: Alles muss raus
Lesestoff Seit zehn Jahren hat der Berliner Büchertisch seinen Hauptsitz am Mehringdamm. Jetzt steht der Umzug nach Neukölln an
Von Susanne MessmerFotos Steffi Loos
Der Weg zum Berliner Büchertisch führt über einen wildromantischen zweiten Hinterhof, wie sie im Berlin der Nachwendezeit hinter jeder zweiten Haustür lockten. Rissiger Asphalt, ein paar Büsche, die ihre letzten Blätter abwerfen, ein wackliger Tisch mit ein paar aussortierten Gartenstühlen. Cornelia Temesvári lässt wehmütig ihren Blick über die rot-gelbe Backsteinfassade schweifen, hinter der sich der Laden des Berliner Büchertischs befindet. „Wir wussten in den letzten Monaten nicht, ob es überhaupt weitergeht“, sagt sie.
Was sie meint: Der Büchertisch, der als Genossenschaft und Verein funktioniert, hat hier, auf 500 Quadratmetern am Mehringdamm in Kreuzberg, seit zehn Jahren seinen Hauptsitz. Hier werden gespendete Bücher günstig verkauft oder umsonst weitergegeben an Menschen, die sich neue Bücher oft nicht leisten könnten. Täglich kommen Leute aus dem Kiez, um ihre alten Bücher loszuwerden – oft unsortiert und in alten Bananenkisten. Andere kommen, um für ein paar Euro neuen Lesestoff vom Lieblingsautor abzugreifen. Kinder dürfen sogar bei jedem Besuch ein Buch umsonst mitnehmen, „Ein Kind ein Buch“, so der Name der Aktion.
Das Problem aber: Die Zeit am Mehringdamm ist zu Ende. Der Eigentümer verlängerte den Mietvertrag nicht, Baumaßnahmen stehen an. Etwas Neues zu finden ist aber nicht so einfach, angesichts fehlender Flächen und hoher Mieten. Wie für viele Vereine, Initiativen oder Kitas derzeit war es auch für den Büchertisch unmöglich, bezahlbare Räumlichkeiten im Kiez zu finden. „Wir hatten Angst, dass wir nur außerhalb des S-Bahn-Rings etwas finden könnten“, sagt Cornelia Temesvári. Vielleicht in Reinickendorf. Oder in Marzahn. „Dort wäre aber niemand einfach so vorbeigekommen und hätte Bücher abgegeben“, sagt die Pressesprecherin des Büchertischs. Außerdem ist das Projekt auf ehrenamtliche Mitarbeiter angewiesen, die nicht bereit gewesen wären, so weit zu fahren. Der Büchertisch ist in Kreuzberg verankert.
Als die Hoffnung schon fast aufgegeben war, zeichnete sich doch Rettung ab: „Nächste Woche unterschreiben wir den Mietvertrag, und Anfang des Jahres ziehen wir dann nach Neukölln“, sagt Temesvári. Auch wenn der Termin der Neueröffnung noch nicht feststeht, der Umzug anstrengend, die Neuverortung dauern wird: Der Büchertisch hat noch einmal Glück gehabt. Denn am Ende, so Temesvári, habe man, nicht zuletzt durch die Mithilfe des Eigentümers vom Mehringdamm, eine gute Lösung gefunden. Die befürchtete Schließung kann so verhindert werden.
Cornelia Temesvári lädt ein auf einen kleinen Gang durch die Büros und das Lager. Im ersten Raum sitzt eine Frau mit grauen Haaren und putzt Bücher, die jemand abgegeben hat, im zweiten sortieren zwei jüngere Mitarbeiter große Stapel in die Regale. Überall Kisten, Kisten und Kisten. „Im Grunde machen unsere Mitarbeiter die Arbeit von Bibliothekaren“, sagt Temesvári. Oft kommt es vor, dass ein Lehrer oder eine Schulbibliothek anruft, eine Kita oder auch ein Flüchtlingsheim – und sich zum Beispiel eine Kiste Bücher zu einem bestimmten Thema, für eine bestimmte Altersgruppe oder in einer bestimmten Sprache wünscht. „Die Schulen wissen manchmal gar nicht, dass ihnen Gelder für neue Bücher zustehen“, sagt sie. Beim Büchertisch haben sie es leichter. Ganz ohne Papierkrieg bekommen sie einen bunten Blumenstrauß von dem, was sie sich wünschen, was sie brauchen.
„Wir sind eben ziemlich niedrigschwellig“, sagt Temesvári. „Ein Herz für Schulbibliotheken“ heißt das Projekt, das 2010 startete und von dem bislang 150 Schulen und mehr als 100 weitere Einrichtungen profitierten. Allein im Jahr 2015, schätzt Temesvári, hat der Büchertisch auf diese Weise an die 100.000 Bücher verschenkt. Und das alles ohne öffentliche Förderung, mit nur 30 eher mäßig bezahlten Mitarbeitern, von denen viele sogenannte schwierige Erwerbsbiografien haben.
