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Kommentar Amtsverzicht DavutoğluDer lange Schatten Erdoğans

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Mit Davutoğlu geht ein Ministerpräsident, der diesen Titel verdiente. Sein Nachfolger wird ein Erfüllungsgehilfe des Präsidenten sein.

Will Erdoğan seinem Ministerpräsidenten den Erfolg nicht gönnen? Foto: ap

S eit Donnerstag ist der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu Geschichte. Der Sultan hat seinen Großwesir entlassen, und damit ist Davutoğlu erledigt. Der Mann, der mit Angela Merkel den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal aushandelte und der just Donnerstag, als die EU-Kommission grünes Licht für die Visafreiheit gab, damit seinen Lohn einheimsen wollte, ist von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am selben Tag gefeuert worden.

Der Abgang Davutoğlus hatte sich schon vor einer Woche angedeutet. Doch dass jetzt alles so schnell ging, hat angeblich auch damit zu tun, dass Erdoğan seinem Ministerpräsidenten den Erfolg, die Visafreiheit für türkische Bürger durchgesetzt zu haben, nicht gönnen will.

Aber das ist nicht der wesentliche Grund für Davutoğlus Entlassung. Aus Sicht Erdoğans hat er bei dem wichtigsten Projekt versagt: bei der schnellen Einführung einer Präsidialverfassung, die Erdoğan als Präsidenten die ganze Macht allein verschaffen soll.

Davutoğlu weiß, wie unpopulär dieses Projekt in der Bevölkerung ist, und er war wohl auch nicht scharf darauf, seinen eigenen Posten, den des Ministerpräsidenten, möglichst schnell abzuschaffen. Jetzt wird Erdoğan ganz ohne demokratische Kosmetik durchregieren. Mit Ahmet Davutoğlu geht der letzte Ministerpräsident der Türkei, der diesen Titel noch einigermaßen verdiente. Sein Nachfolger wird zu 100 Prozent ein Erfüllungsgehilfe des Präsidenten sein. Sein einziger Job wird darin bestehen, möglichst schnell Mehrheiten für die neue Verfassung zu organisieren. In der neuen Präsidialverfassung wird das Amt des Ministerpräsidenten dann durch einen Kabinettssekretär ersetzt.

Der Weg dazu führt über den Rausschmiss der kurdisch-linken HDP aus dem Parlament, um anschließend über eine Nachwahl genügend AKP-Mandate zu erringen, um in eigener Machtvollkommenheit der Türkei eine neue Verfassung aufzuoktroyieren. Dass dadurch der Krieg mit den Kurden weiter angeheizt wird und die letzten demokratischen Standards aufgegeben werden, wird ab sofort in Kauf genommen.

Für den Türkei-EU-Flüchtlingsdeal könnte der Abgang Davutoğlus das Aus bedeuten. Erdoğan hasst den Westen mittlerweile so sehr, dass er lieber auf das Abkommen verzichtet, als dass er mit der EU Kompromisse macht.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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7 Kommentare

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  • wer sich in dieser sache nur dafür interessiert, dass *der flüchtlingsdeal hält* - der soll mir bitte-schön nix von demokratie erzählen.

  • "Erdoğan hasst den Westen mittlerweile so sehr, dass er lieber auf das Abkommen verzichtet, als dass er mit der EU Kompromisse macht."

     

    Ja, das wäre mein feuchter Traum, nachdem unsere antidemokratischen "Volksvertreter" ja alles dafür machen um mit diesem lupenreinen Diktator ins Bett zu dürfen. Für die Bomben und den Terror wird der Gross-Sultan jetzt noch mit Visa-Freiheit belohnt und darf sich in seinem Kurs bestätigt sehen.

    Danke Frau Merkel für diese zivilisatorische Großtat.

  • Zitat:

    "Erdoğan hasst den Westen mittlerweile so sehr, dass er lieber auf das Abkommen verzichtet, als dass er mit der EU Kompromisse macht."

     

    Und warum schmeisst die EU ihn dann nicht endgültig raus??

    Aber nein...da wird ein roter Teppich nach dem anderen ausgerollt....

  • Wenn also die türkische Regierung Neuwahlen setzen würde, dann ist dieser Ansatz zunächst mal von der türkischen Verfassung gedeckt. So ähnlich als Schröder die Vertrauensfrage im Bundestag stellte. So, wenn dann Neuwahlen dazu führen, dass in einer freien und demokratischen Mehrheit die AKP die absolute Mehrheit erringt, dann ist das wohl auch nach deren Verfassung so geregelt. Und wenn dann die gewählten Abgeordneten mehrheitlich für ein Präsidialverfassung stimmen, dann scheint mir das auch noch in Ordnung zu sein. Das damit demokratische Standards aufgegeben werden sollen, verstehe ich nicht.

    Also mal ganz langsam. Jeder Staat hat seine Staatsbürger und jeder Staat kann sein Regierungssystem und seine Staatslenker selbst aussuchen. Das soll uns Europäern der alte Grieche Aristoteles ins Stammbuch geschrieben haben. Wieso soll diese Lehre der Demokratie nicht für die Türken gelten?

    • @Nico Frank:

      Die Aufhebung der Immunität von HDP-Parlamentsabgeordneten ist selbstverständlich nicht von der Verfassung zu decken, indem man sagt, sie seien Mitglieder einer terroristischen Vereinigung. Der Terrorismusbegriff ist in AKP-Kreisen aus politischen Motiven extrem ausgeweitet worden, um juristisch gegen pro-kurdische MPs so in genau dieser Art vorzugehen.

    • @Nico Frank:

      Sorry, aber sind lächerliche Relativierungsversuche der hiesigen Pro-Erdogan-Fraktion. Sie wissen ganz genau, dass Sie einige wichtige Fakten schlicht "vergessen" haben zu erwähnen. Wie zum Beispiel dass die Neuwahl nicht wegen einem Misstrauensantrag zustande kam, sondern wegen der Weigerung der AKP Koaltitionsverhandlungen zu führen. Die Neuwahl war denn auch nicht mehr fair, da Erdogan zu diesem Zeitpunkt die Friedensverhandlungen mit den Kurden abgebrochen und sein Land in einen Bürgerkrieg geschickt hatte. Die Repressalien gegenüber der HDP in der Wahlkampfphase sind ganz klar belegt.

      Also hören Sie auf, zu versuchen, diese Leserschaft für dumm verkaufen zu wollen.

    • @Nico Frank:

      Der entscheidende Punkt sind jedoch nicht die Neuwahlen (die letzten Wahlen waren ja bereits Neuwahlen), sondern der Umstand, dass die bestehende Opposition mittels politisch auf Linie gebrachter Strafverfolgungsbehörden (siehe Korruptionsermittlungen gegen Erdogan) ausgeschaltet werden soll.

       

      Der Weg in eine Diktatur kann formal demokratisch erfolgen (Ermächtigungsgesetz), er kann jedoch nicht so enden.