piwik no script img

Kommentar zur EU-FlüchtlingspolitikMehr als ein Ost-West-Konflikt

Daniel Bax
Kommentar von Daniel Bax

Europa droht in der Flüchtlingsfrage an nationalen Egoismen zu zerbrechen. Was genau macht die viel beschworenen europäischen Werte aus?

Europa versagt vor der humanitären Herausforderung unserer Zeit Foto: dpa

W as ist von Europa noch übrig? Nicht viel, wie es scheint. Jetzt hat sich auch noch EU-Ratspräsident Donald Tusk auf die Seite jener Regierungen in Osteuropa geschlagen, die sich mit aller Macht gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen stemmen.

Statt einen Kompromiss zu suchen, wie es seine Aufgabe als EU-Ratschef wäre, vertieft Tusk die Spaltung Europas und stellt Angela Merkel ein Bein. Die hatte am vergangenen Wochenende am Rande des EU-Türkei-Gipfels eine kleine Koalition der Willigen geschmiedet: Sie wollen bei der Aufnahme von Flüchtlingen mit gutem Beispiel vorangehen, bis zu eine halbe Million Flüchtlinge per Kontingent aus der Türkei nach Europa holen und sie über den Kontinent verteilen.

Aber schon der EU-Beschluss, 120.000 Flüchtlinge aus den überfüllten Lagern in Italien und Griechenland zu verteilen, geht vielen zu weit. Polens neue Regierung sieht sich nicht mehr daran gebunden, nach der Slowakei will auch Ungarn dagegen klagen. Und hinter den Kontingent-Plänen wittert Ungarns Regierungschef Viktor Orbán gar eine „Verschwörung“. Je mehr der Widerstand gegen Flüchtlinge wächst, desto mehr schmilzt das geplante Kontingent dahin – zuletzt war nur noch von 400.000 Flüchtlingen die Rede. Merkels ambitionierter Plan droht am neuen Ostblock zu zerschellen.

Dahinter steht aber mehr als ein neuer Ost-West-Konflikt. Es ist ein Konflikt um die Frage, was die viel beschworenen europäischen Werte ausmacht. Denn auch westeuropäische Länder wie Großbritannien und Dänemark stehlen sich aus ihrer humanitären Verantwortung, andere ziehen nur widerwillig mit. Zwar hat Deutschland Druckmittel: Es kann EU-Gelder kürzen lassen oder zum Dublin-Verfahren zurückkehren und die Flüchtlinge in jene Länder zurückschicken, in denen sie zuerst die EU betreten haben. Doch dann wäre Europa endgültig dahin.

Europa droht in der Flüchtlingsfrage an nationalen Egoismen zu zerbrechen und versagt vor der humanitären Herausforderung unserer Zeit. Dass sich Deutschland „solidarisch“ neben Frankreich am Syrienkrieg beteiligt, wirkt da wie eine Ersatzhandlung. Ihren Friedensnobelpreis kann die EU dann auch langsam mal zurückgeben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Daniel Bax
Redakteur
Daniel Bax ist Redakteur im Regieressort der taz. Er schreibt über Politik und Popkultur – inbesondere über die deutsche Innen- und Außenpolitik, die Migrations- und Kulturpolitik sowie über Nahost-Debatten und andere Kulturkämpfe, Muslime und andere Minderheiten sowie über die Linkspartei und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW). 2015 erschien sein Buch “Angst ums Abendland” über antimuslimischen Rassismus. 2018 folgte das Buch “Die Volksverführer. Warum Rechtspopulisten so erfolgreich sind.”
Mehr zum Thema

14 Kommentare

 / 
  • Es sind n´paar brauchbare Kommentare hier, das ist erfreulich !

    Mir z.B. geht dies Gelalle um die verlorenen "Europäischen Werte" auf den Keks!

    Was sind (oder waren..) diese Werte?

    Es waren Frieden (Krieg in Europa abwesend zu halten..) , Solidarität, Respekt, Anerkenntnis der Verschiedenheiten der Kulturen und Freundschaft zwischen den europäischen Völkern zu pflegen..

    ( das friedliche Europa so als art ästhetisch/moralische Grundkonstruktion..)

    Und Industrie, Geld, Kommerz und Ökonomie als etwas notwendiges, jedoch der "Grundkonstruktion" verpflichtet!

