Dokumentation über Chinas Smog: Überall riecht es verbrannt
Mit ihrer Smog-Doku „Under the Dome“ rüttelte Chai Jing viele Chinesen wach. Auch die Regierung unterstützte den Film – bis die Zensoren zuschlugen.
Nein, mit einer Bestrafung müsse Chai Jing nicht rechnen. Und ja, sie befinde sich in Sicherheit. Es sei momentan nur „nicht günstig“, mit ausländischen Journalisten zu sprechen, sagt die Mitarbeiterin. Man müsse sich um sie aber auf keinen Fall Sorgen machen.
Die Mitarbeiterin – das ist eine junge Journalistin. Sie nennt sich Huang. Und mit „sie“ meint sie Chai Jing, der in China derzeit bekanntesten Dokumentarfilmerin. Huang hatte an dem Film der 39-jährigen Chai mitgewirkt, dem wahrscheinlich am häufigsten gesehenen Umweltfilm der Menschheitsgeschichte. Ihren wahren Namen möchte sie nicht nennen. Ebenfalls „um Umstände zu vermeiden“, wie sie es ausdrückt.
Es ist ein kalter Novembernachmitttag in Peking. Die Temperaturen liegen bei Minusgraden. Als Huang den Treffpunkt betritt, hat sie einen dicken Mantel an, eine bis zu den Augen heruntergezogene Wollmütze, aus denen zwei dicke geflochtene Zöpfe herausschauen. Sie hat einen Mundschutz auf – wie die meisten Menschen um sie herum.
Denn das bedeutet ein kalter Novembertag in Peking: Smog. Dann laufen die meist mit Kohle betriebenen Kraftwerke auf voller Leistung und blasen noch mehr Feinstaub in die Luft. Peking und der gesamte Norden und Osten Chinas versinken dann unter einer dichten Smogdecke aus giftigen Autoabgasen, Kohledreck und Lungenkrebs verursachenden Kleinstpartikeln. Überall riecht es verbrannt. Der Hals kratzt, die Augen tränen. Die Sichtweite liegt bei unter 20 Metern. Auf den Smog-Apps, die jeder auf seinen Smartphones hat, steht „Hazardous“ – gefährlich.
Die Verzweiflung zeigen
Neun Monate ist es her, dass Chai Jing einen anderthalbstündigen Dokumentarfilm über Chinas Luftverschmutzung ins Netz gestellt hatte. „Under the Dome“ nannte die Reporterin und ehemalige Fernsehmoderatorin des Staatsfernsehens CCTV ihren Film – in Anlehnung an den Science-Fiction-Roman des US-Autoren Stephen King. Er handelt von der Kleinstadt Chester Mill, das aus mysteriösen Gründen von einer Kuppel vom Rest der Welt abgeschnitten wird. Die Bewohner werden regelmäßig von Giftkatastrophen heimgesucht. Die Katastrophen erinnerte Chai Jing an Chinas dichten Smog, der sich regelmäßig über sämtliche chinesische Städte legt. Und wie für die Bewohner von Chester Mill unter der Kuppel gibt es auch für die meisten Chinesen kein Entkommen.
Der Erde droht der Hitzekollaps. Deshalb wollen die Staatschefs der Welt Anfang Dezember in Paris einen globalen Klimaschutz-Vertrag vereinbaren. Die taz berichtete vom 28. November bis zum 14. Dezember 2015 täglich auf vier Seiten in der Zeitung und hier auf taz.de.
Genau diese Verzweiflung versucht Chai in ihrer Dokumentation aufzugreifen. Und das gelingt ihr. Wieder einmal. Ihr journalistisches Handwerk erlernte sie in den neunziger Jahren beim Provinzsender Hunan TV, wie alle Fernsehsender Chinas zwar in staatlicher Hand, aber dafür bekannt, dass er frecher ist und mit für chinesische Verhältnisse ungewöhnlichen Fernsehformaten besonders viele Zuschauer anzieht. Chai moderierte eine Sendung mit dem Namen „Die neue Jugend“. Schon damals fiel sie auf. Probleme sprach sie unverhohlen an, den Schwerpunkt legte sie bei ihren Interviewpartnern auf das persönliche Befinden – für ein Land mit zuweilen arg eingeschränkter Pressefreiheit ein eher unübliches Vorgehen.
Später machte sie sich beim nationalen Sender CCTV mit ihrer Berichterstattung über Chinas Sars-Epidemie (2002/2003) einen Namen. Im Olympiajahr 2008 berichtete sie über das schwere Erdbeben in Wenchuan und kündigte dabei erstmals ihren Job. In einem Dorf war sie so betroffen über die Schäden und hohen Opferzahlen, dass sie sich auf eigene Faust für mehrere Monate dort niederließ, um über das Schicksal der armen Bauern eine ausführliche Reportage zu drehen.
„Diese Zeit hat mein gesamtes Leben verändert“, erzählt sie. Bis dahin sei es ihr allein um ihr persönliches Fortkommen gegangen. „Das Elend und die vielen Toten haben mir bewusst gemacht, wie vergänglich das Leben ist“, erzählt sie.
