Der Feinkosthändler Hilal Kurutan blickt auf ein bewegtes Leben zurück. In der Türkei als Teil der aramäischen Minderheit aufgewachsen, hat er sich dort in der 68er-Bewegung engagiert. In Berlin gelandet, gehörte ihm für ein paar Jahre das SO36, aus dem er einen multikulturellen Ort machte. Ein Gespräch über Judo und Christsein, Feinkost und Linkssein: „Ich will mein Leben nicht als Egoist leben“
Interview Susanne MessmerFotos Dagmar Morath
taz: Herr Kurutan, vor fast 40 Jahren gehörte Ihnen gut vier Jahre lang der berühmte Kreuzberger Punkschuppen SO36. Wie kam es denn dazu?
Hilal Kurutan: Ich habe das SO36 im Jahr 1979 vom Künstler Martin Kippenberger und seinen Mitstreitern übernommen, nachdem die keine Lust mehr auf die Auseinandersetzungen mit den Punks hatten. Ich war damals Erzieher in Kreuzberg und in Neukölln und hörte ständig von meinen türkischen Jungs, dass sie nicht in die Diskotheken reinkamen. Ich wollte einen Laden machen, wo die Tür jedem offen steht. Das hat ganz gut geklappt, glaube ich.
Inwiefern?
Sie können sich gar nicht vorstellen, was es im SO36 alles gab. Ich hatte zum Beispiel viele Roma-Freunde, die bei mir drei Tage und Nächte durchfeiern konnten, das durften die sonst nirgends. Es gab türkische Hochzeiten. Auch politische Veranstaltungen waren mir wichtig. Und es gab ein Stück von der Schaubühne über Horst Wessel, das an drei Orten gespielt hat: In der Schaubühne, am Anhalter Bahnhof und im SO36. Aber ich lud auch türkische Theatergruppen ein. Das Kollektiv-Theater von Vasıf Öngören, der das erste Brecht-Theater der Türkei gegründet hatte und in Westberlin im Exil lebte, führte sein Stück „Küche der Reichen“ auf.
Erinnern Sie sich gern an die wilden Achtziger und die Zeit im SO36?
Ja, natürlich. Meine Frau und ich, wir haben immerhin 1980 im SO36 geheiratet! Die Band spielte umsonst, die Getränke bekamen wir ebenfalls sehr günstig – was will man mehr? Wir haben alle eingeladen, die wir kannten.
Aber Sie haben auch vermietet.
Ja, an Veranstalter, die zum Beispiel die Fehlfarben ins SO36 geholt haben. Das Konzert der Dead Kennedys habe ich aber selbst gemacht.
Ehrlich?
Für die brauchte ich nicht einmal Werbung machen. Es war fantastisch! Ich hatte nie Probleme mit Punks und Hausbesetzern.
Wie kommt ’s?
Wissen Sie, ich verstand die Ideen von diesen Leuten. Ich war ein politischer Mensch.
Erzählen Sie mal mehr davon.
Ich wurde in İskenderun geboren, in der Südtürkei, am östlichsten Zipfel des Mittelmeers. Wir sind Suryoye, also Aramäer, das heißt, wir gehören zur christlichen Minderheit. Mein Vater und meine Onkel waren Goldschmiede.
Sie waren also reich?
Vor allem gebildet. Mein Vater konnte sieben Sprachen, er hat unter anderem in Damaskus studiert.
Mochten Sie Ihren Vater?
Er starb, als ich sieben Jahre alt war. Danach kümmerte sich mein Onkel darum, dass ich eine gute Schulbildung bekam. Ich ging aufs Gymnasium, 1966 habe ich in Ankara ein Jahr lang Physik studiert, ab 1967 studierte ich Maschinenbau in Istanbul. Tja, und dort bin ich in die Studentenrevolution hineingeraten. Ich habe viel gelernt und gesehen. Es war eine kämpferische Zeit.
Was genau haben Sie damals gedacht?
Ich habe begonnen, soziale Probleme zu sehen. Ich habe dauernd mit Freunden in der Mensa diskutiert und habe viele Bücher gelesen.
Wahrscheinlich Karl Marx?
Ja, selbstverständlich. Marx, Lenin, Dimitrow. Wir verfolgten die Geschehnisse in China, in Kuba. Wir wollten für Gerechtigkeit kämpfen, uns weiterbilden. Aber ich hab mich auch an ganz anderen Aktionen beteiligt.
