Jürgen Wasem, 57, Ökonom, Politikberater und Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen. Wasem sagt, man könne das Problem an vielen Beispielen durchgehen, und immer gebe es andere Begründungen, warum ein Medikament zurückgezogen werde.
Seit Juli 2015 ist Wasem unparteiischer Vorsitzender der Schiedsstelle, die die Preise für patentgeschützte Arzneimittel festsetzt, wenn sich pharmazeutische Hersteller und der Spitzenverband der Krankenkassen nicht auf einen Preis einigen können. Wer mit dem viel reisenden Mann sprechen möchte, braucht ein Telefon mit starkem Akku. Wasem, ein gebürtiger Kölner und ausgestattet mit rheinischer Gelassenheit, liebt den ausführlichen Disput ebenso wie die ständige Erreichbarkeit.
Mal sei strittig, mit welchem alten Medikament das neue verglichen werden soll. Mal würden bei der Nutzenbewertung fehlende Daten beanstandet, auf deren Erhebung zuvor bewusst verzichtet wurde, um das Medikament Patienten schneller verfügbar zu machen.
27 bereits zugelassene Präparate wurden in den vergangenen fünf Jahren vom deutschen Markt wieder zurückgezogen. Eine Auswahl:
1. Tagrisso (Handelsname), Wirkstoff: Osimertinib, Anwendungsgebiet: nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom, Hersteller: AstraZeneca.
2. Latuda, Wirkstoff: Lurasidon, Anwendungsgebiet: Schizophrenie, Hersteller: Takeda.
3. Fycomba, Wirkstoff: Perampanel, Anwendungsgebiet: Epilepsie, Firma: Eisai.
4. Invokana, Wirkstoff: Canagliflozin, Anwendungsgebiet: Diabetes Mellitus Typ 2, Hersteller: Janssen-Cilag.
5. Xiapex, Wirkstoff: Clostridium histolyticum, Anwendungsgebiet: Dupuytren’sche Kontraktur, Hersteller: Pfizer.
6. Trobalt, Wirkstoff: Retigabin, Anwendungsgebiet: Epilepsie, Hersteller: GlaxoSmithKline.
7. Brintellix, Wirkstoff: Vortioxetin, Anwendungsgebiet: Depression, Hersteller: Lundbeck.
8. Rasilamlo, Wirkstoff: Aliskiren/Amlodipin, Anwendungsgebiet: Hypertonie, Hersteller: Novartis.
In anders gelagerten Fällen, etwa bei Medikamenten gegen Schizophrenien, Depressionen oder Epilepsien, sagt Wasem, würden oft keine besseren Wirkstoffe, sondern nur andere gebraucht – etwa um Resistenzen zu begegnen. Weil die Nutzenbewertung aber prüfe, ob das neue Medikament besser als das alte ist, fielen auch viele dieser Mittel durch: In den vergangenen fünf Jahren, beklagt der Verband forschender Arzneimittelhersteller, wurde 85 Prozent aller Medikamente zur Behandlung von Krankheiten des Zentralen Nervensystems kein Zusatznutzen zuerkannt.
Für Bernd Dreyer sind solche Nachrichten niederschmetternd. Er führt inzwischen Buch über sie, es ist auch eine Art Trost, dieses Wissen, nicht ganz allein zu sein mit seinem Patientenschicksal.
Im Fall von Stivarga zur Behandlung von Magenkrebs sah das Studiendesign im europäischen Zulassungsverfahren vor, dass eine Patientengruppe das Medikament bekam und eine andere ein Placebo. Aus ethischen Gründen wurde Patienten, die zunächst ein Placebo bekommen hatten, jedoch erlaubt, während der Studie auf Stivarga umzusteigen, jedenfalls dann, wenn der Krebs bei ihnen stark fortschritt. Man habe ihnen in diesem Fall das Medikament nicht vorenthalten wollen, schreibt Bayer der taz.
Das Problem dabei: Studien wie diese mit sogenanntem Cross-over-Design widersprechen der reinen Lehre, weil Ergebnisse verwässern oder schlicht nicht mehr eindeutig zuzuordnen sein können. Vom Gemeinsamen Bundesausschuss werden sie nicht anerkannt. Bayer reichte deswegen die Cross-over-Studie erst gar nicht ein, hatte aber eben auch keine anderen Daten zur Hand – und scheiterte.
