Kommentar Deliveroo-Streik: Neuverpackte Scheinselbstständigkeit
In London streiken Deliveroo-Fahrer. Ihr Kampf rückt in den Fokus, dass das Geschäftsmodell der Lieferplattform auch Verlierer kennt: die Arbeitnehmer.
W artenden Deliveroo- und Foodora-FahrerInnen, die sich an Straßenecken oder vor Restaurants in ihren quietschbunten Uniformen die Wartezeit vertreiben, gehören mittlerweile auch in deutschen Großstädten zum Straßenbild. In London befinden sich Hunderte von ihnen seit vergangenem Donnerstag im Streik. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen und besseren Lohn.
Auslöser war laut Medienberichten eine Textnachricht, die einige Deliveroo-FahrerInnen am Donnerstag erhalten hatten. Darin wurde mitgeteilt, dass sie bald nur noch 3,75 Pfund (umgerechnet etwa 4,30 Euro) pro ausgeliefertem Essen verdienen würden statt wie vorher einem Pfund pro ausgeliefertem Essen plus sieben Pfund in der Stunde.
Am gleichen Tag wurde berichtet, dass Deliveroo in einer weiteren Finanzierungsrunde 275 Millionen Dollar eingesammelt habe und das Unternehmen jetzt mit über einer Milliarde Pfund bewertet wird.
Deliveroo funktioniert als Plattform, die zwischen den FahrerInnen, den Restaurants und den KundInnen vermittelt. Organisiert wird das über eine App, die von Deliveroo bereitstellt wird. Die Firma investiert das eingesammelte Geld unter anderem, um sich gegen Konkurrenten wie Foodora zu behaupten, die nach demselben Prinzip funktionieren. Sie versuchen, potentiellen Kunden die Bestellungen mit Gratisgutscheinen schmackhaft zu machen und unterbieten einander bei Deals mit den Restaurants.
Bezahlung unter dem Mindestlohn
Die FahrerInnen verdienen oft unter dem Mindestlohn – bei geringen oder gar keinen Sozialabgaben. Einerseits arbeiten sie also wie Selbstständige, andererseits fungieren sie als Angestellte, weil sie nur für einen Arbeitgeber arbeiten. Das ist klassische Scheinselbstständigkeit, neu verpackt.
Start-Ups wie Deliveroo, Uber und Airbnb bieten viele Vorteile, vor allem für Menschen, die sich Verfügbarkeit und Flexibilität wünschen und auch dafür zahlen können. Doch wie man sieht, gibt es auch Verlierer in diesem Geschäftsmodell – und die rücken mit dem Streik jetzt in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Bisher hieß es, solche prekäre Arbeit sei kaum in Arbeitskämpfen zu organisieren, die ArbeiterInnen seien zu vereinzelt oder würden in Konkurrenz zueinander stehen.
Die FahrerInnen von Deliveroo in London haben bewiesen, dass es anders geht. Bleibt zu hoffen, dass sich viele an ihnen ein Beispiel nehmen – und alle anderen sie jetzt solidarisch unterstützen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen
Prozess zum Messerangriff in England
Schauriger Triumph für Rechte
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott
Tarifverhandlungen bei Volkswagen
VW macht weiterhin Gewinn
Rückgabe von Kulturgütern
Nofretete will zurück nach Hause
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los