Zum Beispiel?
Ich habe Geld für die Metallarbeiter gesammelt. Ich habe für die 35-Stunden-Woche gekämpft, aber auch gegen die amerikanische Politik in Vietnam. Und natürlich gegen die nationalistischen Gruppierungen in der Türkei, gegen die Grauen Wölfe. Ich habe den Studenten Judo-Unterricht gegeben.
Warum das denn?
Man musste sich selbst verteidigen können. Einmal, als die Studentenräte gewählt werden sollten, gab es eine Schießerei. Wir mussten die Redner schützen.
Und was ist passiert?
Der Mensch: Hilal Kurutan wurde 1950 in İskenderun geboren, einer Stadt in der Südtürkei. Er ist Aramäer.
Die Karriere: Seit 1966 studierte Kurutan Physik in Ankara, seit 1967 Maschinenbau in Istanbul, wo er bald in die türkische 68er-Bewegung hineingeriet, sodass er nach dem Militärputsch 1971 das Land verlassen musste. Zunächst lernt er Deutsch in München, kurz darauf studiert er wieder Maschinenbau an der TU Berlin. In Berlin fängt er auch an, als Erzieher in Jugendeinrichtungen zu arbeiten. Seit 1986 lebt Kurutan vom Verkauf von Feinkost.
Die wilde Zeit: 1979 bis 1983 besaß Kurutan das SO36, das er in Merhaba SO36 umbenannte. In dieser Zeit entwickelte er den Laden zum multikulturellen Ort, der er noch heute ist, und veranstaltete sowohl türkische Hochzeiten als auch Punkkonzerte.
Die Gegenwart: Das Restaurant von Hilal Kurutan und seiner Frau heißt Feinkostwirtschaft, Senefelder Straße 8a, Mo.–Sa. 10–20 Uhr. (sm)
Es ist uns gelungen. Ein anderes Mal habe ich meinen Freund George in Ankara besucht, mit dem ich dort Physik studiert hatte. Wir gingen zusammen in eine Kantine, in der sich immer die fortschrittlichen Leute getroffen hatten. Inzwischen war sie von den Grauen Wölfen übernommen worden. Auf einmal hörten wir diese nationalistischen Lieder. Und plötzlich kam ein großer, stabiler Typ auf uns zu und fragte George, wer ich sei. George hatte vor niemandem Angst, also sagte er: „Was geht’s dich an, Arschloch.“ Das Problem war, dass hinter uns auch schon die Grauen Wölfe standen. Wir kamen nicht mehr raus, waren eingekesselt.
Da war es wohl wirklich hilfreich, dass Sie Judo konnten?
(Grinst) Jedenfalls kamen wir irgendwie raus.
Warum sind Sie ein Linker geworden?
Mein Gott, ich war eben sozial, menschenfreundlich. Ich denke heute, dass es auch ein Vorteil war, dass ich Christ bin. Ich war immer tolerant.
Wie fand Ihre Familie das?
Meine Familie war ebenfalls sehr sozial. Einer meiner Onkel war zum Beispiel ein leitender Arzt in einer Klinik in Istanbul. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn einmal nach langer Zeit wieder in seinem Krankenhaus besucht habe. Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen. Er schrieb gerade Rezepte. Anstatt mich zu umarmen, sagte er nur trocken, dass ich mich noch mal hinsetzen und warten muss. Und zu einem Polizeibeamten, der sich vordrängelte, sagte er: „Du solltest den Leuten hier ein Vorbild sein. Warte, bis du an der Reihe bist.“ Das hat mich sehr beeindruckt.
Also war Ihre Familie einverstanden mit Ihrem politischen Engagement?
Nein, gar nicht. Wir waren ja wie gesagt Goldschmiede. Ich war in den Ateliers meiner Familie nicht gern gesehen, weil ich mich immer für die Rechte der Arbeiter engagiert habe. Ich wollte, dass sie einen Betriebsrat gründen.
Na, das ist natürlich frech.
(Grinst) Das fanden meine Onkel auch. Ich habe ziemlich viel Stress bekommen.
Gehe ich richtig in der Annahme, dass sich Ihre Familie trotzdem ein wenig Sorgen um Sie gemacht hat?