Im November erst ist ein weiteres Krebsmittel vom deutschen Markt verschwunden, ein Medikament gegen Lungenkrebs von AstraZeneca. Bernd Dreyer sagt: „Und dann fragst du dich, wieso schreitet niemand ein?“
Zu begreifen ist dies nur im historischen Kontext: Seit Gründung der Bundesrepublik durften Pharmahersteller ihre Preise allein festsetzen und ihre Studienergebnisse für sich behalten – zum Unmut vieler Wissenschaftler, Ärzte, Politiker und natürlich der Krankenkassen. Das änderte sich 2011 mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz des damaligen Bundesgesundheitsministers Philipp Rösler. Die frühe Nutzenbewertung, die Rösler, ausgerechnet ein FDP-Mann, zum Groll der Industrie einführte, war ein Paradigmenwechsel. Die Marktrücknahmen zulasten einzelner, meist wehrloser Patienten sind unerwünschte Begleitfolgen.
Eine Aufgabe der Politik
Was aber, wenn die Industrie noch mehr Medikamente vom deutschen Markt nimmt? Was, wenn darunter Mittel sind, auf die Tausende angewiesen sind? Was, wenn die Industrie auf ihre moralische Verantwortung pfeift?
Wäre es nicht Aufgabe der Politik, in einen lösungsorientierten Dialog einzutreten?
In Berlin-Buch lässt sich der Chefarzt Peter Reichardt auf einen Stuhl fallen. Neben seinen Patienten, sagt er, berate er neuerdings auch niedergelassene Ärzte. Die Verunsicherung sei groß, viele wüssten nicht, ob sie ein Medikament verschreiben dürfen, dass es doch in Deutschland eigentlich gar nicht mehr gibt. Einige befürchteten, für ihre Stivarga-Verordnungen später von den Krankenversicherungen zur Kasse gebeten zu werden. Manche fragten, ob sie ihre Patienten zu ihm schicken dürften. Weil dann das Haftungsrisiko für eine womöglich „falsche“ Verordnung beim Krankenhaus liegt und nicht beim einzelnen Arzt.
Peter Reichardt seufzt. „Natürlich sehe auch ich die Preisproblematik, natürlich sehe auch ich mit Sorge, dass wir es in der Onkologie zuweilen mit Jahrestherapiekosten von 50.000, 80.000 oder 100.000 Euro zu tun haben und diese Ausgaben irgendwie begrenzen müssen. Aber dann soll man doch bitte vorher überlegen, was man positiv beurteilen will und was nicht“, sagt er. Reichardt ist dafür, Arzneimittel erst dann zu erstatten, wenn auch ihr Nutzen geklärt ist. „Das wäre ehrlicher, als es den Patienten erst zu geben und dann wieder wegzunehmen“, findet er.
Es gibt Länder, die so verfahren, Großbritannien etwa. Der Nachteil: Bis das Medikament zu den Patienten kommt, können Monate vergehen; gerade Krebskranke im fortgeschrittenen Stadium aber haben keine Zeit zu verlieren. Wer ohnehin bald stirbt, den scheren Schwachpunkte im Studiendesign und manch mögliche schwere Nebenwirkung oft herzlich wenig.
Macht man sich also erpressbar gegenüber der Preispolitik der Pharmaindustrie? Oder riskiert man zusätzliche Tote?
Jürgen Wasem, der Vorsitzende der Schiedsstelle, atmet hörbar ins Telefon. „Wir dürfen weder auf valide Daten verzichten noch wissenschaftliche Ungenauigkeit hinnehmen.“ Dennoch ist er überzeugt: „Mittelfristig kommen wir nicht umhin, über ein anderes Modell der Preisfindung nachzudenken.“ Zum Beispiel eines, in dem die Entscheidungen über die Zulassung und die Kostenerstattung sinnvoll miteinander verknüpft wären. Oder ein System, das für viel versprechende Medikamente, die bislang den Anforderungen der Nutzenbewertung nicht genügten, zeitlich befristete Lösungen vorsehe: Ihr Preis wäre dann an Auflagen geknüpft – etwa das Nachliefern von Daten zu einem späteren Zeitpunkt.
Wasem sagt, er habe keine Patentlösung, aber würde gern vermitteln. Zum Wohl von Menschen wie Bernd Dreyer, denen die Zeit davon läuft. Das Problem: Weil die Bereitschaft zum Kompromiss auf beiden Seiten, Kassen wie Industrie, gering ist, erreichen viele Konflikte seine Schiedsstelle gar nicht; die Pharmahersteller verlassen den Markt, bevor es zu einer möglichen Schlichtung kommt.
„Manchmal“, sagt Jürgen Wasem, „kriegt man den Eindruck, alle sitzen in ihrem Panzer und fühlen sich dort ganz wohl.“
Heike Haarhoff ist Gesundheitsredakteurin der taz
Oliver Sperl ist freier Illustrator und Grafiker und lebt in Berlin
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