Ein anderes wichtiges Projekt des Büchertischs ist der sogenannte Lesetroll für Berliner Brennpunktschulen – besonders hier in Berlin, wo die Schüler erst kürzlich im Ländervergleich in punkto Lesekompetenz vor Bremen als zweitschlechteste abschnitten. So, wie Cornelia Temesvári vom Lesetroll spricht, könnte man meinen, es sei ihr Lieblingsprojekt. So funktioniert es: Zu Beginn eines jeden Schuljahrs packt der Büchertisch 55 Koffer mit je 20 Büchern, Spielen, CDs und DVDs. Die Medien sind der jeweiligen Altersstufe angemessen, auch mehrsprachige Lektüre ist dabei. Dann werden die Kinder zu einem Hoffest eingeladen und die Koffer werden feierlich an die Schulklassen übergeben. Nun darf der Lesetroll von den Schülern abwechselnd mit nach Hause genommen und mindestens zwei Wochen lang erforscht werden. Am Ende des Schuljahrs wandert der Koffer zurück zum Büchertisch, und wieder findet ein kleines Treffen statt. Jetzt berichten die Schüler von ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Lesetroll, loben einen Teil der Medien, kritisieren andere, berichten davon, wie sie sich untereinander darüber ausgetauscht haben.
Immer wieder bekommt der Büchertisch begeisterte Resonanz auf den Lesetroll. Immer wieder bekommen sie bestätigt, dass ihre Leseförderung funktioniert – eine Leseförderung, wie sie eigentlich die Stadt Berlin in der Pflicht wäre zu lancieren.
Umso weniger versteht Cornelia Temesvári, dass der Büchertisch von der Politik so wenig konkrete Hilfe erhalten hat. SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe schrieb einen Brief an die Eigentümer, Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann sagte, die Suche nach einem alternativen Standort in Kreuzberg sei so gut wie aussichtslos und der Bezirk habe keine Immobilien mehr zur Verfügung.
Und Cornelia Temesvári? Sie fragt sich, warum es Gewerbetreibende eigentlich noch schwerer haben müssen als Mieter von Wohnungen. Im Gewerbemietrecht besteht kein Kündigungsschutz, eine Kündigung ist, wenn es vertraglich nicht anders vereinbart wurde, jederzeit möglich. Eine Mietpreisbremse für Gewerbe gibt es auch nicht.
Ein letzter Gang mit Cornelia Temesvári führt in den Laden des Berliner Büchertischs, der zunächst wie ein ganz normales, allerdings sehr weitläufiges Antiquariat daherkommt: mit Regalen bis zur Decke, mit Büchertischen, Kinderecke und einer kleinen Getränkestation. Mit diesem Laden macht der Büchertisch neben dem Onlineshop das Geld, das er braucht, um seine Mitarbeiter zu bezahlen. Der Raum, in dem früher ein großer Biomarkt residierte, ist freundlich, hell, einladend. Es gibt sogar neuere Bestseller, die nicht viel mehr kosten als 4 oder 5 Euro.
Menschen stehen vor Regalen: Akademiker um die fünfzig, Mütter mit kleinen Kindern, auch eine Frau mit Kopftuch ist da.
So was gibts nicht mehr so oft. Vorderhaus, erster Hof, Hinterhaus, zweiter Hof, Fabriketagen, dritter Hof, Fabriketagen, vierter Hof. Im vierten Hof ist also Schluss am Mehringdamm 51 in Kreuzberg. Dort sitzen die Quälgeister. Richtig geraten, die machen was mit S und M.
Die meisten Etagen aber stehen leer. Das war nicht immer so. Im Grunde war der Mehringdamm 51 ein Inbegriff der Kreuzberger Mischung. Im Vorder- und Hinterhaus wurde gewohnt, in den Fabriketagen gearbeitet. Noch in den achtziger Jahren stellte hier die Firma Germania Backmittel her. Es folgte die Druckerei Rotation, aus der dann ein Buchvertriebskollektiv wurde. Ganz hinten, wo heute die Quälgeister toben, hatte der Sehstern seine Räume, eine Agentur, die mit dem fünfzackigen Stern, eine Zacke zur Faust geknotet, eine grafische Ikone der Kreuzberger Revolte produzierte.
Doch Kontinuität war am Mehringdamm 51 nie eingekehrt, vor allem nicht beim Gewerbe. Immer wieder wechselte die Immobilie die Besitzer, und mit ihnen wechselten die Gewerbemieter. Der Kürschner Werner Klöditz musste bereit 1992 ausziehen, seine Miete hätte sich verfünfundzwanzigfacht. Nach Rotation, das Mitte der neunziger Konkurs anmeldete, zog dort die LPG ein, vor zehn Jahren dann der Berliner Büchertisch.
Auch ein Flüsterrestaurant hatte seine Räume mal in der Hinterwelt des Mehringdamms eröffnet. Heute wird dort ganz anders geflüstert. Der neue Eigentümer, ein Immobilienfonds, heißt es, soll dort ein Großhotel planen. (wera)
Ein dreijähriges Mädchen sitzt in der Kinderecke, studiert konzentriert ein Pixi-Buch nach dem anderen, während die Mutter nach Krimis guckt.
Es dauert fast eine halbe Stunde, bis sich das Mädchen entschieden hat. Am Ende sucht sie sich eins aus, das von einem mutigen Löwen handelt.
Gut, dass es nun bald in Neukölln Bücher für Mädchen wie diese geben wird.
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