Natürlich. Ich war der Lieblingsenkel meines Großvaters mütterlicherseits. Als ich anfing, in Istanbul auf die Straße zu gehen, fragte er mich: Ist es nicht schlimm genug, dass du Aramäer bist? Musst du auch noch links sein?
Hat man in Ihrer Familie eigentlich noch Aramäisch gesprochen?
Mein Vater konnte die Sprache, aber in unserer Gegend wurde eigentlich nur noch in den Klöstern Aramäisch gesprochen. Die Menschen hatten Angst. Wir hatten als junge Leute kaum einen Begriff davon, was den Aramäern in der Türkei widerfahren ist. Man sprach nicht über den Völkermord. Auch in Deutschland ist ja wenig bekannt, dass damals nicht nur Armenier ermordet wurden, sondern auch Aramäer und Assyrer. In einer einzigen Nacht im Jahr 1915 sind zwölf Onkel meines Großvaters abgeschlachtet worden. Mein Urgroßvater war der Einzige, der überlebt hat.
Wie kam es, dass Sie in den Siebzigern nach Deutschland gekommen sind?
1971 griff in der Türkei mal wieder das Militär ein. Eines Tages musste ich in İskenderun zu einem Verhör. Nach diesem Verhör beschloss meine Familie, dass ich die Türkei verlassen muss. Ich wäre sonst wahrscheinlich im Gefängnis gelandet. Viele Freunde von mir sind damals ins Gefängnis gekommen.
Was haben Sie in Deutschland gemacht?
Ich bin zuerst nach München gekommen, dort hat eine Tante von mir gelebt. Dann habe ich beschlossen, an der TU Berlin weiter Maschinenbau zu studieren. So habe ich meine Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Hätten Sie nicht politisches Asyl erhalten?
Wahrscheinlich, aber ich wollte lieber arbeiten. Denn ich hatte parallel begonnen, ohne jede Ausbildung in Kreuzberg im Haus der Jugend am Böcklerpark als Erzieher zu arbeiten. Das hat mich so fasziniert! Die Jugendlichen haben bald Unterschriften gesammelt und demonstriert, damit ich eine feste Stelle bekomme. Also habe ich eine berufsbegleitende Ausbildung zum Erzieher gemacht, das war damals noch ein Modellprojekt. Das war für mich toll: Ich konnte theoretisch ausbauen, was ich praktisch gemacht habe.
Wie sah Ihre Arbeit aus?
Ich hatte natürlich viel mit Kindern aus den sogenannten Gastarbeiterfamilien zu tun. Deshalb war das für mich keine Arbeit, die nach acht Stunden beendet war. Ich habe mich auch um die Eltern der Kinder gekümmert. Ich habe türkische Theatergruppen eingeladen, tolle, fortschrittliche Stücke gezeigt. Das war damals nicht einfach, denn die jungen Leute wollten damals lieber Unterhaltung. Ich habe versucht, sie zum Nachdenken zu bewegen – oder sogar selbst Theater zu spielen.
Waren Sie ein guter Student?
Einmal bat mich ein Dozent, mich nicht in seinem Fach einzuschreiben. Ich war ihm zu eigen. Diese Bitte musste ich leider ablehnen (grinst). Als er mir in der schriftlichen Prüfung nur eine „Drei“ gegeben hat, erhob ich Einspruch. Also musste er mir in der mündlichen Prüfung eine „Eins“ geben. Ich habe meinen Beruf damals wirklich mit Liebe gemacht. Genauso wie die politische Arbeit.
Ging das denn in Deutschland weiter mit der Politik?
Ja, ich habe immer politisch weitergearbeitet. Schon in München habe ich viele Gleichgesinnte getroffen. Und dann habe ich viel für einen Verein in Gelsenkirchen, Essen und Hamm gearbeitet, für einen Verein Sportveranstaltungen und Demos organisiert. Bis heute treffe ich dort Leute, die sich bei mir bedanken und sagen, dass sie ihr Studium ohne mich nie geschafft hätten.
Konnten Sie in den ersten Jahren in Deutschland weiterhin in die Türkei fahren?
Ich bin immer mit dem Auto über Bulgarien gefahren, das war recht ungefährlich. Damals war die Welt ja noch nicht so digitalisiert wie heute.
Mal eine ganz andere Frage: Was ist das für ein Essen, das Sie hier in Ihrem Restaurant in Prenzlauer Berg anbieten?
Gemischte Mittelmeerküche. Italienisch, türkisch, griechisch.
Wie kamen Sie zum Restaurant?
Das ist wieder eine lange Geschichte … 1986 war ein Jahr der Niederlage für uns, wir hatten das SO36 schließen müssen. Bei einem Konzert der amerikanischen Band Black Flag fingen die Punks plötzlich an zu randalieren, sie zerschlugen sogar die Toiletten! Ich glaube bis heute, dass das verkleidete Polizisten waren. Jedenfalls machte die Bauaufsicht den Laden dicht. Und dann konnten wir die Miete für unser Restaurant an der Hasenheide, das wir auch in dieser Zeit eröffnet hatten, nicht mehr bezahlen. Wir waren pleite.
Wollten Sie nicht weiter als Erzieher arbeiten?
Doch, aber es hat nicht gereicht, ich hatte ja inzwischen geheiratet und wir hatten unsere Kinder bekommen. Und dann haben meine Frau und ich Spandau entdeckt. Ich habe in der Fußgängerzone einen Standplatz für einen Obst- und Gemüsestand bekommen. Zum Glück hat mir ein Bekannter Geld geborgt. Also haben wir dort einen Gemüsestand betrieben, später einen Stand für Feinkost.
Wie lief es?
Gut! Einmal hatten wir einen Kunden in Spandau, der war der Einkaufsleiter der Feinkostabteilung im KaDeWe. Der hat uns gefragt, ob wir nicht einen Stand im KaDeWe haben wollen. Aber das haben wir uns leider nicht getraut. Stattdessen haben wir Kebab- und Falafelstände auf Open-Air-Konzerten gemacht. Tina Turner, David Bowie, Pink Floyd: Ich habe sie alle gesehen. So haben wir versucht, unser Brot zu verdienen.
Und waren Sie damals noch immer politisch aktiv?
Es sind oft Leute zu mir gekommen und haben mich um Hilfe gebeten. Ich kenne sehr viele Menschen und kümmere mich viel um unseren Bekanntenkreis. Wir haben in Zehlendorf unsere syrisch-orthodoxe Gemeinde, da bin ich viel unterwegs. Im Grunde ist es doch so: Der Mensch wird immer mehr allein gelassen. Jeder ist der Beste, jeder ist der Schönste. Die menschliche Kommunikation geht immer weiter verloren. Aber ich will mein Leben nicht als Egoist leben. Ich kann kein Brot essen, wenn ich weiß, dass mein Nachbar kein Brot hat. Das ist nicht mein Traum, nicht meine Sehnsucht.
Sind Sie schon einmal gefragt worden, ob Sie bei der Aufnahme der syrischen Flüchtlinge helfen können?
Ich hatte viele Angebote, mit Flüchtlingen zu arbeiten, und habe Freunde, die in Flüchtlingsheimen arbeiten. Aber leider bin ich gerade finanziell nicht dazu in der Lage, ehrenamtlich zu helfen.
Schade, oder?
Ja, aber vielleicht ist es auch gut so. Denn ich will mich jetzt mehr um meine Familie kümmern. Als meine Tochter und meine beiden Söhne noch klein waren, da hatte ich zu wenig Zeit für sie. Mein älterer Sohn hat Muskelatrophie. Wir würden gern unsere kleine Wohnung in Spandau aufgeben und eine Wohnung in seiner Nähe suchen, falls er einmal Hilfe braucht.
Braucht er Sie?
Noch ist er selbstständig. Und er ist intelligent. Dieser Laden hier in Prenzlauer Berg – das war seine Idee. Hier war früher ein Café drin, da war er Stammkunde, denn er wohnt um die Ecke. Irgendwann machte der Laden zu und war zu vermieten. Wir haben sofort angerufen, denn in Spandau war die Miete zu teuer geworden. Jetzt gehört uns dieser Laden seit ungefähr vier Jahren. Wir sind zufrieden.
Und fahren Sie noch immer oft in die Türkei?
Ich liebe mein Land, ich liebe meine Leute. Wir fahren gern hin. Letztes Jahr waren wir sogar zweimal da.
Machen Ihnen die aktuellen politischen Entwicklungen keine Sorgen?
Nein. Dieses Regime versucht, den Menschen Angst einzujagen, damit sie nicht mehr miteinander reden. Da mache ich nicht mit.
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