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Kommentar Flüchtlinge und EuropaEin Kontingent ist besser als nichts

Lukas Wallraff
Kommentar von Lukas Wallraff

Aus den Niederlanden kommt ein Vorschlag, der Abschiebung mit Aufnahme verbindet. Er weist Mängel auf, könnte aber eine Chance sein.

Ihnen stehen unsichere Zeiten bevor: Flüchtlinge in Griechenland. Foto: ap

S chon wieder ein Begrenzungsvorschlag: Flüchtlinge, die auf griechischen Inseln oder Gewässern ankommen, sollen direkt in die Türkei zurückgebracht werden – mit Fähren.

Was ist das: Kokolores? Eine weitere spinnerte, brutale Idee eines europäischen Rechtspopulisten? Nein. Das schlagen die Sozialdemokraten vor, die in den Niederlanden regieren und die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Man sollte diesen Plan also durchaus ernst nehmen.

Und ist die Idee, die dahintersteckt und angeblich bereits auf EU-Ebene besprochen wurde, ganz so abwegig, menschenverachtend und bescheuert, wie sie klingt? Nicht unbedingt. Klar, das Einverständnis der Türkei fehlt noch, das der Flüchtlinge sowieso.

Aber die Niederländer belassen es nicht bei diesem Abschiebungsplan, der die EU-Außengrenze zur Türkei faktisch abriegeln soll – jedenfalls für Menschen, die auf eigene Faust losfahren.

Die Frage ist, welche Pläne halbwegs realistisch oder mehrheitsfähig sind

Es gibt auch ein Angebot: Im Gegenzug dürften andere Flüchtlinge in einem geordneten Verfahren legal aus der Türkei in die EU einreisen. In dem Vorschlag ist von 250.000 Menschen im Jahr die Rede. Was übrigens in etwa SeehofersObergrenze entspricht.

Wir müssen uns entscheiden

Viel zu wenig? Sicher. Aber völlig unsinnig? Statt überwiegend junger Männer aus mehr oder weniger sicheren Ländern könnten gezielt Familien aus Syrien oder anderen Kriegsgebieten aufgenommen werden. Willkür? Sicher. Aber ist die momentane Auswahl durch den Wettlauf über den Balkan weniger willkürlich? Und gibt es bei 60 Millionen Flüchtlingen und immer weniger aufnahmebereiten Ländern eine gerechte Lösung?

Vielleicht ist ein ausbaufähiges Kontingent besser als nichts. Wer das alles überwachen, steuern soll? Erdoğan? Tja.

Aber was ist die Alternative? Weiter abwarten, wie viele Menschen sich noch auf den Weg nach Europa machen, wo sie fast nirgends mehr willkommen sind? Womit wir bei den Deutschen wären. Wir müssen uns entscheiden. Wenn wir weiter unbegrenzte Aufnahmebereitschaft für alle Schutzbedürftigen signalisieren, müssen wir das allein schaffen.

Alle anderen EU-Regierungen, auch die linken, sind dagegen – so wie 70 Prozent der Deutschen. Wir müssen uns deshalb überlegen, was wir wirklich schaffen, welche Pläne halbwegs realistisch und welche mehrheitsfähig sind. Wer weiter auf eine gerechte EU-Verteilung hofft, kann das versuchen. Politisch aussichtsreich ist es nicht.

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens
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5 Kommentare

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  • was ich gern noch wüßte:

    wie stellen sich die niederländischen sozialdemokraten denn vor, dass die flüchtlinge auf die fähren 'gehen', die sie in die Türkei zurückbringen sollen?

  • "Alle anderen EU-Regierungen, auch die linken" Es gibt keine linken Regierungen (mehr). Links bzw. rechts hört völlig auf zu existieren, wenn an der Macht. Griechenland zeigt das gerade zwar nicht schön, aber doch sehr anschaulich.

