Debatte über totes Baby in Hamburg: Verfrühter Vorwurf
Das verstorbene Baby Tayler war schon einmal in Jugendamt-Obhut. Doch haben die Behörden wirklich versagt, wie die Bild-Zeitung behauptet?
Für die Bild steht fest, dass wie bei der 2013 gestorbenen Yagmur wieder die Behörden versagt haben. Denn wie einst Yagmur kam auch Tayler in seine Familie zurück, obwohl er schon einmal verletzt war. Mit neun Monaten war er mit einem Schlüsselbeinbruch im Krankenhaus. Seine Mutter erklärte die Verletzungen mit einem Spielplatzunfall auf dem Trampolin.
Wie die taz berichtete, wurde das Kleinkind wegen Misshandlungsverdacht im Kinderkompetenzzentrum des Instituts für Rechtsmedizin des Uniklinikums Eppendorf (UKE) untersucht. Dieses informierte das Jugendamt Altona, das Tayler vorübergehend in Obhut nahm und in eine Pflegestelle gab. Das passierte mit Einverständnis der Mutter, deshalb war dies kein Fall fürs Familiengericht. Auch Polizei und Staatsanwaltschaft wurden zu diesem Zeitpunkt nicht eingeschaltet.
„Wir haben das Kind rechtsmedizinisch untersucht und entschieden, die Polizei nicht einzuschalten“, zitierte die Bild den Institutsdirektor Klaus Püschel. Inzwischen äußert sich das UKE nicht mehr zu dem Fall und verweist auf die Staatsanwaltschaft.
So ist also offen, warum die Rechtsmedizin so entschied. Ganz ungewöhnlich ist es nicht. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass das Institut häufig zu keiner klaren Diagnose kommt. Doch das Jugendamt muss entscheiden, was aus dem kleinen Kind wird. Laut Bild gibt es eine Anweisung, die besagt: „Bevor ein Kind zurück in seine Familie geschickt werden darf, muss der Ursprung der Verletzungen zweifelsfrei aufgeklärt werden.“
Doch nach Auskunft der Sozialbehörde findet sich dieser Wortlaut in keinem Regelungstext. Er würde auch faktisch zu einer Rückführungssperre für ungeklärte Fälle führen, 2014 immerhin 138 Kinder. „Bei unklaren Diagnosen muss man den Fachkräften vor Ort einen Beurteilungsspielraum lassen, welcher Lebensort die besten Chancen für ein Kind birgt“, sagt der frühere Jugendhilfe-Abteilungsleiter Wolfgang Hammer. „Trennungen bedeuten für ein kleines Kind erheblichen seelischen Stress.“
Gleichwohl muss das Jugendamt anhand eines „Prüfbogens“ sicherstellen, dass eine Rückführung möglich ist. Kriterien sind, dass die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie sich verbessert haben und die Gefährdung abgewendet ist. Außerdem muss eine hinreichende Bindung zu den Eltern bestehen und diese Hilfe annehmen. Tayler und seine Mutter wurden seit August von Sozialarbeitern des Rauhen Hauses betreut. Die Mutter habe die Hilfe gut angenommen, man habe zum Beispiel gemeinsam vor Taylers Rückkehr die Wohnung kindersicher eingerichtet, berichtet Sprecher Uwe Mann van Velzen. „Es gab keine Anzeichen von Gewalt.“
Die Mitarbeiterin des kirchlichen Trägers war am Tag, bevor Tayler die tödlichen Verletzungen erlitt, in der Familie und dokumentierte blaue Flecke. Sie bleibt bei der Einschätzung, dass es sich um Sturzverletzungen bei Gehversuchen handelte. Sie hat den Jungen, der einen großen Kopf hatte und deswegen motorisch unsicher war und zeitweise einen Helm trug, auch unbekleidet gesehen.
Sie wird nun, genau wie die Mitarbeiter des Jugendamts, von der vierköpfigen Jugendhilfeinspektion vernommen. „Wir werden voll kooperieren. Wir wollen das ja auch aufklären“, sagt Mann van Velzen.
Der Ende Januar erwartete Bericht wird, wie bei Yagmur, vermutlich falsche „Weichenstellungen“ aufzeigen, was in der Rückschau auf Ereignisse leicht möglich ist. Wäre Tayler als akuter Kinderschutzfall eingestuft gewesen, hätte das Rauhe Haus laut Mann van Velzen die Flecke melden müssen.
Ver.di-Sekretäerin Sieglinde Friess kritisiert, dass die Jugendhilfeinspektion nur den Auftrag habe, „den Fehler bei den Einzelnen zu suchen“. Bei den Jugendämtern gebe es eine sehr hohe Fluktuation. Alte Kollegen gingen in Rente. „Und junge Kollegen gehen gleich wieder, weil diese Arbeit eine zu hohe Verantwortung bedeutet, wenn sie von der Politik allein gelassen werden.“
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