Wladimir Putins Werdegang: Ein kollektives Geschöpf
Michail Sygar hat sich akribisch durch die Biografie des russischen Präsidenten gearbeitet. Putins Wegbegleiter sind dabei die Wegmarken.
Dieses Buch soll zeigen, dass es Putin eigentlich gar nicht gibt.“ Einen solchen Satz sollte man am Anfang eines Buchs vermuten. In diesem aber steht er am Ende, und das hat einen guten Grund: In „Endspiel – Die Metamorphosen des Wladimir Putin“ nähert sich der Moskauer Journalist Michail Sygar dem russischen Präsidenten weniger als dem „schrecklichen Zaren“, als den ihn die Welt fürchtet, sondern als dem „kollektiven Putin“: dem Produkt unterschiedlichster Entwicklungen und Strippenzieher, gar Manipulationen.
Sygar fädelt Putins Werdegang anhand seiner Wegbegleiter auf. Die meisten Namen kennt die westliche Öffentlichkeit nicht, und mit einigen hat Putin sich überworfen. Das sind zwei hervorragende Gründe für den Autor, mit ihnen zu sprechen.
Mit ihren Informationen zeichnet er das Bild eines Mannes, dessen Fetisch es offenbar ist, Teil eines sich ständig verändernden Mosaiks zu sein. Projektionsfläche westlicher Urängste und unnachgiebige Herrscherfigur einer Nation, die mehr als alles andere einen Helden zu suchen scheint.
Präzise beschreibt Sygar, wie Putin sich nach und nach veränderte – von einem Mann, „der durch puren Zufall König wurde“ und, als er seine Macht zunehmend schätzenlernte, einen ehrgeizigen Plan zu verfolgen begann. Dazu gehörte nicht nur, die alten Eliten loszuwerden, die im und um den Kreml immer noch die Geschicke lenkten. Auch Putins Selbstbewusstsein auf internationaler Ebene weiß Sygar herzuleiten.
Er nimmt kaum Wertungen vor, aber der Vorwurf, dass der Westen sein heutiges Schreckensbild Putin zum Teil selbst erschuf, schwebt im Raum: durch Unterschätzung und achtlose Provokationen, die Putin Sygars Recherchen zufolge dermaßen reizten, dass er auf dem diplomatischen Parkett immer unerbittlicher wurde.
Zu einem Großteil dreht sich die Erzählung um die in Moskau aktiven Protagonisten auf Putins Weg zur Macht, jeder wird mit einem bestimmten Attribut versehen: sein treuer Alibi-Stellvertreter Dmitri Medwedjew etwa, „die rechte Hand“, oder auch Ramsan Kadyrow, der anarchisch-exzentrische Statthalter Putins in Tschetschenien – von Sygar treffend als „das Wolfsjunge“ bezeichnet.
Schröder und Putin
Sein präziser Fokus ist aber auch das Problem des Buches: Sygar konzentriert sich stark auf russische Kreise, deren Angehörige für einigermaßen unbedarfte Leser nicht einfach auseinanderzuhalten sind. Gerhard Schröder hingegen kommt nur am Rande vor, was verwunderlich ist, scheint der Umgang mit ihm doch eine ganz wesentliche Metamorphose bei Putin herbeigeführt zu haben. Die Anerkennung und gar Freundschaft mit dem Regierungschef eines westlichen Landes war zu Beginn seiner Amtszeit Putins größtes Bestreben, schildert Sygar.
Michail Sygar: „Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 400 S., 16,99 Euro
Viel Hintergrundwissen wird vorausgesetzt: Zeit, die ideologischen Verwirrungen der Jelzin-Ära zu erläutern, von denen Putin massiv profitierte, nimmt der Autor sich nicht. Dennoch: Das Buch sollte jeder lesen, der die Genese des Mythos Wladimir Putin nachvollziehen möchte – und zwar nicht aus der spöttisch-fingerzeigenden Sicht westlicher Beobachter, sondern von jemandem, der die nötigen Kontexte kennt. So eine gründliche Betrachtung ist wichtig.
Putin mag gewissermaßen in sein Amt hineingestolpert sein, aber umso weniger wird er es kampflos aufgeben, schließt Sygar: „Wir alle haben uns unseren Putin erschaffen. Und wahrscheinlich noch lange nicht die letzte Version.“
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