Selbst Umweltbehörden sprechen von Ohnmacht
Den Film über Chinas Smog hat sie aus unmittelbarer Betroffenheit gedreht. Anfang 2014 hatte sie ihre Fernsehkarriere aufgegeben, nachdem Ärzte bei ihrem neu geborenen Kind einen Tumor feststellten. Als Ursache nannten die Ärzte den Smog. Ihre Tochter überstand die Behandlung zwar. Doch seitdem wagt sie sich mit ihrer Tochter nicht mehr ins Freie – aus Angst, der Smog könnte der Gesundheit ihrer Tochter erneut zusetzen.
Sie hat daraufhin recherchiert, Experten aus dem In- und Ausland befragt. Anschaulich beschreibt sie in dem Film, wie sie ihr Kind vor den Gefahren der Schadstoffe in der Luft schützen will. Doch selbst Mitarbeiter der Umweltbehörde sprechen von Ohnmacht. Vertreter der Ölbranche und der Kohleindustrie lassen durchblicken, wie sie aus Profitinteresse die Umweltverschmutzung in Kauf nehmen.
Und sie fährt in Regionen Chinas, wo der Smog noch schlimmer ist als in Peking. „Hast du schon mal Sterne gesehen?“, fragt sie in einer Einspielung ein sechsjähriges Mädchen in der Kohleprovinz Shanxi, Chais Heimatprovinz. „Nein, nie“, antwortet das Mädchen. „Und Wolken?“ – „Auch nicht.“ „Blauen Himmel?“ Auch das verneint das Mädchen.
Dann zitiert Chai den früheren Gesundheitsminister Chen Zhu. Er gibt an, dass die Luftverschmutzung China nicht nur zum größten Klimasünder der Welt macht, sondern im eigenen Land jährlich für bis zu einer halben Million vorzeitiger Todesfälle verantwortlich ist. „Ich sah den Smog plötzlich aus den Augen meiner Tochter“, schildert Chai. „Es brach mir das Herz.“
Die Dokumentation übertraf sämtliche Erwartungen. Nur einen Tag nachdem der Film auf sämtlichen chinesischen Video-Webseiten abrufbar war, wurde er mehr als 155 Millionen Mal angeklickt. Am zweiten Tag überschritt er die 200-Millionen-Grenze. Der Film wurde auch zum alles bestimmenden Thema in den sozialen Netzwerken: Allein der Kurznachrichtendienst Sina Weibo zählte nach drei Tagen über 280 Millionen Einträge. „Wir konnten die Zahlen selbst nicht glauben“, erinnert sich Mitarbeiterin Huang.
Aufrütteln, aber nicht das System infrage stellen
Auch Chinas Staatsmedien griffen den Film auf. Die Volkszeitung, Verlautbarungsorgan der kommunistischen Führung, interviewte Chai sogar. Selbst Umweltminister Chen Jining hatte lobende Worte für sie übrig. Er schickte Chai eine Kurznachricht und bedankte sich für ihr Engagement. Der Pekinger Immobilienmogul Pan Shiyi, der selbst regelmäßig über die Luftverschmutzung bloggt, bezeichnete Chai als „Heldin“.
Als besonders mutig galten diese Sympathiebekundungen zu diesem Zeitpunkt nicht. Denn Chinas Führung hatte den Umwelt- und Klimaschutz kurz zuvor selbst zur Staatsdoktrin erhoben. Nachdem Premierminister Li Keqiang ein Jahr zuvor die Bekämpfung der Luftverschmutzung zur Chefsache erklärt hatte, gehörte es für jeden Parteikader und Unternehmer zum guten Ton, sich öffentlich für den Schutz der Umwelt stark zu machen. Viele Insider sind denn auch überzeugt: Hätte Chai nicht die Rückendeckung von ganz oben gehabt, wäre dieser Film nie entstanden. Premier Li persönlich soll den Film vorab gesehen haben.
Und trotzdem: So rasch der Film im Internet Verbreitung fand, so rasch verschwand er aus dem chinesischen Netz wieder. Die Zensoren hatten zugeschlagen. In derselben Woche Anfang März, in der Chai ihren Film ins Netz stellte, tagte auch der Nationale Volkskongress – Chinas einmal im Jahr tagendes Scheinparlament. Angesichts der hohen Klickraten hatte die chinesische Führung offensichtlich Angst, die öffentliche Stimmung könnte sich gegen sie wenden. Offiziell begründeten die Zensurbehörden ihr Verbot damit, der Film könnte von den „wirklich wichtigen Themen des Volkskongresses“ ablenken. Aufrütteln sollte der Film, aber nicht das gesamte System infrage stellen.
Chai ist seitdem nicht mehr öffentlich aufgetreten. Ihrer Karriere dürfte dieser Film dennoch keinen Abbruch getan haben. Im Gegenteil: Viele glauben, er habe ihren Ruf als Gewissen der Nation gestärkt. Nur momentan seien öffentliche Auftritte nicht erwünscht, sagt ihre Mitarbeiterin Huang.
Trotz mehrfacher Nachfragen geht sie nicht auf die genauen Gründe ein. Nur so viel: „Es gib auch weiterhin mächtige Fürsprecher, die Interesse haben, bestimmte Themen zur Sprache zu bringen“, sagt sie. Zu gegebener Zeit werde sich Chai wieder zu Wort melden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!