    Jedoch? Die "Realpolitik" in der EU gelangte zu sehr in den Sog neoliberaler ökonomischer Doktrinen:

    Die friedlich/moralischen Werte der Grundkonstruktion Europas wurden ökonomisiert. Der Neoliberalismus mit seinen Werten von Profit, Habgier und Egoismus.. mit industrieller Produktion im Namen von Börsen, Aktionären, die Macht der Banken..

    hat eine art soziale Kampfkultur etabliert, wodurch die moralischen/friedlich/solidarischen europäischen Grundwerte entwertet werden!

    Die Erhaltung des friedlich/solidarischen Sozialstaates weicht der habgierigen Profitkultur der ökonomischen Rationalität des alttestamentarischen Neoliberalismus.. Siehe die erneuerte Kultur der ÌNS´und ÒUTS´ !

    Im `Ostblock´ der EU herrscht die Sehnsucht nach neoliberalem Reichtum, die friedlichen Werte der EU Grundkonstruktion sind dort offenbar unbekannt!

    Und nun kommen Gedanken auf, das alte `Kerneuropa´(DE,FR, Holland und Belgien) wieder zu prioritieren..

    Na denn! Wie denn? Etwa neoliberal..?

    Hoffnung liegt(m.E.) nur in EU politischer Ablösung der verfehlten neoliberalen Politikkultur! Ein zurück zu den "Europäischen Grundwerten" !

    Eine art EU übergreifende Dialogkultur für "Europäische Grundwerte" ist notwendig!

    Die Kultur der ökonomisch/ideologisch begründeten "Entsolidarisierung" in der EU ( siehe Daniel Cohn Bendit dazu) muss beendet werden...

    hmm.. Nikolaus kommt trotz allem..

  • Vieles Richtiges im Kommentar.

     

    Aber man muss nun auch konstruktiv nach Lösungen suchen, wie sich die EU in dieser Form möglichst schnell auflösen kann. Dass Juncker vor kurzem wieder den Gedanken des "Kern-Europas" ins Gespräch brachte, stimmt mich hoffnungsvoll, dass eben nur diese EU gescheitert ist und nicht etwa auch nationenübergreifende Werte von Humanität.

    Ich hoffe, auch von linker Seite wird der Zerfall dieser EU begüßt und begleitet, bevor auch im Kerneuropa Wilders und LePen diese Schritte machen.

  • Die derzeitige Debatte in Deutschland könnte ruhig ein wenig mehr Ehrlichkeit „ertragen“.

     

    So zeigt sich inzwischen immer deutlicher, dass die Bundesregierung mit ihrer Haltung in der Flüchtlingspolitik innerhalb der EU völlig isoliert dasteht. Wenn man die für 2016 vorliegenden Aufnahmezusagen der anderen 27 EU-Staaten addiert, ergibt sich eine Gesamtzahl von deutlich weniger als 200.000. Trotz der seit Monaten laufenden Verhandlungen zu diesen Thema ist es Berlin nicht gelungen, irgendetwas an diesem Zustand zu ändern.

     

    Die Konsequenz dürfte daher ziemlich klar sein: Bleibt die deutsche Regierung bei dem „Merkel-Kurs“, wird auch im nächsten Jahr der bei weitem größte Teil der Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden müssen. Dieses Szenario sollte dann aber auch offen diskutiert werden. Nur so könnte man nämlich das weiter anwachsende Maß an Ressourcen rechtzeitig zur Verfügung stellen, deren Notwendigkeit sich ergeben würde.

     

    Alle Versuche, weiterhin eine „europäische Lösung“ zu postulieren, dienen angesichts der Haltung aller anderen EU-Staaten offensichtlich nur dazu, der deutschen Bevölkerung weiterhin Sand in die Augen zu streuen. Hier in Deutschland muss die Entscheidung fallen, ob man an dem eingeschlagenen Weg festhält oder diesen revidiert. Ein etwaiger Gesichtsverlust einer Person, und sei es der der Kanzlerin, sollte hierbei kein Maßstab sein.

     

    Die deutsche Regierung selbst hat sich über viele Jahre hinweg ins "EU-Abseits" manövriert, nun müssen auch hier die Folgen getragen werden.

  • Europa ächzt unter der Last der noch immer unkontrollierten Flüchtlingsströme, Behörden und Ämter, Polizei und Bürger sind offenkundig überfordert, es fehlt an der Infrastruktur, um allein in Deutschland ad hoc 1 Million Menschen einigermaßen menschenwürdig unterzubringen und auch medizinisch zu versorgen (Ärztemangel überall), Flüchtlinge klagen über Missstände, es kommt zu Unruhen und Massenschlägereien in Unterkünften, und was machen die Herren/Damen Journalisten, wenn die Politik die Handbremse zieht: Sie klagen an und faseln von zerbrechenden europäischen Werten.

