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Kommentar Großdemo in der TürkeiEin Scheinriese namens Erdoğan

Bei der Massendemo in Istanbul hat sich Erdoğan als allmächtiger Präsident inszeniert. Doch der Schein trügt. Das Land ist in Aufruhr.

Tut nur, als befände er sich im Zenit seiner Macht: Tayyip Erdoğan Foto: ap

Es war die größte Massenkundgebung in der Geschichte der türkischen Republik. Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan war Initiator der „Kundgebung für die Demokratie und die Märtyrer“ – und Millionen folgten seinem Aufruf. Der Putsch macht es möglich: Ein breiter Konsens, der Oppositionsparteien mit einschließt, und der vor allem gegen jene gerichtet ist, die mit einem Staatsstreich versuchten, die Türkei in den Abgrund zu stürzen.

Tatsächlich genossen die Putschisten nicht den geringsten Rückhalt in der Bevölkerung. Es war die Straße, die sich ihren Panzern in den Weg stellte. Erdoğan will daraus Kapital schlagen. Bei der Kundgebung war viel von Gott, der Nation und dem Vaterland die Rede. So erlangt Erdoğan unter dem Beifall von Millionen die ideologische Hegemonie in der Nach-Putsch-Ära.

Doch der Schein könnte trügen. Die Gesellschaft ist in Aufruhr, der Kompromiss mit den Oppositionsparteien brüchig. Keineswegs steht Erdoğan im Zenit seiner Macht. Solange ein Frieden mit den Kurden nicht geschlossen ist, wird die Türkei nicht zur Ruhe kommen.

Die linke, kurdische Partei HDP, die sich von der ersten Stunde an gegen den Putsch stemmte, wurde erst gar nicht zur Kundgebung eingeladen. Die Kurden sind außen vor – und auch die sozialdemokratisch-kemalistische CHP ist nur geduldet. Wenn Oppositionsführer Kılıçdaroğlu (CHP) dann sein „Nein“ zum Putsch, aber auch sein „Nein“ zur zivilen Diktatur verkündet und Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit und Laizismus hochhält, wie bei der Kundgebung geschehen, sind Konflikte mit Erdoğan natürlich vorprogrammiert.

Gott vergib mir. Sie haben mich betrogen

Tayyip Erdoğan

In den Tagen des Putsches vermochte Erdoğan Millionen zu mobilisieren, die – zu Recht – Angst hatten vor der Militärdiktatur eines selbsternannten islamistischen Sektenführers: Fethullah Gülen. Mit seinem flapsigen „Gott vergib mir. Sie haben mich betrogen“ wird Erdoğan aber die politische Verantwortung dafür, dass er einst selbst die Kader der Gülen-Sekte in den Staatsapparat hievte, um Kurden, Oppositionelle und Linke zu verfolgen, nicht los.

Erdoğan ist kein klandestiner Führer, sondern Politiker. Seine Zukunft hängt an einem seidenen Faden, so wie die Tourismusbranche oder die türkische Bauindustrie. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass unruhige Zeiten bevorstehen. Doch entschieden ist noch gar nichts.

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11 Kommentare

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  • Erdoghan könnte es -hiffentlich - wie dem Zauberlehrling ergehen: "die Geister die er rief, die wird er nicht mehr los." Die Demonstrationen zeigen, dass die Bevölkerung sich souverän gegen einen Militärputsch wehrt - das war früher anders. Gelingt es Erdoghan nicht, den wirtschaftlichen NIedergang aufzuhalten, werden die selben Massen sich gegen ihn stellen - dagegen helfen auch keine absolutistischen Vollmachten.

    • @Philippe Ressing:

      Nachtrag: Der Begriff 'Scheinriese' stammt aus dem Buch "Jim Knopf" von Miachel Ende. Der Scheinriese Tur Tur ist von weitem gesehen beängstigend, bei Nähe betrachtet ein furchtsam-freundlicher Mann. Und das ist der Unterschied zu Erdoghan, der ist auch bei Nähe furchterregend.....

  • Sehr gute Analyse, aber ich gebe zu bedenken, dass Erdogan den Weg der Gewalt gehen könnte. Bislang hat er dies nur verdeckt getan - das könnte sich aber ändern. Und in einem Punkt gebe ich Ömer Erzeren recht: Ohne einen Frieden mit den Kurden sind die Konflikte gewaltig und die Risiken für die Regierung auch. Mit dicken Sprüchen kommt Erdogan aus diesen Konflikten nicht raus. Außerdem könnte die PKK / militante Kurden noch zu ganz anderen Mitteln oder Aktionen greiffen, sie verzichten momentan noch darauf. Sollten die kurdische Seite den Kampf intensivieren, könnte Erdogan ohne Optionen dastehen.

