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Minsker FriedensabkommenAm Waldrand verläuft die Front

Die Kleinstadt Marjinka im Donbass, die ukrainische Soldaten kontrollieren, ist fast täglich unter Beschuss durch pro-russische Kämpfer.

Warten auf die Waffenruhe: Die Rentnerin Olga in der Nähe ihres Hauses in Marjinka. Foto: Anastasia Magasowa

MARJINKA taz | Dauerbeschuss, Raketeneinschläge und Minenexplosionen – das ist Alltag für Hunderttausende Menschen im Donbass. Besonders für diejenigen, die ihr Zuhause an der Demarkationslinie zwischen ukrainischen und von pro-russischen Kämpfern kontrollierten Gebieten haben. „Im Moment muss ich das so hinnehmen“, sagt Alina.

Sie lebt in Marjinka, einem Ort auf ukrainisch kontrolliertem Territorium, nur ein paar Kilometer von Donezk entfernt – einer Großstadt, die seit knapp zwei Jahren in der Hand prorussischer Kämpfer ist. Vor dem Krieg zählte Marjinka 12.000 Einwohner. Heute sind es nur noch 6.000.

Alina arbeitet in einem Kulturhaus. „Seit zwei Jahren gibt es weder Gas noch Wasser“, erzählt sie. Auch Sozialdienste funktionierten nicht. Einen Jungen, der kürzlich bei einem Beschuss getötet worden sei, habe man erst Tage später gefunden und begraben.

Auch nach zwei Jahren haben sich die Menschen an die Militärs in der Stadt noch nicht gewöhnt. Die Einstellungen ihnen gegenüber sind sehr verschieden. Einige bitten sie, im Haushalt zu helfen, andere wollen sie nicht mal im Laden bedienen. „Die meisten grüßen uns, wenn sie uns treffen. Aber nicht alle. Oft siehst du Frauen, die schwarze Tücher tragen. Deren Männer oder Brüder kämpfen auf der Seite der Separatisten. Manche sind überzeugt, dass wir an ihrer Misere schuld sind. Dabei beschützen wir bloß diese Menschen und unser Land vor dem Feind“, sagt Oleg, Kämpfer der ukrainischen Militäreinheit, die in Marjinka stationiert ist.

300 Meter Abstand

Der Abstand zwischen den Stellungen der ukrainischen Armee und denen der Separatisten ist klein, zuweilen sind es nur 300 Meter. „Bei Einbruch der Dunkelheit werden die Scharfschützen aktiv. Das passiert manchmal auch tagsüber. Vorige Woche wurde einer von uns während der Wachablösung tödlich getroffen“, erzählt Oleg.

Das Leben an der Front ist schlicht. Die Soldaten sind in einem leer stehenden Haus stationiert und schlafen zu acht in einem Zimmer auf selbst gebauten Pritschen. Als Kissen dient zusammengelegte Kleidung. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen und Grußkarten, auf dem Herd steht ein Topf mit Kohlsuppe. Die meisten Soldaten waren seit acht Monaten nicht mehr zu Hause.

„Das ist der zweite Krieg in meinem Leben“

Olga, Bewohnerin von Marjinka

In einem Zimmer steht ein Fernseher. Empfangen werden nur russische oder separatistische Sender. „Wenn ich nicht selbst hier vor Ort wäre, würde ich alles, was man über die hiesige Lage berichtet, für bare Münze nehmen“, sagt Oleg. „Außerdem laufen ständig Kriegsthriller. Du kommst nach einer Schießerei zurück, willst entspannen, schaltest den Fernseher ein, und das Geballer geht weiter.“

„Schauen Sie, was man unserer Brigade geschickt hat!“ Oleg holt eine Kiste mit bunten Keksen in Herzform. Doch das hebt die Stimmung kaum. „Jeder von uns hier hat psychische Probleme. Ich möchte diesen Albtraum möglichst schnell hinter mir lassen. Wobei ich sehr wohl verstehe, warum ich hier bin“, sagt ein Soldat aus der Westukraine.

Abwarten in der Dunkelheit

Olgas Haus befindet sich gegenüber einer Stellung der Separatisten – am Waldrand hinter dem Feld. Sie zeigt ihren Zaun, der wie ein Sieb aussieht. Als ob jemand mit einem Gewehr das Schießen trainiert hätte. „Der Beschuss fängt nachmittags an und dauert bis Mitternacht“, erzählt die 80-jährige. „In dieser Zeit sitze ich ohne Licht im Haus und warte ab. Das ist der zweite Krieg in meinem Leben“, sagt Olga. Sie lebt mit ihrer Nachbarin zusammen, deren Haus von einer Rakete getroffen wurde.

Ein paar Straßen weiter steht das Haus von Larissa. Sie wolle, wie sie sagt, ein Souvenir vorzeigen, verschwindet im Schuppen und kommt mit dem Gerippe eines Geschosses heraus, das in ihrem Garten explodierte.

Im Hof wimmelt es von Katzen und Hunden. Einige seien von den Besitzern, die Marjinka verlassen haben, abgegeben worden. Der Rest sei ihr zugelaufen, weil „die Tiere immer spüren, wo Leben ist“.

Larissa arbeitet wie Alina im Kulturhaus. Seit Kriegsbeginn hätten sie viel mehr zu tun, erzählt sie. Die Eltern würden versuchen, die Kinder abzulenken. Sie bringen die Kleinen regelmäßig zu den Kursen und lassen sich von Schußwechseln nicht abschrecken. „Ich will meine ganze Energie für ein normales, friedliches Leben einsetzen. Mit Kindern malen, basteln, Geschichten erfinden“, sagt Alina. „Ich möchte an das Leben denken und nicht an den Tod“.

Aus dem Russischen von Irina Serdyuk

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