Syrische Flüchtlinge in Jordanien: Die Ausgeschlossenen
In Jordanien sind rund 630.000 Flüchtlinge registriert. Die jungen Leute unter ihnen haben kaum Zugang zu Bildung. Majd Khodury ist einer von ihnen.
Der Safeway in West-Amman ist eine dieser gigantischen amerikanischen Konsumhallen, in denen allein die Auswahl an Müslisorten nicht ein Regalbrett, sondern Wände füllt. Ausländer und wohlhabende Jordanier kaufen hier ein. Khodury, 20, ein Mann mit Dreitagebart und Schalk in den Augen, steht im weißen „Signal“-Kittel vor einem Stand mit Zahnpastapackungen. Ein paar Meter weiter warten ebenfalls junge Männer darauf, Deos oder Rasierer anzupreisen, sie sind von der Konkurrenz. Aber niemand stürzt sich so enthusiastisch auf die Kunden wie Khodury. 70 Packungen verkaufe er an guten Tagen, flüstert er vergnügt, das schaffe hier niemand sonst. In Khodurys neuem Leben wird Erfolg in der Zahl verkaufter Zahnpastatuben bemessen.
Seit zwei Jahren lebt der junge Syrer in Jordanien. Der Krieg in seiner Heimat hat nicht nur Städte verwüstet und Leben ausgelöscht, er hat auch Träume zerstört. Khodury träumte davon, Lehrer zu werden.
In der Pause lehnt er draußen auf dem Parkplatz an einem Betonpfeiler und raucht. „Ich habe in der Schule meine Lehrer gefragt, was sie werden wollten, als sie jung waren“, erzählt er. „Einer sagte ,Ingenieur‘, ein anderer ,Arzt‘. Keiner wollte Lehrer werden, und deshalb haben sie alle schlecht unterrichtet. Ich will es besser machen.“ Am liebsten möchte Khodury Englischlehrer werden. Er spricht die Sprache gut, alles selbst beigebracht, sagt er: „Ich bin verliebt in Englisch!“
„Uni, ich komme!“
Im Frühjahr 2013 hatte er sich in seiner Heimatstadt Aleppo für ein Englischstudium eingeschrieben. „Die Uni war wegen des Krieges geschlossen“, sagt er und muss lächeln bei der Erinnerung. „Ich bin hingegangen, nur um sie mir anzuschauen. Ich komme!, dachte ich.“
Viele der über 600.000 syrischen Flüchtlinge in Jordanien sind junge Männer und Frauen, viele haben wie Majd Khodury ein Studium gar nicht beginnen können oder mussten es abbrechen; das Assad-Regime wiederum hatte vor dem Krieg stark in Bildung investiert, die Universitäten ausgebaut und eine Generation von Jungakademikern herangezogen.
Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Keith David Watenpaugh von der University of California kommt in einer aktuellen Untersuchung zu dem Schluss, dass weniger als zehn Prozent der syrischen Studenten in Jordanien ihr Studium fortsetzen können. Viele sind nicht mehr im Besitz ihrer Zeugnisse, außerdem verfügen sie meist nicht über die Mittel für Studiengebühren. Stattdessen schlagen sie sich mit schlecht entlohnten Jobs durch. Dabei wird man eines Tages gerade die jungen, gut ausgebildeten Syrer für den Wiederaufbau brauchen, sagt Watenpaugh.
Ein Heer frustrierter junger Menschen
Der US-Forscher warnt, dass ein Heer frustrierter junger Menschen zur tickenden Zeitbombe werden und leichte Beute für extremistische Organisationen wie den „Islamischen Staat“ werden könnte. Er fordert die internationale Gemeinschaft auf, Universitäten in den Anrainerstaaten zu unterstützen und mehr Stipendien- und Bildungsprogramme für Syrer aufzulegen. „Wir können es uns nicht leisten, diese Generation zu verlieren“, sagt er.
Majd Khodury verbringt nun seine Tage im Supermarkt statt im Vorlesungssaal. Vor zwei Jahren haben sie – via Libanon – Syrien verlassen. Mit seinen Eltern und Brüdern teilt er sich eine kleine Wohnung in West-Amman. Der Vater hat eine kleine Schuhwerkstatt eröffnet, in der Khodury gelegentlich aushilft, wenn er gerade keine Zahnpasta verkauft – für fünf jordanische Dinar am Tag, 6,60 Euro.
Khodury zieht sein Smartphone aus der Hosentasche und öffnet Fotos, die ihn inmitten von Freunden zeigen, Freunden aus seinem neuen Leben, nach der Flucht. Es fällt ihm leicht, Menschen kennenzulernen, das ahnt man, wenn man beobachtet, wie charmant er Kunden im Supermarkt in ein Gespräch verwickelt.
