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Montreal vor dem Weltsozialforum„Wir brauchen eine andere Welt“

Kanada ist die Heimat großer Konzerne und großer sozialer Bewegungen. Die Ortswahl soll dem Sozialforum wieder Bedeutung verleihen.

Antikapitalistische Demonstration in Montreal am 1. Mai 2016 Foto: imago/Xinhua

EDMONTON taz | Mit Montreal als Veranstaltungsort hat sich das Weltsozialforum, zu dem sich globalisierungskritische Gruppen ab Dienstag treffen, in diesem Jahr eine lebensfrohe und junge Stadt ausgesucht. In der zweitgrößten Metropole Kanadas leben fast eine Viertelmillion Studierende, die Kulturszene ist provokativ und bunt, das Straßenbild zweisprachig und multikulturell. Andererseits ist Montreal auch berüchtigt für seine chronischen Probleme: die einflussreiche Mafia, korrupte Politiker, ein dramatischer Verfall der öffentlichen Infrastruktur, die Armut, das tägliche Verkehrschaos.

Es ist ein besonderer Mikrokosmos, den es so in kaum einer anderen nordamerikanischen Stadt gibt – und der eine der bislang größten sozialen Bewegungen Kanadas hervorgebracht hat. Beim sogenannten Ahornfrühling im Jahre 2012 zogen monatelang Zehntausende Studierende und Aktivisten in Anlehnung an den Arabischen Frühling durch die Straßen der Stadt, um gegen höhere Studiengebühren, gegen die Notstandsgesetze der damaligen Regierung und für eine gerechtere Zukunft zu demonstrieren. Aus dem Bildungsstreik wurde eine populäre Massenbewegung, die zahlreiche soziale Reformen anstieß. Heute gilt der Ahornfrühling als Lehrstück für einen erfolgreichen Kampf gegen die Austeritätspolitik.

Gut vier Jahre später wird die Stadt wieder Schauplatz kritischer Aktivisten. Sechs Tage lang wollen sich bis zu 50.000 Angehörige von 5.000 globalisierungskritischen Gruppen aus 110 Ländern auf dem Weltsozialforum 2016 vernetzen. Ihr Motto: „Wir brauchen eine andere Welt.“ Auch wenn zu Hochzeiten noch deutlich mehr Aktivisteninnen und Aktivisten zu den Treffen fuhren – 2004 im indischen Bombay waren es mehr als 100.000, ein Jahr später im brasilianischen Porto Alegre gut 120.000 –, ist es doch immer noch die weltgrößte Veranstaltung dieser Art.

Gegründet wurde das Weltsozialforum vor 16 Jahren in Porto Alegre als zivilgesellschaftlicher Gegenentwurf zum elitären Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos. Globalisierung sei auch auf andere Weise möglich, als es die Welthandelsorganisation und dieG-7 vormachen, hieß es damals.

Über Menschenrechtsverletzungen reden

In Porto Alegre verabschiedete die Bewegung auch die Charta der Prinzipien, die bis heute für alle Foren gilt und festlegt, dass sich „das Weltsozialforum (…) allen totalitären und verkürzten Ansichten von Wirtschaft, Staat und Geschichte“ widersetzt und „alle Formen von Herrschaft und Unterdrückung eines Menschen durch einen anderen“ verurteilt.

Die Wahl der Veranstaltungsorte – vom basisdemokratisch organisierten Porto Alegre ging es über die Megastadt Bombay bis nach Tunis als Symbol des Arabischen Frühlings – spiegelte unterschiedliche Schwerpunkte der Globalisierungskritik. Dass sich die Veranstalter dieses Mal für Montreal entschieden haben, ist wiederum ein Einschnitt: Das erste Mal findet die Tagung in Nordamerika statt. Zum einen wegen des Ahornfrühlings. Dieser sei ein gutes Beispiel dafür, dass auch in der nördlichen Hemisphäre junge Leute große Veränderungen erwirken könnten, sagen die Organisatoren. Zum anderen aber auch als Kampfansage: Kanada ist die Heimat großer Fracking- und Bergbaukonzerne.

„Kanadische Unternehmen sind überall beteiligt, wenn es um den Abbau von Erzen geht“, sagt Anne Dreyer vom evangelischen Entwicklungsdienst Brot für die Welt. Ihre Organisation will in Montreal über damit verbundene Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen reden.

Die Veranstalter hoffen, damit auch dem schleichenden Bedeutungsverlust des Forums entgegenzutreten. „Das Weltsozialforum verliert an Einfluss und wir müssen es erneuern“, sagte der französische Attac-Sprecher Dominique Plihon der Agentur AFP. In seinen ersten Jahren war das Treffen für viele zivilgesellschaftliche Gruppen der einzige Ort, an dem sie sich nicht nur vernetzen, sondern mit anschließenden gemeinsamen Aktionen auch Gehör bei den politischen Protagonisten verschaffen konnten. Heute gehört die – mehr oder weniger ehrliche – Einbindung von Nichtregierungsorganisationen sogar bei G-7- und G-20-Treffen dazu, in Davos sowieso.

Montreals Hotelzimmer sind zu teuer

Um ein Ausrufezeichen zu setzen, soll es dieses Mal an einem Tag ausschließlich Lösungen im Mittelpunkt stehen, zum Klimawandel etwa, der Flüchtlingskrise, der Friedenspolitik. Ob das gelingt, wird sich zeigen, zumal Montreal als Ort in der globalisierungskritischen Bewegung umstritten ist. Bislang hatte das Forum stets bewusst im Süden getagt. Kritiker befürchten, dass die Botschaft für einen globalen Interessenausgleich zugunsten des Südens jetzt verloren gehen könnte.

Zusätzlich haben die Veranstalter in Montreal auch mit unerwünschten Nebenwirkungen ihrer Wahl zu kämpfen. Laut kanadischen Medien haben bislang rund 200 Teilnehmer kein Visum für Kanada erhalten – weil sie nicht genügend finanzielle Mittel für die Rückreise vorweisen konnten. Darunter befinden sich auch sechs gewählte Parlamentarier aus Afrika und Asien. „Das bestätigt die Erfahrung, dass auch sich selbst liberal nennende Politiker wie die in der kanadischen Regierung keine Garantie für Weltoffenheit und Freizügigkeit sind“, sagt Hugo Braun von der deutschen Attac-Sektion.

Weil die Hotelzimmer in Montreal zudem vergleichsweise teuer sind, bleiben viele Delegierte dem Forum ganz fern. Die Teilnehmerzahl dürfte daher deutlich unter jenen zu den besten Zeiten des Forums liegen. Beobachter erwarten zudem, dass rund 80 Prozent der Teilnehmer aus Nordamerika kommen, die allermeisten aus Montreal selbst, hieß es.

Ein paar globalisierungskritische Promis werden trotzdem aufgeboten, unter anderen die US-Autorin Naomi Klein, der französische Philosoph Edgar Morin und der italienische Politologe und Menschenrechtsaktivist Ricardo Petrella. Los geht es am Dienstag mit einem großen Eröffnungszug durch die Innenstadt von Montreal – auf den Spuren der Aktivisten des Ahornfrühlings.

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1 Kommentar

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  • Intellektuelle wollen auf intellektuellem Weg eine andere Welt, per workshop und Debattierclub sozusagen.

    So klappt das nicht.

    Man muss auf die Straße für die Straße mit der Kraft der Straße oder selbst in die Schaltposition kommen und sich dabei nicht korrumpieren lassen.

    Beides Wege die derlei Jungs und Mädels nicht drauf haben.

    Daher: Wieder mal Energieverschwendung.