piwik no script img

Beton statt Bullerbü

In Berlin fehlen Kinderspielplätze. Den Bezirken mangelt es an Geld und geeigneten Standorten für mehr Angebote – und den Kindern an einer Lobby, sagen Fachleute

von Felix Hackenbruch

Kasimir weint. Gerade haben ihm andere Kinder im Sandkasten sein Spielzeug weggenommen. Die Mütter drumher­um reagieren genervt, brüllen über das Getümmel hinweg und versuchen ihre Kinder im Blick zu behalten. Es ist ein relativ sonniger Samstagnachmittag, und auf dem Spielplatz in Mitte wimmelt es nur so von Kindern. Konflikte sind da vorprogrammiert, weiß die Mutter von Kasimir, Johanna Oswald-Schwerin. „Wenn das Wetter mal schön ist, sind die Spielplätze immer sofort überfüllt. Gerade in Mitte ist das Angebot schlecht“, sagt sie.

Ein Blick in die Statistik der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bestätigt ihren Eindruck. Zwar gibt es in Mitte 237 Spielplätze und in ganz Berlin etwa 1.850, aber nach den Regularien des Berliner Spielplatzgesetzes reicht das nicht einmal annähernd.

Dort heißt es nämlich unter Paragraf vier: „Für die Bemessung des Bedarfs an öffentlicher Spielplatzfläche gilt je Versorgungsbereich ein Richtwert von einem Quadratmeter nutzbarerer Fläche je Einwohner.“ Gemessen an diesen Vorgaben weist Berlin ein Defizit von 1.408.295 Quadratmetern auf. Das entspricht 40 Prozent des Bestandes oder der Fläche von knapp 200 Fußballfeldern.

Klingt familienfreundlich

Ein paar Paragrafen weiter ist außerdem formuliert, dass Spielplätze möglichst nahe an Wohnungen und fern von „Emissionen und Gefahrenquellen“ liegen sollen. Auch das klingt zwar zunächst familienfreundlich. In der Realität schränkt es aber die Auswahl der Bezirke für Standorte für neue Kinderspielplätze stark ein.

„Ich finde, wenn wir Richtlinien formuliert haben, dann sollten wir uns auch danach richten und einen Plan erstellen“, sagt Thorsten Kühne, Leiter des Ordnungsamts im Bezirk Pankow. Er hält die Qualität der Spielplätze in seinem Bezirk für „ausbaufähig“. Noch mehr treibt ihn aber die Quantität um. „Keine Bezirksregion in Pankow kann die gesetzliche Richtlinie für Spielplätze auch nur annähernd erfüllen“, gibt er zu.

Im Schnitt gebe es pro Einwohner etwa 0,6 Quadratmeter Spielfläche. Damit liegt man zwar im Landesdurchschnitt, in den eng bebauten Szene-Kiezen in Prenzlauer Berg liegt die Quote aber teilweise sogar bei nur 0,3 Quadratmeter.

Keine Konsequenzen

Raum für Spiel

Die Studie: In fünf Städten haben Forscher des Deutschen Kinderhilfswerks 5.000 Kinder in ihrem Wohngebiet beobachtet und sogenannte Wohnumfeldinventare erstellt. Ende 2013 wurde ihre Studie „Raum für Kinderspiel!“ veröffentlicht. Holger Hofmann, Geschäftsführer des Kinderhilfswerk, sieht gravierende Konsequenzen: „Durch das veränderte Stadtbild wandelt sich das kindliche Aufwachsen.“

Die Folgen: Bewegungsmangel, fehlende soziale Erfahrungen mit Gleichaltrigen, Orientierungs- und Identifikationslosigkeit – das sind mögliche Folgen, wenn Kinder mit zu wenig Raum für Kinderspielangebote aufwachsen. (taz)

Für die Bezirke drohen keine juristischen Konsequenzen, wenn sie die geforderten Werte verfehlen, und so verändert sich das Spielplatzangebot in Berlin seit der letzten Änderung im Dezember 2003 praktisch nicht.

„Die Flächen sind ein Thema, aber sie sind nicht das schwierigste“, sagt Kühne. „Das größte Problem sind Ressourcen – da fehlen uns einfach die Finanzen und Fachleute.“ 25,7 Millionen Euro mittelfristigen Förderbedarf berechnet ein internes Gutachten für die Kosten für die Spielplatzsanierung und Installation allein in Pankow. Die fehlenden Gelder erhofft sich Kühne aus dem Budget „Sondervermögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt“ – kurz Siwa.