    • @Nicky Arnstein:

      Dann schafft man die Infrastruktur eben. Geld ist im Überfluss vorhanden und die Baufirmen freuen sich.

       

      Ich jedenfalls ächze noch lange nicht, nur weil ein paar Dutzend Menschen in unsere Stadt eingezogen sind.

    • @Nicky Arnstein:

      europa ächzt?

      ach du meine güte!

      dann wird es in 1-2 jahren vom kreischen heiser sein - und endlich das tun, was das osmanische reich zeit seines bestehens bis zu den jungtürken (mit denen war's dann aus) hinkriegte: nämlich die in neuen nationalismen unerwünschten aufzunehmen.

       

      an der fehlenden - taschentuch! - infrastruktur dürfte das weniger liegen als daran, dass man immer noch glaubt, wiedergutmachung sei nichts anderes als die fortsetzung der alten politiken nur ohne judenmord.

  • "Nationale[] Egoismen"? Welche "nationalen Egoismen"?

     

    Für manchen Leute scheint es tatsächlich so auszusehen, als wären Polen, die Slowakei und Ungarn "Blöcke", die eine nationale Einheit repräsentieren. Dem ist NICHT so. Nicht einmal Sachsen ist ein Monolith. Das Konstrukt "Nation" hat eigentlich schon lange ausgedient. Wer nicht nur seinen Vorurteilen folgt, der weiß, dass die Dreifaltigkeit aus einem Volk, einem Reich und einem Führer nicht mal im Nazi-Deutschland Realität war. Sie ist immer nur ein Wunschtraum Einzelner gewesen.

     

    Wie gut also, dass auch der Ostalgie vollkommen unverdächtige Staaten wie Dänemark und Großbritannien sich entsolidarisieren. Damit dürften sie noch dem letzten Halbblinden unmissverständlich klar machen, dass der vermeintlich "neue[] Ost-West-Konflikt" nichts anderes ist als der uralte Rechts-Links-Konflikt. Und der verläuft nun einmal quer durch alle Nationen, Regionen und sogar Familien.

     

    Die "viel beschworenen europäischen Werte" sind keinen Pfifferling wert, wenn Rechte ganz allein entscheiden. In den ehemaligen Ostblockstaaten wird das nur ein wenig klarer als woanders. Die vor 1989 verursachten Traumen wirken hier nämlich besonders nach und geben einen Vorgeschmack auf das, was auch DEM Westen droht, wenn er sich weiter von egoistischen Soziopathen in eine Ansammlung quasi-diktatorischer Regime verwandeln lässt.

     

    Übrigens: Dass sich Deutschland "solidarisch" neben Frankreich am Syrienkrieg beteiligt, IST eine Ersatzhandlung. Echte Solidarität in den eigenen nationalen Grenzen kommt offenbar für Hollande & Co. nicht in Frage. Dass deswegen DIE EU "ihren Friedensnobelpreis [...] langsam mal zurückgeben [kann]", finde ich allerdings nicht. Sie sollte ihn sich vielmehr endlich mal verdienen. Wenn schon ganz oben an der Spitze der Gesellschaft, dann wenigstens an ihrer Basis. Und da passiert ja schon so einiges, was einen Friedenspreis durchaus verdient hätte.

    • 4G
      4932 (Profil gelöscht)
      @mowgli:

      Ich tue mich mit Ihrem Beitrag sehr schwer, da ich nichts finde, was Sie mir sagen wollen. Zu den nationalen Egoismen: In Finnland, in Polen, in der Türkei, in Ungarn, auch in Sachsen wurde gewählt. In Polen hängt Frau Szydło inzwischen die EU-Fahnen ab, weil sie sie nicht mehr sehen will. Die 'Traumen ..., die auch DEM Westen drohen, wenn er sich weiter von egoistischen Soziopathen in eine Ansammlung quasi-diktatorischer Regime verwandeln läßt' klingt interessant und bedeutet was???

      Daß der Friensnobelpreis weder an Obama noch an die EU hätte verliehen werden dürfen, ist klar. Aber was passiert da einiges 'an der Basis', was ihn verdient haben könnte? Das blitzschnelle Erwachen eines europaweiten Rechtsradikalismus? Nein bitte nicht einen Friedensnobelpreis dafür!!!