    Was wir so dressiert sind, als "links" zu "verstehen", gibt es in Entscheidungsinstanzen ausschliesslich in Teilen von Chiapas. Woanders jedenfalls sehe ich sonst nichts linksgesteuertes. Auch in den NL nicht.

  • Ist die momentane Auswahl durch den Wettlauf über den Balkan weniger willkürlich? Nein, ist sie nicht. Sie ist nur weniger menschlich, eher "natürlich" (Hobbes). Es gewinnen nämlich vor allem die Stärksten, Mutigsten und Cleversten, nicht die, die am dringendsten Schutz brauchen. Diese Leute besitzen das größte Potential – in positiver wie in negativer Hinsicht.

     

    Im "besten" Fall lassen sie richtig gut ausbeuten durch die Europäer. Sie sind dann ein Traum für DIE europäische Wirtschaft - und ein Albtraum für alle, die um ihre Billig-Jobs fürchten. Im schlimmsten Fall sind sie so eigensinnig, dass sie sich nicht gut integrieren lassen. Vor allem nicht von Leuten, die sie über den Tisch ziehen wollen.

     

    Will man diese Art von Menschen, braucht man ein Zuwanderungsgesetz à la USA, kein Asylgesetz. Es geht dann nämlich nicht um Menschlichkeit, sondern um ökonomische Vorteile. Das Asylgesetz wird für die gebraucht, die besonders schutzbedürftig sind. Diese Leute nehmen die strapaziöse Reise via Türkei allerdings oft gar nicht erst in Angriff, müssen die Europäer also bisher noch gar nicht interessieren. Zudem lassen sie sich oft nicht so gut ausbeuten, weil sie zu jung sind, nicht stark, hart oder clever genug. DIE Wirtschaft hat also nicht unbedingt (sofort) etwas von ihnen. Der Albtraum derer, die sich zu kurz gekommen fühlen, bleiben sie trotzdem.

     

    Momentan versuchen DIE Europäer immer noch, sich selbst zu waschen ohne sich dabei auch nur die Fingerspitzen nass zu machen. Sie werden sich entscheiden müssen: Wollen sie menschlich oder Sieger sein, ehrlich (auch zu sich selbst), oder Lügner? Momentan scheinen die Zeichen in der Politik fast überall auf Sieg zu stehen, nicht auf Menschlichkeit. Sehr seltsam, das, fast 30 Jahre nach dem Untergang des Sozialismus! Wovor, zum Henker, fürchten "die" sich noch?

  • Wichtig ist eine Lösung zu finden, die wohlgeordnet ist und nicht im Gegensatz zum Grundgesetz steht. Der Bund hat die Verantwortung aber die Primärkonpetenz in der Bundesrepublik ist immer bei den Ländern. Wenn das "wir schaffen das" in ein "ihr habt das zu schaffen" umschlägt, und Verantwortung abgestreift wird, dann haben wir den Salat. Entweder schaffen wir jetzt zeitgemäße Regeln oder wir wursteln weiter an der Rechtslage vorbei auf eine Art und Weise, die den Rechten Recht gibt, weil der Verfassungsbruch offenes Programm ist und andere die Lasten tragen sollen. Realistisch ist die Feststellung, dass Familiennachzug nicht mehr gehen wird wie in der Vergangenheit. Ich bin dennoch zufrieden, dass Deutschland noch nicht ganz so hartherzig ist.

  • 2G
    24636 (Profil gelöscht)

    Es gibt keinen Notstand in Europa, der eine Abkehr von den Verpflichtungen der GFK rechtfertigen würde. Und ob die Menschen nach Europa flüchten, das kann man sich nicht aussuchen. Meiner Meinung nach kann man die dadurch entstehenden Probleme auch nicht durch Geschacher mit halb- oder vierteldemokratischen Potentatenstaaten lösen. Die Türkei als Schutzwall Europas kann man sich wohl nur in Mitteleuropa zurechtphantasieren.

     

    Hier ist ein Blick in die Zukunft Europas gefragt, mit allem, was das langfristig (auch an unangenehmen Folgen) bedeutet.