Europäische Schule in Brüssel: Zahnspange, Glitzersocken und Europa
Wer für die EU arbeitet, schickt seine Kinder auf eine Europäische Schule. Was halten die Schülerinnen und Schüler von Europa?
Bevor Nora losläuft, den Rucksack halb offen, den Ringblock mit der Physik-Hausaufgabe im Arm, dreht sie sich noch einmal um: „Wollen Sie hierbleiben oder mit ins Chaos?“, fragt sie.
Bleiben, das hieße: weiter auf einer Betonterrasse stehen, von der man auf den Schulhof der Europäischen Schule III in Brüssel herunterblickt. An zwei vollgekritzelten Tischen sitzen hier 14-Jährige vor offenen Brotdosen. Und Chaos? „Mit den ganzen Sprachen und so. Das hier ist ein bisschen der deutsche Spot“, sagt Nora. „Jetzt gehen wir zu den coolen Kindern.“
Die eiserne Brücke von der Terrasse zum Schulgebäude klingelt unter ihren Schritten. Nora ist gerade 15 geworden, trägt einen Pulli bis zum Bauchnabel, Skinnyjeans mit Loch am Knie und Glitzersocken. „Elle est belle“, wird Oskar heute bei einer Personenbeschreibung im Französischunterricht über sie sagen, und auch wenn Oskar Nora ziemlich nervt, hat er damit natürlich recht. Die Sommersprossen, die blassblauen Augen, das lange Haar, das sie um den Finger wickelt, wenn sie nachdenkt. An ihr glitzert selbst die feste Zahnspange.
Nora ist Österreicherin, ihre Mutter arbeitet für die Ständige Vertretung von Österreich bei der Europäischen Union. Vor fünf Jahren ist Nora deswegen aus Wien nach Brüssel gekommen. Fünf Jahre, in denen sie vom Kind zum Teenager wurde und dabei irgendwo zwischen Klassenarbeit und erster Verliebtheit auch langsam herausfand, was das für sie bedeutet: Europa. Und ob es ihr etwas bedeutet.
Das Chaos wabert in einem breiten Flur zwischen zwei Reihen bunter Schließfächer. Nora eilt zu einer Gruppe Jungen, sie muss sich bei Edwin für irgendwas entschuldigen, eine komplizierte Sache. „Edwin, please! I’m sorry!“ Aus Englisch, Französisch, Niederländisch, Tschechisch, Deutsch und Griechisch, aus Kreischen und Plaudern wird einfach: Lärm.
Irgendwo unter einem dieser Gebäude, tief im Boden, liegt der Grundstein der Europäischen Schule III. Darin ist ein Stück Pergament mit den Sätzen:
„Zusammen erzogen, von Kindheit an von den trennenden Vorurteilen unbelastet, vertraut mit allem, was groß und gut in den verschiedenen Kulturen ist, wird ihnen, während sie heranwachsen, in die Seele geschrieben, dass sie zusammengehören. Ohne aufzuhören, ihr eigenes Land mit Liebe und Stolz zu betrachten, werden sie Europäer, geschult und bereit, die Arbeit ihrer Väter vor ihnen zu vollenden und zu verfestigen, um ein vereintes und blühendes Europa entstehen zu lassen.“
Als der französische Politiker Jean Monnet, den manche einen Vater der europäischen Einigung nennen, diese Worte Anfang der fünfziger Jahre formulierte, war gerade die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl entstanden. Beamte verschiedener Länder zogen nach Luxemburg, für ihre Kinder gründeten die Mitgliedsstaaten 1953 die erste Europäische Schule. Heute sind es 14 Schulen in sieben Ländern. Allein 12.000 Schüler besuchen die vier Brüsseler Schulen, eine fünfte ist schon in Planung. Der Platz reicht immer noch nicht für all jene, die ein Anrecht hätten, hier zu lernen: Kinder von Mitarbeitern der europäischen Institutionen.
Während die Schulen wachsen, beginnt die EU zu schrumpfen. Nora fragte sich in den Sommerferien, ob ihre englischen Mitschüler Brüssel bald verlassen müssen. Und dann ist dieser Ort, an dem europäische Identität entstehen soll, auch noch von einem hohen Metallzaun umgeben, mit scharfen Spitzen. Sicherheitsleute patrouillieren, seit den letzten Anschlägen wurde ihre Zahl erhöht. Über den Eingängen hängen Kameras.
Europa schmeckt wie Salat
Dabei sollte der Weg eines Schülers hier eine Art europäische Einigung im Kleinen sein. So wie die einzelnen Mitgliedsstaaten als autonome Einheiten diesen Prozess begannen, werden auch die Kinder nicht einfach alle in eine Klasse gesteckt. Die Schule ist nach Sprachsektionen sortiert, es gibt eine deutsche Klasse, eine französische und eine tschechische. Dann beginnt, langsam, die Phase der Begegnung.
Schon im ersten Grundschuljahr lernen die Kinder eine Fremdsprache, der Sprachunterricht ist von Anfang an durchmischt, Französisch lernt Nora mit Griechen und Engländern, das heißt: Statt Vokabeln zu lernen, müssen die Schüler lossprechen.
