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haue Menschen genießen es, anderen wehzutun, sagt der Psychologe Thomas Elbert. Müssen wir uns damit abfinden? Ja, sagt der Boxlehrer, schlagt euch! Nein, sagen zwei Erzieherinnen, vertragt euch!Omm gegen Bamm

Aus Hamburg, Berlin und ZürichMaria Rossbauer (Text) undOlaf Ballnus (Fotos)

Vielleicht beginnt eine Welt, in der sich Menschen nicht prügeln, quälen und töten tatsächlich auf einer Couch, die aussieht wie ein Delphin. Mit einem roten Teppich und dem sanften Geruch von Johanniskraut in der Luft. Und mit zwei Frauen, die zu Kindern Dinge sagen wie: „Bist du traurig, dass du nicht mitmachen darfst? Ja, das ist auch echt schlimm.“

Diese Frauen wollen im Kleinen etwas erreichen, an dem Menschen seit Jahrtausenden scheitern. Sie wollen die Gewalt abschaffen. Den Anfang macht, davon sind sie überzeugt, die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren.

Gewalt ist geächtet, Geistliche predigen das, Popstars fordern vor Konzerten noch ein bisschen Frieden, Aufkleber mit dem Slogan „Halt! Keine Gewalt!“ kleben an Wänden im ganzen Land. Trotzdem verprügeln Jugendliche auf U-Bahnhöfen Passanten, schießen Soldaten im Osten der Ukraine aufeinander, schneiden vermummte IS-Kämpfer aus Großbritannien Menschen den Kopf ab.

Es scheint, als könne man die Gewalt nicht loswerden.

Einige versuchen das trotzdem. Sie wollen gewalttätiges Verhalten disziplinieren oder gleich ganz verbannen.

Ein Freitag im November im Hamburger Stadtteil Altona. Drei Kinder sitzen im Yoga-Kindergarten von Muktiar Dettmann und Karolin Hoffmann auf dem Teppich. Sie fädeln Perlen auf eine Schnur. Emmi ist fünf Jahre alt, Sari vier und Janno drei. Janno liegt auf dem Bauch, Emmi sitzt hinter ihm, seine Füße berühren ihren Rücken. Er tippelt herum, tritt Emmi leicht. Emmi ruft: „Janno, hör auf. Janno tritt mich!“

„Habt ihr nicht genug Platz?“, fragt Dettmann. Sie grummeln leise. „Vielleicht könnte Janno etwas nach vorne rücken und Emmi zurück, dann hat jeder genug Platz und ihr könnt in Ruhe auffädeln.“ Die beiden rutschen und Sari ruft: „Ich hab Platz.“

„Wenn man nichts sagt, setzt sich immer das Kind durch, das die meisten Mittel hat“, sagt Hoffmann, 33 Jahre alt, blonde Locken, runde Brille. Also die Jungen und Mädchen, die am lautesten schreien. Hoffmann und Dettmann wollen Kindern schon früh zeigen, dass es anders geht.

Um ihre Idee zu verstehen, hilft es, mit jemandem zu reden, der mit Mördern arbeitet.

„Wenn Kinder in einem gewalttätigen Umfeld aufwachsen, ändert sich ihre Genexpression“, sagt Thomas Elbert. Hinter ihm klacken Menschen in schicken Anzügen durch eine hohe Betonhalle, lassen sich Werbeflyer von einem lächelnden Pharmavertreter in die Hand drücken.

Elbert, 65, sitzt an einem langen Tisch. Er trägt ein lockeres Hemd und ein dunkles Jackett, die wenigen Haare sind weiß, der Dreitagebart auch. Beim Sprechen kneift er seine dunklen Augen zusammen.

Heute wird Elbert hier im Technopark in Zürich einen Vortrag halten, auf dem Internationalen Symposium für forensische Psychologie und Psychiatrie. Er spricht über seine Interviews mit Mördern und Kindersoldaten in Ruanda, Kolumbien und im Kongo. Elbert ist Neuropsychologe. Er und seine Kollegen an der Universität Konstanz wollen verstehen, warum Menschen grausam handeln.

Wenn Elbert über Genexpression spricht, dann meint er damit, welche Gene im Körper tatsächlich aktiv werden.

Die Gene werden von einer Art molekularem Lesegerät abgelesen. Das fährt wie ein Zug auf Schienen über die DNA und gibt die darin codierten Anweisungen weiter. Auf der DNA stecken noch zusätzliche Bausteine, kleine Methylgruppen zum Beispiel. Die bestimmen, welche Gene vom Gerät gelesen werden und welche nicht.