195 Millionen Euro stellt der Senat für Stadtentwicklung darin den Bezirken zur Verfügung. Für Spielplätze sind jedoch nur 2,8 Millionen Euro vorgesehen. Und die meisten Investitionen sollen nach Marzahn fließen, wo das Spielflächendefizit bei über 50 Prozent liegt. „Realistisch werden wir die Richtlinien auch bis 2020 nicht erreichen“, gibt Kühne zu, „aber deswegen kann man ja nicht den Kopf in den Sand stecken.“

Wachsende Kinderfeindlichkeit

Kühne wirbt deshalb schon seit Langem für Modellprojekte wie eine „temporäre Spielstraße“. Zweimal im Monat soll dafür tagsüber eine Straße abgesperrt werden und den Kindern zum freien Spiel überlassen werden. Ursprünglich war das Projekt für Frühjahr 2015 geplant, doch nach mehrfachen Anwohnerklagen und juristischen Niederlagen rechnet Kühne erst 2017 mit einem Start der Spielstraße. Über die Emotionalität, mit der Bürger gegen sein Projekt mobilgemacht hatten, zeigt er sich rückblickend überrascht. „Ich habe mich mit diesen Menschen getroffen, aber ich verstehe ihre Motivation einfach nicht.“

„Wir erleben eine zunehmende Kinderfeindlichkeit“, sagt Holger Hofmann, Geschäftsführer des Kinderhilfswerk, dazu. Er beobachte schon seit Jahren vor allem in Großstädten Verschlechterungen der Lebensbedingungen für Kinder: „Es ist unbestreitbar, dass es einen Verdichtungsdruck gibt. Und dann weicht im Zweifel immer das schwächste Glied.“ Nischen, die wie früher von Kindern erobert werden könnten, gebe es in Großstädten nicht mehr. Selbst auf dem Land zieht Hofmann angesichts von Verkehrszunahme, Stadtflucht und mangelnder Infrastruktur eine negative Bilanz. „Bullerbü gibt es nicht mehr.“

Spielplätze in Berlin

Das Gesetz: Ein Quadratmeter Spielfläche pro Einwohner soll Berlin laut Spielplatzgesetz bereitstellen – angesichts des Bevölkerungswachstums keine einfache Aufgabe. Während in den vergangenen zehn Jahren etwa 300.000 Menschen zuzogen, wurden nur 140.000 Quadratmeter neue Spielfläche bereitgestellt. Insgesamt hat das Land 1.837 Spielplätze, wovon allerdings nur 1.751 den Richtlinien des Spielplatzgesetzes entsprechen.

Die Defizite: Berlinweit liegt das Defizit bei 39 Prozent. Negativer Spitzenreiter ist der Bezirk Marzahn-Hellersdorf, wo das Spielplatzdefizit 57 Prozent beträgt. Der geforderten Quote am Nächsten kommt Lichtenberg, wo nur 70.000 Quadratmeter Spielfläche – das entspricht 26 Prozent – fehlen. (taz)

Spielplätze mit Öffnungszeiten

Dafür verantwortlich sieht er nicht nur gesellschaftliche Tendenzen, sondern oftmals auch eine verfehlte Kinderpolitik der Kommunen. Diese würden wegen finanzieller Haushaltslöcher teilweise ihre Spielplatzflächen gewinnbringend verkaufen oder an private Kitas weitergeben. Kindern fehle einfach eine starke Lobby.

„Viele Kommunen haben inzwischen Öffnungszeiten für ihre Spielplätze – das halte ich für Schwachsinn“, empört sich Hoffmann und erinnert an die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen: „Artikel 31 garantiert Kindern das Recht auf Spielen. Andere gesell­schaftliche Gruppen würden es sich nicht bieten lassen, wenn man ihre Rechte derart beschneidet.“

Dass sich in den kommenden Jahren etwas an der Situation in Berlin verändern könnte, bezweifelt Johanna Oswald-­Schwerin. „Die Lobby der Fahrradfahrer und der Bauunternehmer ist in Berlin präsenter und lauter – für Kinder bleibt da kein Platz“, glaubt sie. Diese Überzeugung hat ihr bei einer wichtigen Entscheidung geholfen. Bald wird sie mit Mann und Kind nach Leipzig ziehen. „Weil wir dort bessere Jobaussichten haben, aber auch, weil Kinder dort entspannter aufwachsen können.“ Dort gibt es aber nicht einmal ein Spielplatzgesetz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen