Susanne Memarnia freut sich, dass der Milieuschutz im Kampf gegen steigende Mieten wirkt – was alle im Wahlkampf für sich nutzen wollen: Die Investoren ziehen weiter
Kurz vor einer Wahl wird jeder politische Termin zu einer Wahlkampfveranstaltung. Und so sind die Sozialdemokraten, die zur ersten Bilanz der sogenannten Umwandlungsverordnung in ein Seniorenheim im Neuköllner Reuterkiez eingeladen haben, am Mittwochmittag nicht allein: Zahlreiche Grünen-Politiker stehen mit Schildern vor dem Haus. „Warum haben Sie so lange gepennt?,“ hält die Grünen-Abgeordnete Anja Kofbinger der Neuköllner SPD-Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey entgegen, die in den 70er-Jahre-Bau an der Reuter- Ecke Pflügerstraße verschwindet.
Tatsächlich fragt man sich, warum sich ausgerechnet die Sozialdemokraten im Gentrifizierungs-Hotspot Neukölln so lange gesperrt haben, dort Milieuschutzgebiete auszuweisen. Die setzen der Verdrängung angestammter Mieter wenigstens ein bisschen was entgegen. Das ist die frohe Botschaft, die Giffey – und vor allem SPD-Staatssektetär Engelbert Lütke Daldrup – zu verkünden haben: Dank der Umwandlungsverordnung, die seit März 2015 in Berlin gilt, sinkt in Milieuschutzgebieten die Zahl der in Eigentum umgewandelten Mietwohnungen. Und das nicht zu knapp.
Was der Markt hergibt
Im ersten Quartal 2016 seien in den damals 22 sogenannten sozialen Erhaltungsgebieten noch 2.042 Wohnungen umgewandelt worden, erklärt Lütke Daldrup, im vierten Quartal seien es nur noch 787 gewesen. Die Umwandlungsverordnung wirke also, bilanziert der Staatssekretär – und kann sich den wahlkämpferischen Seitenhieb nicht verkneifen, dass „ich als Sozialdemokrat die Verordnung gerne eher gehabt hätte“ – aber mit der CDU sei das ja nicht zu machen gewesen.
Auch Bürgermeisterin Giffey ist sichtlich froh, gerade noch rechtzeitig auf den Zug der Mieterfreunde aufgesprungen zu sein – am 28. Juli traten endlich die Milieuschutzverordnungen für fünf Gebiete in Nord-Neukölln in Kraft. „Einige sagen, das ist zu spät“, rechtfertigt sich Giffey in Richtung der Grünen vor der Tür. Aber man habe die Situation in Neukölln eben erst „fundiert untersucht“.
Milieuschutz überall
Gerade noch rechtzeitig vor der Wahl hat man endlich ausgeprüft, was für andere seit Jahren offenkundig ist, könnte man boshaft notieren – aber auch gerade rechtzeitig für den Immobilienmarkt. Denn außerhalb der Milieuschutzgebiete, so die schlechte Nachricht von Lütke Daldrup, steigt die Zahl der Umwandlungen eklatant weiter. 17.000 gab es 2015 in Berlin, ein Jahr zuvor waren es noch 6.000 weniger.
Das heißt: Das Heer der Investoren, die in Niedrigzinszeiten lukrative Anlagemöglichkeiten suchen, zieht weiter, weg von Nord-Neukölln, in Kieze ohne Milieuschutz, wo fröhlich umgewandelt und verkauft werden darf, was der Markt hergibt. Für pfiffige Wahlkämpfer kann das nur heißen: Milieuschutz sofort – und zwar bitte in ganz Berlin.
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