Diese Bausteine können sich anheften oder lösen. Wie das funktioniert, ist noch nicht genau klar. Umwelteinflüsse spielen eine Rolle: Ernährung, Stress und eben Gewalt.

Elbert erzählt von einem Gen namens POMC, das für den Bau von Stresshormonen und Endorphinen verantwortlich ist. Er hat es für eine Studie untersucht, die er vor ein paar Wochen veröffentlicht hat. Dieses Gen wird bei misshandelten Kindern anders abgelesen. Diese Kinder bekommen, könnte man sagen, weniger hormonelle Hilfe, adäquat mit Stress umzugehen. Forscher wie Elbert können nachweisen, ob Menschen regelmäßig Gewalt ausgesetzt waren. Schläge, Drohungen, Mobbing. Eine Speichelprobe reicht.

„Kinder werden, wenn man so will, durch Gewalteinflüsse zu anderen Wesen“, sagt Elbert. „In ihrem Gehirn, ihrem Immunsystem, in der hormonellen Regulation.“

Misshandelte Kinder haben zwar unter Umständen in echten Gefahrensituationen bessere Strategien: Sie fliehen schneller, schlagen zurück. Aber sie sind oft suchtanfälliger, schneller krank, weniger neugierig. Sie leiden an Zwangserkrankungen, sind empfänglicher für Depressionen. Und sie sind später gewaltbereiter.

„Ihr gesamter Organismus – körperlich und seelisch – ist auf Verletzung gebaut“, erklärt Elbert. „Er wird umgestellt auf: Pass auf, die Umwelt ist gefährlich, Kampf und Stress sind deine Form zu überleben, darauf musst du stets reagieren können.“

Am Wichtigsten für die eigene Gewaltentwicklung ist das Umfeld, in dem man groß wird. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen ermittelte 2010: Schon die Hälfte aller Zehnjährigen, die mehr als zwei schlagende Freunde hat, schlägt selbst andere Kinder. Im friedlichen Freundeskreis macht das nur jedes dreizehnte Kind. Und: Kinder, die oft zu Hause geschlagen wurden, prügeln oder drohen mehr als doppelt so häufig selbst.

Das hieße im Umkehrschluss: Keine Gewalt in der Kindheit, keine Gewalt später.

Aber schon im Sandkasten streiten Jungen und Mädchen, schubsen, reißen sich Spielzeug aus der Hand. Geht das überhaupt anders?

„Meistens schon“, sagt Muktiar Dettmann. Deshalb hat sie zusammen mit Karolin Hoffmann den Yoga-Kindergarten in Hamburg gegründet. Es sind wenige Räume im Souterrain einer Backsteinseitenstraße, kleiner Garten nach hinten raus. Daran grenzt der Schulhof einer Grundschule, den sie auch benutzen, ruhig, umringt von roten Häusern, in der Mitte Schaukeln, Platz und Licht.

Eine friedliche Sprache ist umständlich

Hier erziehen die beiden Frauen Kinder nach dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation, entwickelt vom US-Psychologen Marshall B. Rosenberg.

Die Idee ist, schon beim Sprechen Gewalt zu vermeiden. Bedürfnisse und Gefühle sollen formuliert werden, Verlangen wird als Bitte geäußert. Aus „Nie hörst du mir zu!“ wird „Du hast gerade auf etwas anderes gesehen, darum hab ich das Gefühl, du hast mich nicht richtig verstanden. Es wäre mir aber wichtig, dass du mich hörst. Kann ich es dir deshalb noch mal in Ruhe erzählen?“ Sprache ohne Urteile wird umständlicher.

„Wir mischen uns so wenig wie möglich ein“, sagt Dettmann, 51 Jahre alt, lange rotbraune Haare, „außer es gibt Konflikte.“

Gleich beginnen sie ihre tägliche Yogaübung auf dem roten Teppich. Von den sieben Kindern der Gruppe sind heute einige krank oder mit den Eltern unterwegs. An den Wänden hängen weiße und türkisfarbene Stoffe, an einer Tür Zettel, auf denen die Übungen gezeichnet sind. Die Couch, die wie ein Delphin aussieht, füllt ein kleines Zimmer, in das sich die Kinder zurückziehen können, wenn sie Zeit für sich haben wollen. Oder spielen möchten, wenn die anderen noch essen. Zum heuartigen Geruch vom Johanniskraut-Tee, den die beiden Frauen trinken, mischt sich Kerzenduft.

Gerade ist es friedlich, aber jeden Tag müssen Karin Hoffmann und Muktiar Dettmann auf die Grausamkeiten reagieren, zu denen Kinder fähig sind. Wenn zwei Kinder ein anderes nicht mitspielen lassen, zum Beispiel. Dann fragen die Erzieherinnen, ob das Kind traurig ist. Sie sagen, dass sich der Moment vielleicht schlimm anfühlt, es beim nächsten Mal aber auch anders herum sein könnte.

So sollen Kinder lernen, mit unangenehmen Situationen umzugehen, sie sollen die zehn Minuten aushalten, ohne ihre Wut an demjenigen auszulassen, der sie abgelehnt hat. „Für die Kinder ist das Wichtigste, dass ihr Problem gesehen wird, dass sie es benennen können“, sagt Hoffmann.

Manchmal reicht das aber nicht.

Einmal hatten sie einen Jungen, der trat, spuckte, schubste. Er war sehr gewalttätig, sagt Dettmann. „Das beschäftigt die Kinder heute noch.“

Die beiden sprachen mit den Eltern. „Auch sie hätten sich in einigen Dingen umstellen müssen“, sagt Dettmann. Dem Kind zu Hause klarmachen, wo seine Grenzen sind. „Da waren wir uns aber nicht einig.“ Wenn es regnete, konnten Mutter und Vater ihren Jungen nicht dazu bringen, wasserfeste Schuhe anzuziehen. Das Kind wurde nicht vernachlässigt, nicht geschlagen, aber die Eltern brachten es nicht übers Herz, sich bei ihrem Sohn unbeliebt zu machen.

Als die Familie in ein anderes Bundesland zog, waren die beiden Frauen erleichtert. „Wir hätten den schon hingekriegt“, sagt Dettmann. Aber nur mit sehr viel Aufwand. Eine von ihnen hätte sich nur um den Jungen kümmern müssen. Auf Dauer für sie beide nicht machbar.

Gewaltfreie Kommunikation stößt an Grenzen. Wenn die Eltern nicht mitmachen. Wenn das Kind daran gewöhnt ist, sich aggressiv durchzusetzen. Und auch, weil sich Menschen daran erfreuen, anderen wehzutun.

„Wir sind biologisch darauf vorbereitet, dass Gewaltausübung Spaß macht“, sagt Thomas Elbert. Unsere Vorfahren seien auf der Jagd lange unter großen Strapazen unterwegs gewesen. Das hielten nur die durch, die Lust am Töten entwickelten. Diese Lust sei uns vererbt worden.

„Wir vermuten, dass bei appetitiver Gewalt körpereigene Substanzen ausgeschüttet werden, Endorphine, die ähnlich wie Opium wirken“, erklärt Elbert. Ein ähnlicher Zustand, wie das so genannte Runner’s High, das Marathonläufer empfinden.

Im Labor lässt er Menschen blutige Computerspiele spielen oder erzählt ihnen brutale Geschichten. Er misst ihre Gehirnströme und stellt fest: Sie empfinden Spaß. Elbert sagt, die Lust an der Gewalt sei völlig normal.

Er erzählt von Menschen aus dem Kongo, mit denen er für seine Studien gesprochen hat. Sie sagten: Wir hatten halt nichts zu tun, also sind wir losgezogen und haben ein Dorf niedergebrannt. Dabei sei es nicht darum gegangen, die Ziegen zu klauen oder die Frauen zu vergewaltigen, glaubt Elbert. „Es ging einfach darum, das Dorf niederzubrennen.“ Andere Faktoren seien zweitrangig.

Elberts Theorie vom inneren Aggressionsdrang ist eine von vielen. Der US-Psychologe Steven Pinker, der vor einigen Jahren in seinem Buch „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ eine kontinuierliche Abnahme von Gewalt erkannt haben will, hält nichts von der Theorie eines einzelnen Gewalttriebs. Er glaubt zwar an eine grundsätzliche Veranlagung zur Gewalt, unterteilt die Gründe für ihre Entstehung aber in Kategorien: Raublust, Herrschaftsstreben, Rache, Sadismus und Ideologie.

Der US-Anthropologe Douglas P. Fry zweifelt sogar daran, dass die menschliche Natur seit jeher kriegerisch ist. Er analysierte Völker, die heute noch als Jäger und Sammler leben, und schloss daraus, dass unsere Vorfahren friedlicher waren, als wir annehmen.

Doch ob man nun die Geschichte vom Urzeitparadies oder von der blutigen Steinzeit für wahrscheinlicher hält, eines ist für Elbert klar: „Der Mensch ist auch dafür gebaut, nach Wertesystemen zu suchen. Er dürstet geradezu nach Regeln.“

Wichtigste Phase hierfür sei das Alter zwischen 12 und 16 Jahren. Eine besonders sensitive Periode, in der man Jungs leicht zu Jägern auf Menschen programmieren könnte. Gerade dann müssten die Jugendlichen lernen, die Schwelle zu trainieren, sagt Elbert. Die Grenze, ab der Gewalt nicht mehr okay ist.

Es geht um Kontrolle.

Prfüüüüüüt. Schrill tönt die Trillerpfeife durch die Halle. „Reden ist verboten“, schreit Izzet Mafratoglu. Ein paar Jungs ducken die Köpfe herunter und stellen sich schweigend um einen dicken, von der Decke hängenden Sack, es riecht nach Schweiß.

Mustafa sieht wehmütig zu den Boxern hinüber. Er muss heute auf der Bank sitzen, seine Schulter ist verletzt. Mustafa ist 13 Jahre alt, dunkle kurze Haare, dunkle Augen, ruhige, höfliche Stimme. Seit zehn Monaten boxt er im Club Isigym Boxsport. Sein Vater war hier, sein Bruder schlägt gerade auf den Sandsack ein. Ein paar Wochen später, wenn der Fotograf im Club erscheint, wird Mustafa wieder fit sein.

„Es macht mir Spaß“, erzählt er, besonders weil der Isi sie so drille wie bei der Armee.

Der Trainer schlägt zu. Bambambam!

Gibt es heute weniger Gewalt als früher?

Die Rechnung: Fast jeder siebte Mensch sei in der Jungsteinzeit durch eine Gewalttat ums Leben gekommen, rechnete der Harvard-Professor Steven Pinker für sein Buch „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ aus. Im Mittelalter seien pro 100.000 Einwohner pro Jahr 30 Menschen ermordet worden. Heute treffe das laut den Statistiken auf weniger als eine Person zu.

Das Problem: Pinkers Buch schildert eine erfreuliche Entwicklung, aber die Quellen für seine Zahlen sind teilweise Werke von zweifelhafter Zuverlässigkeit: Homers „Ilias“, das „Alte Testament“ und die Chroniken über Dschingis Khan. Der Politologe Herfried Münkler kritisiert, dass Pinker dieses Problem zwar anspricht, die Zahlen aber trotzdem verwendet. Doch auch andere Quellen, aus denen sich eine Tendenz zu weniger Gewalt ablesen ließe, sind nicht zuverlässig. In die Deutsche Polizeiliche Kriminalstatistik beispielsweise fließen nur Taten ein, die auch zur Anzeige gebracht wurden.

Die Lösung: Keine. Es lässt sich derzeit nicht sagen, ob die Gewalt weltweit in den vergangenen Jahrhunderten generell abgenommen hat. Sicher ist, dass Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine friedlichste Epoche erlebt, seitdem es geschichtliche Aufzeichnungen gibt. Für die Länder im Nahen Osten beispielsweise gilt das jedoch nicht. Der Friedensindex des Institute for Economics and Peace verzeichnete 2010 49.000 Todesopfer bewaffneter Konflikte, 2014 waren es 71.000, unter anderem wegen der Kämpfe in Syrien und im Irak.

Mustafa sieht Izzet Mafra­toglu zu, der ein paar Schritte auf einen Sack zugeht und ruft: „Hände immer auf eigene Augenhöhe, Fersen hoch, die Beinstellung muss hundert Prozent sitzen.“

Mafratoglu ist 53 Jahre alt, kurze Haare, manche grau, etwas kleiner und schmächtiger als viele seiner Boxer. Seine Stimme ist laut, zackig und klar. Sie lässt keinen Raum für Zweifel oder Widerspruch. Er steht breitbeinig, schlägt mit den Fäusten durch die Luft. So geht das! Bambambam!

34 Jugendliche und ein paar Kinder trainieren hier gerade, die meisten nicht älter als 17 Jahre alt, drei sind Mädchen. Viele tragen über die Knöchel reichende Schuhe, glitzernde Shirts. Sie laufen im Kreis um den Boxring, springen hoch, schlagen mit ihren Fäusten in die Luft.

Er hat sich schon öfter geprügelt, erzählt Mustafa, in der Schule. Wenn ihn jemand Hurensohn nennt oder etwas gegen Ausländer sagt. Dabei mache ihm das Zuhauen gar keinen Spaß. „Ich will das nicht“, sagt er. Es wirkt ehrlich. Aber auch, als sehe er keine Alternative.

Im Club soll er heute bleiben und auf seinen Bruder warten, sagte seine Mutter. Zuhause mache er nur Unsinn.

„In Berlin sind uns sicher viele dankbar für das, was wir hier machen“, sagt Mafratoglu und lächelt. Er bringe den Jungen und Mädchen bei, pünktlich und fair zu sein. Er ist sicher, dass Boxen sie vom Prügeln auf der Straße und in der Schule abhält. Er rede mit seinen Schülern, bringe sie zum Nachdenken. Sie würden lernen, welche Folgen Gewalt hat: Verletzungen, Schmerzen.

Mafratoglu bläst in seine Trillerpfeife. Hat wieder einer geschwätzt. Zehn Liegestütze!

In Hamburg-Altona ist Yoga-Zeit. Emmi, Sari und Janno setzen sich auf den roten Teppich, die Erzieherinnen im Schneidersitz dazu. Alle falten ihre Hände und singen „Ong namo guru dev namo“, ein Mantra.

Dann geht Sari zu den Bildchen an der Tür und deutet auf eines. „Raupe“, sagt sie. Sie robben durch den Raum. Es folgt ein Storch und eine Schwalbe, bei der Emmi nicht mitmachen mag.

„Kinder werden durch Gewalteinflüsse zu anderen Wesen. In ihrem Gehirn, ihrem Immunsystem, in der hormonellen Regulation“Thomas Elbert, Neuropsychologe

Als Nächstes schlägt Sari mit Holzklöppeln auf messingfarbene Klangschalen, die anderen sagen mit geschlossenen Augen: „Ich bin glücklich, ich bin gut.“

Kämpfe mit Schwertern sind erlaubt

„Yoga hat auch viel mit Selbstbeherrschung zu tun“, sagt Muktiar Dettmann. Es passe gut in ihr Konzept. Außerdem machen sie es gerne.

Ein bisschen Gewalt ist allerdings auch hier erlaubt. „Spaßkämpfe sind okay“, sagt Karolin Hoffmann. Starten zwei Kinder einen Kampf mit Holzschwertern, sagen die Erzieherinnen: Du musst wissen, ob du das aushältst. Sie würden beobachten und hin und wieder anmerken: Jetzt wäre es gut aufzuhören. ­­Solange sie das Gefühl haben, dass es ungefährlich ist, greifen die Frauen aber nicht ein. „Die Kinder sollen selber den Punkt kennenlernen, ab dem es zu viel wird“, sagt Dettmann.

Aber wann ist es zu viel? Gibt es so etwas wie gute Gewalt? Bei allen Unterschieden sind sich der Box-Trainer und die Yoga-Erzieherinnen in einem Punkt einig: Wenn zwei Menschen miteinander abmachen, dass sie kämpfen, ohne sich ernsthaft zu verletzen, ist das in Ordnung. Man muss das nicht gute Gewalt nennen, aber vielleicht: einvernehmliche Gewalt.

So ließe sich im Idealfall beidem gerecht werden – die gegenseitige Abmachung setzt Verständigung voraus, der Kampf befriedigt die Lust an der Aggression.

Wenn das nicht ausreicht, haben sie in Hamburg noch den roten Klotz.

Darauf können die Kinder mit Bambusstöcken hauen, wenn sie sehr wütend sind. „Den nutzen wir aber nicht oft“, sagt Hoffmann.

Die beiden Erzieherinnen arbeiteten früher in einem Hort. Zuerst waren es dort 30 Kinder auf drei Erzieher, dann 35 Kinder auf zwei. „Man konnte sich nicht mehr unterhalten, über Probleme oder irgendwas“, sagt Hoffmann. Sie eröffneten ihre eigene Kita.

Mafratoglu betreibt seit rund 10 Jahren den Boxclub in Berlin-Schöneberg. Hier ist er aufgewachsen. Als er noch aktiv boxte, war er zweimal deutscher Meister. Gerade hämmern die Boxer wieder auf die Säcke ein, die Schläge klingen wie zischende Schlangen, pschh, pschh, pschh.

Mustafa wibbelt auf der Holzbank hin und her und sagt, er träume davon, auch deutscher Meister zu werden. Sein Bruder ist fertig, Mustafa springt auf. Bevor sie nach Hause gehen, laufen alle zu ihrem Trainer und geben ihm die Hand.

Manche würden ihn öfter sehen als ihre Eltern, sagt Mafratoglu. Diese Jugendlichen kommen jeden Abend. Er liebt die Atmosphäre in seinem Club. Menschen von überall seien hier, Deutsche, Türken, Araber, Ghanaer, Puerto Ricaner. Und er liebt das Gefühl beim Boxen: „Dann vergesse ich alles, alle Sorgen. Es geht nur ums Kämpfen, ich will gewinnen.“ Für ihn sei dann alles möglich.

Izzet Mafratoglu bekam einige Auszeichnungen für die Arbeit mit den Jugendlichen. „Boxen gegen Gewalt“ ist schon fast ein geflügelter Begriff. Der Sport soll Kinder und Jugendliche von der Straße holen, ihnen Regeln beibringen. Wie die, dass man aufhört, wenn der Gegner nicht mehr kann.

„Boxen ist wie Medizin“, sagt Mafratoglu. „Wenn die ihre Aggression am Sandsack rauslassen, ist danach nichts mehr übrig.“

Mit Sport, sagt Thomas Elbert in Zürich, könnte man Gewalttäter friedlicher machen. Sie hätten bei ehemaligen Kindersoldaten gesehen, dass Fußball eine sehr positive Wirkung hat. An sportlichen Kämpfen sei viel Gutes: körperliche Beherrschung, Selbstregulation, Disziplin.

Es gibt allerdings auch Geschichten wie die von dem 19-jährigen Berliner Amateurboxer, der mit seinen Freunden einen Jungen vor einem Club zu Tode prügelte. Einfach so.

Wissenschaftliche Analysen, ob boxende Teenager weniger oft Gewalttäter werden als andere Jugendliche, fehlen, ebenso wie vergleichende Untersuchungen, ob Sport Gewalt reduziert. Was es gibt, sind Erfahrungswerte. Von Lehrern, Trainern, Sozialarbeitern, von Forschern. Und die lassen sich so zusammenfassen: Sport kann ein Weg sein.

Im Garten des Yoga-Kindergarten schleicht Janno gerade an das Bobbycar heran, Emmi hatte zuvor damit gespielt. Sie ruft: „Ich hab gesagt, du sollst nicht mein Bobbycar nehmen!“

Hoffmann sitzt auf der Bank vor dem Haus und schaut zu. Sie erzählt, dass in der Gewaltfreien Kommunikation Gefühle eigentlich nicht mit Begriffen wie „blöd“ ausgedrückt werden. Ihre Jungen und Mädchen sagen das aber so. Ein Zugeständnis an die Sprachgewohnheiten. Trotzdem sei das Konzept mit Kindern einfacher zu machen als mit Erwachsenen. „Die haben schon fertige Rollen, so viele Vorurteile“, sagt sie. Kinder seien offener.

„Manche Menschen finden das hier zu esoterisch“, sagt Karin Hoffmann. Allein der Begriff „Gewaltfreie Kommunikation“ löse bei ihnen ein „Alles puschelrosa“-Gefühl aus.

Den Einfluss von gewaltfreier Kommunikation merke man aber selbst zu Hause, erzählen Mütter und Väter beim Abholen ihrer Kinder. Manche Kinder fragen jetzt, ob sie bei ihren Geschwistern mitspielen dürfen. Andere beschreiben, was sie fühlen: Ich bin traurig, ich bin wütend. Und erklären, warum.

Die Kita in Hamburg existiert seit vier Jahren, wie Janno, Emmi und Sari sich entwickeln, wird man erst in Jahren sehen. Es gibt bisher keine umfassenden Untersuchungen dazu, wie sich das Konzept langfristig auf Gewaltbereitschaft auswirkt.

Janno ist vom Bobbycar heruntergeschlichen und guckt zu, wie Emmi wieder auf das Gefährt klettert. „Ja, Emmi hat gesagt, dass du es nicht nehmen sollst“, sagt Hoffmann. „Hast du das vergessen?“ Janno schüttelt den Kopf. „Wolltest es einfach trotzdem haben?“ Janno nickt. „Ja“, sagt Hoffmann und lächelt, „so ist das manchmal.“

Emmi rammt die Füße in den Boden, schiebt an und rollt davon.

Maria Rossbauer, 34, leidet unter Gewaltentzug. Seitdem sie schwanger ist, geht sie nicht mehr kickboxen

Olaf Ballnus, 53, würde gern bei Izzet Mafratoglu Boxen lernen, wenn er nicht in Hamburg wohnen würde

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