Die Wahrheit: Schreistaat Bayern
Als erstes Bundesland führt Bayern eine allgemeine Schreipflicht ein und verpflichtet seine Bürger zu einer hysterischen Streitkultur.
Mit 136 zu 44 Stimmen hat der bayerische Landtag heute das Verfassungsreferendum „Schreistaat Bayern“ durch den Landtag gebracht. Neben den zu erwartenden 101 Stimmen der Regierungsmehrheit kamen dabei 35 weitere Stimmen aus den Reihen der Opposition.
Bayern ist damit das erste Bundesland, dass zum 1. März 2016 die allgemeine Schreipflicht einführt. Andere Bundesländer, allen voran der kommende Schreistaat Sachsen wollen mit ähnlichen Gesetzesnovellen folgen. Eine Grundgesetzänderung wird damit immer wahrscheinlicher.
Die nun in der bayerischen Landesverfassung verankerte Schreipflicht wird zu deutlichen Veränderungen im öffentlichen Leben führen. Hier die wichtigsten Neuerungen im Überblick:
1. Es gilt die allgemeine Schreipflicht. Auch schriftlich.
1.1. Äußerungen müssen grundsätzlich geschrien oder gebrüllt werden. In der Schreischrift sind Großbuchstaben zu verwenden. Das Satzende ist durch mindestens drei Ausrufezeichen zu markieren.
2. Menschen, die nicht Willens oder in der Lage sind zu schreien, haben zu schweigen.
3. Meinungsäußerungen haben mit der Formel „Ihr alle habt doch alle von allem keine Ahnung“ zu beginnen.
4. Komplexe Gedankengänge werden mit einem Strafgeld von 50 Euro pro Nebensatz belegt.
5. Politische Ansichten sind mit mindestens 88 Dezibel vorzutragen.
6. Medien und Presseorgane sind verpflichtet, Nachrichten mündlich wie schriftlich einzuschreien. Zuwiderhandlungen werden mit Berufsverbot oder dem Entzug der Sendeerlaubnis geahndet.
7. Die Recht-Sprechung wird in eine Recht-Schreiung umgewandelt. Gerichtsverfahren sind grundsätzlich per Dezibelmesser zu entscheiden. Es ist der Rechtsgrundsatz anzuwenden: Der Lautere hat recht.
8. Gesetze dürfen nur noch von solchen Personen eingebracht werden, die nachweislich im persönlichen Zweikampf mindestens drei Menschen anderer Meinung niedergeschrien haben.
Interview in Rufweite
Über die ganz praktischen Folgen der Gesetzesänderung wollen wir mit Horst Gauhöcke, einem Kommunikationstrainer und Schreicoach in Rufweite seiner Münchener Praxis sprechen. Doch zunächst lässt uns Gauhöcke eine Erklärung unterschreiben, in der wir die alleinige Verantwortung für mögliche Gesprächsfolgen wie Hörstürze oder Knalltraumata übernehmen.
„Herr Gauhöcke, ab März gilt vermutlich deutschlandweit die Schreipflicht. Was sollten die Bürger hinsichtlich der neuen Rechtschreiung beachten?“, beginnen wir, müssen die Frage jedoch wiederholen, da Gauhöcke akustische Signale in Zimmerlautstärke überhaupt nicht wahrnimmt. Erst als wir uns eines Megaphons bedienen, nickt er eifrig.
„Ihr alle habt doch alle von allem keine Ahnung. Fresse halten!“, brüllt Gauhöcke zurück, dass die Scheiben klirren. „Wir kriegen euch, ihr Terroristenverharmloser! SCHWEIGEKARTELL!!! Jetzt wird aufgeräumt!! Ihr schwulen Gutmenschen! Ihr dreckigen Islamversteher!!! Es wurde höchste Zeit, dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen. Toleranz ist LANDESVERRAT!!! Nachdenken können wir uns nicht mehr leisten.“ Gauhöcke holt japsend Luft, umgehend nutzen wir die Atempause.
„Aber Nachdenklichkeit ist doch eine Grundvoraussetzung …?„, wenden wir tapfer schreiend ein, aber die Lautstärke und das hasserfüllte Timbre des Meisters will uns einfach nicht über die Lippen gehen. Puterrot zeichnen sich die Adern auf seiner Stirn ab, als sich Gauhöckes Stimme in die Höhen des Freisler-Falsetts schwingt: „Ihr alle habt doch alle von allem keine Ahnung. Lügenpresse! Lügenpresse!! LÜGENPRESSE!!! Fresse halten!!!“ Ein Schreikrampf fährt in den Stimmbildner, brüllend springt er auf und ab und versucht, sich selbst in der Mitte entzwei zu reißen.
„Aber ist das nicht …?„, fragen wir, doch bevor wir unseren Gedanken formulieren können, erhebt der schreigewohnte Coach seine Stimme. „Fresse! Fresse! Fresse! FRESSE, hab ich gesagt!!!“, grölt Gauhöcke.
Auskünfte bis zum Tinnitus
Halb benommen ziehen wir die Frage zurück, doch der professionell aufgebrachte Kommunikator schreit uns so lange ins Ohr, bis ein beharrlich klingelnder Tinnitus sein Gebrüll übertönt.
„Ich geh jetzt in die Stadtverwaltung und verprügele einen Sachbearbeiter“, hören wir noch. „Und zwar den erstbesten. Völlig egal, wen es trifft. Die sind doch alle für alles verantwortlich. Wir lassen uns nicht mehr! Und zwar von NIEMANDEM!!!!!
Ratlos schauen wir den Schreicoach an. Obwohl sein Organ mühelos mit einem startenden Düsenjet mithalten könnte, schrillt nur noch dieses Klingeln in unseren Ohren. Das aus weiter Ferne herüberzuwehen scheint.
Die Übersetzung seiner Äußerungen vom Schrei- ins Alt-Rechtdeutsche schreibt uns Gauhöcke deswegen sicherheitshalber auf: „Ich wollte meiner Sorge Ausdruck verleihen, dass die begründeten Ängste der besorgten Bürger nicht genügend gehört werden könnten.“
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