Studieren und ein fester Job
„Neulich sind wir alle zusammen ans Tote Meer gefahren“, sagt er. „Meine Freunde haben Geld, und wenn wir etwas unternehmen, laden sie mich ein. Ich habe Spaß mit ihnen, aber ich warte darauf, dass ich endlich selbst bezahlen kann.“ Er drückt die Zigarette aus. „Meine Lehrer haben immer gesagt: Geld ist nicht wichtig. Aber ich merke jetzt, dass das nicht stimmt. Alles, was ich will, ist studieren und ein fester Job.“
Vor einigen Monaten hat er am British Council, dem britischen Pendant zum Goethe-Institut, einen Englischtest absolviert. Er landete unter den zehn Besten, weshalb er nun zu einem Kurs zugelassen ist, der, für ihn kostenfrei, dreimal die Woche stattfindet. „Das hat mein Leben verändert“, sagt er, mit fast kindlicher Begeisterung, „ich habe das Gefühl, als würde ich richtig studieren!“
An einem sonnigen Nachmittag trifft er sich nach dem Kurs mit einem Freund. Ala‘aTurk, 24, arbeitet in der Rainbow Street in einem Restaurant. Mit ihren Bars und Restaurants ist die Straße beliebt bei Expats, Austauschstudenten und liberalen Einheimischen. Hier tragen die meisten Frauen die Haare unverschleiert, ein ungewohnter Anblick im konservativen Amman; auf den Speisekarten steht Alkohol, und in den Coffeeshops wird nicht der süße arabische Kaffee serviert, sondern XL-Latte im Pappbecher, auf Wunsch mit Sojamilch. Vier, fünf JD kostet ein Kaffee hier, das ist so viel, wie Turk an einem halben Tag verdient. Die beiden bestellen nichts, sie rauchen nur. Zigaretten kosten nicht viel in Amman.
„Du bist auch Syrer, nicht wahr?“
Bevor er im Supermarkt anheuerte, jobbte Khodury in einem Souvenirgeschäft. Eines Tages im Sommer 2014 spazierte Turk herein. „Hey, sucht ihr noch Mitarbeiter?“ Khodury hört seinen Akzent, er klingt vertraut. „Frag mal drüben in der Nirvana Lounge, die suchen einen Koch“, rät er ihm. „Danke“, sagte Turk. Und dann: „Du bist auch Syrer, nicht wahr?“ So werden die beiden Freunde.
Bevor Turk 2013 nach Amman kam, hatte er in Damaskus Medizin studiert. Die Handlanger des Regimes hielten ihn für einen Kämpfer der Rebellen, sie steckten ihn für zwei Monate ins Gefängnis und folterten ihn täglich, berichtet er, mit Strom, Schlägen, Stichen. Turk zupft den linken Ärmel seines T-Shirts hoch, zeigt eine braune Linie auf seinem Oberarm. „Das war ein Messer“, sagt er, als handele es sich bei der Narbe um einen Mückenstich.
Sollten ihn Erinnerungen quälen, so lässt er sich jedenfalls nichts anmerken. Die Frage, wie man zwei Monate Folter übersteht, grinst er weg. „Das ist Ala‘a, der hält das aus!“, ruft Khodury und lacht, ein übermütiges Jungenlachen, bei dem sich seine Stimme ein wenig überschlägt.
Keine Arbeitserlaubnis
An diesem schläfrigen Nachmittag im besseren Teil von Amman fällt es schwer, sich vorzustellen, dass diese beiden Männer vor nicht allzu langer Zeit Krieg und Gewalt entflohen sind. Auch Turk würde gern sein Studium fortsetzen. Doch daran ist nicht zu denken: Er arbeitet zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche, für umgerechnet knapp 400 Euro. Oft halte sein Chef einen Teil seines Gehalts zurück, um ihn an sich zu binden, berichtet er. Auch Khodury ist das bei früheren Jobs schon passiert. Zur Polizei gehen können sie nicht: Wie die meisten syrischen Flüchtlinge in Jordanien haben sie keine Arbeitserlaubnis; werden sie erwischt, könnte man sie zurück nach Syrien schicken.
Majd Khodury und Ala‘aTurk träumen bislang nicht vom puritanischen Kalifat, sondern von Europa. Sie hätten sich alles schon ausgemalt, sagt Khodury, sie wollen im selben Haus wohnen und zusammen studieren. „Das ist unser Traum. „Wir wissen nur nicht, wie wir ihn wahr machen können.“
Einmal haben sie einen Schleuser angerufen. Doch für die gefährliche Reise über das Mittelmeer verlangte der Mann 4.000 Euro – pro Person. „Das Geld haben wir nicht“, sagt Khodury. Er lacht, aber dieses eine Mal klingt es nicht fröhlich. „Ansonsten wären wir längst in Deutschland – oder tot.“
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