      Aber ich habe ja sowieso Ihren Beitrag nicht verstanden.

  • 1G
    1714 (Profil gelöscht)

    Europa ist gescheitert. Das will nur niemand aus der Politik laut sagen oder gar wahrhaben. Keine, wirklich keine Regierung will tasächlich ein geeintes Europa, auch die deutsche nicht. Es würde die Abgabe eigener Zuständigkeiten bedeuten und schon Schäuble macht allenthalben klar, dass er das nicht mitträgt. So gibt es genug Beispiele in jedem einzelnen EU-Staat. Die Brüsseler Institutionen sind gut geeignet, abgehalfterte Politiker zu entsorgen, denen man zu Hause keine best dotierten Jobs mehr anbieten mag. Mit dieser Truppe zweit- und drittklassiger Wichtigtuer kann man logischerweise kein fortschrittliches Europa erreichen. Zudem kann jede nationale Regierung auf diesem europäischen Haufen die eigene Mitverantwortung bequem abladen und - weitermachen zum eigenen Machterhalt und absolut egozentrischen Vorteil.

    • @1714 (Profil gelöscht):

      "Europa ist gescheitert", sagt Voltaire. Na sowas! An was macht Voltaire das denn fest? Am EURO? Oder etwa an der Flüchtlingskrise? Da möchte ich mal entgegenhalten: Diese Flüchtlingskrise hat mir Europa genausowenig zu tun wie der Kaiser von China mit Che Guevara! Die Flüchtlingskrise ist eine Folge von nationaler Misspolitik (ganz besonders der deutschen!!!), von aggressiver USA-Politik (außerhalb von Europa!) und der Sogwirkung von modernen Medien (Internet, Smartphones). Und das ist auch schon alles.

    • @1714 (Profil gelöscht):

      Wenn Europa tatsächlich "gescheitert" wäre (was ich nicht glaube, weil ich ein paar Europäer kenne), dann nicht in erster Linie deswegen, weil "wirklich keine Regierung [...] tatsächlich ein geeintes Europa [will]". Es wäre vielmehr gescheitert, weil die europäischen Wähler mehrheitlich zu ignorant, zu dumm, zu träge, zu feige, zu gierig, zu obrigkeitshörig oder all das zusammen sind.

       

      Schließlich muss die Mehrheit aller Wähler in einem Staat eine Regierung WOLLEN, sonst darf sie nicht regieren in einer Demokratie. Und wer eine Regierung will, die Europa nicht will, der ist selber Schuld, wenn er bekommt, was er bestellt hat.

       

      Ja, es "würde die Abgabe eigener Zuständigkeiten bedeuten", wenn nationale Regierungen Europa stärken würden. Und in dem Zustand, in dem Europa derzeit ist, wäre das womöglich wirklich nicht besonders angebracht. Aber wer ist den dran schuld, dass Europa ist wie es ist? Doch wohl wir alle!

       

      So lange noch zu viele Leute "die Abgabe eigener Zuständigkeiten" an Leute wie die, die grade heute über Krieg oder nicht Krieg entscheiden im Bundestag, für vertretbar halten, muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden. Vor allem, wenn sich keiner sinnvoll auflehnt.

  • 4G
    4932 (Profil gelöscht)

    Ein sehr guter Kommentar von Herrn Bax, dem man nichts hinzufügen kann und sollte.

    Europa versinkt im Eiltempo tagtäglich tiefer im hausgemachten Sumpf, da seine Konstruktion nur auf Geben und Nehmen von Geld angelegt war und nie auf Einhaltung von Werten und auf Solidarität. Das Verhalten der Neuzugänge von Finnland bis Ungarn und die erste wirklich schwierige Krise, nämlich das Einfahren der von Amerika gesähten Ernte im nahen Osten, werden Europa den Rest geben.

    Ich schätze, daß Frau Merkel sich noch ein/zwei Monate halten kann. Und nach ihrem Abgang wirds ganz schwierig. Die heutige Abstimmung im Bundestag über einen Kriegseinsatz in Syrien wird die Sache nochmal beschleunigen. Nun säht auch Deutschland 'Terroranschläge' und wird bald seine Ernte in Fußballstadien, U-Bahnhöfen und in Konzertarenen ernten.

  • Es ist Beschämend wie wir uns in Europa gegenüber Flüchtlinge verhalten.

    50% der Bevölkerung der BRD haben ein Imigration Hintergrund.