Dann kommen Kunst, Sport und Musik in der ersten Fremdsprache hinzu, später werden Geografie und Geschichte durchmischt. Am Ende haben die Kinder nur noch wenige Kurse als deutsche Klasse. Den Nationalstaat gibt es also noch, aber die Union gestaltet den Alltag. Kann diese Idee also doch funktionieren?
„Was ist hier an der Schule europäisch?“, fragt André Schwengelbeck. Er ist Noras Klassenlehrer und gibt heute eine Stunde Deutsch, die Journalistin ist da, es soll um Europa gehen. Schwengelbeck hat seine Lederjacke hinter sich auf den Stuhl gehängt und schaut seine Schüler fragend an. 18 Kinder sitzen vor ihm, alle um die 14 Jahre alt.
Nora hebt als Erste den Arm. Auch andere Hände schnellen hoch.
Jules: „Mir ist das hier teilweise zu europäisch. Weil man lernt ja keine Leute aus anderen Nationen kennen, Afrika oder so. Hier sind alle gleich reich, obere Mittelschicht. Das fühlt sich zu geschlossen an.“
Chiara: „Aber so viele unterschiedliche Sprachen lernen andere im ganzen Leben nicht kennen. Und wir sind noch Kinder.“
Anton: „Das ist hier nur insofern europäisch, als dass es multilingual ist. Es ist gibt nicht wirklich etwas, wovon wir beeinflusst werden.“
„Wir haben nicht genug Einfluss“
Julius: „Natürlich werden wir beeinflusst, allein schon von den Lehrern. Die EU wird eher positiv dargestellt. Manche Entscheidungen der EU sehen erst dumm aus, aber weltpolitisch macht es dann doch Sinn. Als kleiner Mensch in der EU ist es schwer, das im Blick zu behalten.“
Nora: „Wenn man hier ist, fühlt man sich für Europa verantwortlich. Niemand von uns findet den Brexit toll, weil man dann Freunde verliert.“
Jules: „Im Endeffekt sind wir alle Kinder und haben nicht genug Einfluss, um was zu ändern. Das finde ich traurig. Ich weiß nicht, wie ich das erklären kann.“
Julius: „Europa ist in erster Linie, dass man zusammenarbeitet. Das ist hier richtig Europa live. Wenn man das hautnah erlebt, ist es ganz schön.“
Elisa: „Es gibt Länder, mit denen kommt man zusammen. Und die anderen, mit denen macht man Geschäfte. Öl und so.“
Jules: „Europa soll eine utopische Zukunft schaffen. Aber dann wird man hier als Deutscher als Nazi beschimpft und als Niederländer als Windmühlenarbeiter. Solche Sachen passieren. Weil das Kinder sind, die die Vorurteile des Landes noch auf dem Rücken tragen.“
Nora: „Wir machen uns unsere eigenen Vorurteile: Die Griechen tragen immer Jogginghosen. Die Franzosen können kein Englisch. Das sind wir selber. Wir machen das.“
Markus Radhuber, seit neun Jahren Direktor der Oberstufe, sagt, er stelle sich Europa wie einen griechischen Salat vor. „Ich kann die Tomaten erkennen. Den Schafskäse. Die Oliven.“ Alles zusammen ergibt einen neuen Geschmack. „Man lernt hier, dass die Menschen verschiedener sind, als man denkt. Sie werden hier nicht automatisch zum neutralen EU-Bürger.“
Keine Euroegalos
Er sieht das auch an den Lehrern. Den Deutschen, die die Tische im Klassenraum in U-Form anordnen. Den Engländern, die Tischinseln stellen, an denen man debattiert. Den Franzosen, die die Bänke gerade zum Lehrer hin ausrichten. Viele Stereotype würden sich erst mal verstärken. Dann kann das Zusammenwachsen beginnen. Das passiert bei vielen, nicht bei allen.
Ursula von der Leyen war auf einer Europäischen Schule in Brüssel. Als Verteidigungsministerin ist sie gerade eine der stärksten Fürsprecherinnen einer gemeinsamen europäischen Armee.
Boris Johnson war auf einer Europäischen Schule in Brüssel. Als Brexit-Kopf, Polterpolitiker und britischer Außenminister sorgt er dafür, dass sein Land die Europäische Union tatsächlich verlässt.
Euroenthusiasten und Euro-skeptiker kommen von hier. Aber zumindest keine Euro-egalos.
Als Nora und ihre Freundin Marleen zur nächsten Stunde gehen, kommt ihnen im Flur eine Mitschülerin entgegen. Sie reißt eine Plastikmappe auf, holt zwei Blätter heraus, die drei jubeln auf Englisch, rufen sie sich im Weitergehen noch etwas auf Französisch zu. Dann rennen sie zum Unterricht.
„You showed us the world. You told us to believe. Now you give us purpose“ steht in großen Buchstaben auf den Blättern in ihrer Hand. Man könnte fast auf die Idee kommen, es ginge hier um Jean Monnet, um Erasmus von Rotterdam oder Martin Schulz. Aber die Mädchen wollen sich T-Shirts für ein Konzert drucken, das ist der Text, den sie sich dafür ausgedacht haben. Anfang Oktober spielt in Antwerpen Justin Bieber.
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