    • @Andreas_2020:

      Ja! zu Ömer Erzeren - &

      kleine Anmerkung zum "Kurdenkonflikt" -

      Auch da ist die Gemengelage nicht einfach - & der ethnische mit dem sozialen Konflikt (Anatolien) unentwirrbar verknüpft.

      So z.B. - das zeigt das "-oglu" am Namensende - sind der amtierende Aussenminister & sein Vorgänger kurdischer Herkunft!

  • Eine interessante Einschätzung zu der ich nicht genug Vergleichsinsformationen habe.

    Alles Gute Herr Erzeren!

     

    Ich hoffe es finden sich bald wieder Bewegungen gegen die ganzen Diktaturen, Populisten und Kriegführer, die die Meinungs- und Pressefreiheit bekämpfen, wie in Polen, Ägypten, Argentinien, Thailand u.v.a.

  • Halte ich für eine völlig falsche Analyse: umso weniger die Türkei zur Ruhe kommt, umso mehr steht Erdogan doch im Zenit der Macht. Umso weniger es Frieden mit den Kurden gibt, umso mehr kann Erdogan allle Mittel ausschöpfen. In einer friedlichen Türkei stünde Erdogan eine umso selbstbewußtere Zivilgesellschaft entgegen. Das sollten wir doch von uns kennen - nix bringt die Bevölkerung so hinter radikale Maßnahmen wie ein paar Anschläge.

  • Ich kann dem Autor nur recht geben. Nur leider habe ich den Eindruck, dass es Erdogan ziemlich egal ist, ob er mit den Kurden Frieden schließt oder nicht. Die letzten Monate habe gezeigt, dass er den Kurdenkonflikt eher mit Waffengewalt lösen möchte.

  • "Keineswegs steht Erdoğan im Zenit seiner Macht. Solange ein Frieden mit den Kurden nicht geschlossen ist, wird die Türkei nicht zur Ruhe kommen."

     

    Das mag sein, aber er steht zumindest kurz zuvor. In einem rasenden Tempo verfolgt Erdoğan seine Agenda und der Rest schaut kopfschüttelnd zu und mahnt. Diese größte Massendemo in der Geschichte der Türkei hat ihre Wirkung nicht verfehlt, auch weit über die Grenzen der Türkei hinaus.

     

    Im Interesse von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bleibt zu hoffen, dass der außenpolitische Druck irgendwann so groß ist, dass sich die politischen Verhältnisse wieder ändern und auch ein Frieden mit den Kurden wieder auf der politischen Agenda steht.

  • Die gegenwärtigen Vorgänge in der Türkei erinnern mich an markante historische Ereignisse:

     

    In den 1920er Jahren brach der damalige Sowjet-Führer Stalin mit seinem langjährigen Weggefährten Trotzki. Anscheinend war die Welt zu klein für beide. Trotzki emigrierte. Er wurde zunehmend zur fixen Idee Stalins, die sich bei ihm bis zum Verfolgungswahn auswuchs. In den 1930er Jahren ließ er hunderttausende unschuldige Menschen in den Gulag schicken und/oder erschießen, mit der Begründung, sie seien Trotzkis Agenten.

    Steht den Türken ähnliches bevor?

     

    Im Jahr 1943 brüllte Reichspropagandamister Goebbels in die Mikrofone des Berliner Sportpalasts: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ – „Jaaa“ tönte es begeistert zurück. Es war wie ein Rausch. Ein paar Jahre später kam der Zusammenbruch und der Rausch war verflogen. Keiner wollte irgendwas mit dem Gewesenen zu tun gehabt haben.

    Wie werden die gegenwärtigen Erdoğan-Fans reden, wenn ihr Idol früher oder später mehr oder weniger freiwillig abtritt?

    • @Pfanni:

      Erdogan wird nicht abtreten, davon können Sie ausgehen.

      Was in der Tat an die deutsche Vergangenheit mit Fackeln für AH, eine große Begeisterung der Massen und die anschließenden "Säuberungen"erinnert ist vor allem eins : AH und auch Erdogan tun etwas für die Seele : Sie geben den Menschen ihren Stolz (wieder), früher nach Verdun, heute nach permanenter Einstufung der Türken als bestenfalls zweitklassig.

      Irgendwann wird der Alltag kommen , der Rausch verfliegen, wenn das normale Leben Einschränkungen mit sich bringt, die den nationalen Stolz zweitrangig werden lassen.

      Und Erdogan wird darauf reagieren .

      • @Parisien :

        Peinlich, aber ich meinte natürlich Versailles, und nicht Verdun.