DSCHIHADISTEN In Celle stehen zwei junge Männer vor Gericht, die nach Syrien ausgereist waren, um für den „Islamischen Staat“ zu kämpfen: Ratlos in Wolfsburg
von Andrea Müller-Kudelka
Am 7. Dezember wird das Oberlandesgericht in Celle voraussichtlich das Urteil im IS-Prozess gegen zwei Wolfsburger sprechen. Der 27-jährige Ayoub B. und der 26-jährige Ebrahim H. B. gehören zu insgesamt 23 jungen Männern aus der Volkswagenstadt, von denen bekannt ist, dass sie in den letzten Jahren nach Syrien ausreisten, um sich der Terrormiliz anzuschließen, die sich „Islamischer Staat“ nennt.
Eine Frage bleibt wohl auch nach dem Urteilsspruch ungeklärt: warum Wolfsburg? Die niedersächsische Stadt gilt neben Hildesheim (mit 19 ausgereisten Radikalen) als Hochburg der Salafisten. Die Wolfsburger Landtagsabgeordnete Angelika Jahns (CDU) geht allerdings davon aus, dass sich die Szene inzwischen nach Hildesheim verlagert hat, weil der Fahndungsdruck in Wolfsburg nach der Rückkehr der beiden Angeklagten deutlich zugenommen habe.
22 von insgesamt 64 radikalisierten Muslimen aus Niedersachsen – drei Viertel von ihnen Männer – sind mittlerweile aus Syrien zurückgekehrt, 13 sind vermutlich dort ums Leben gekommen. Unter den Toten waren den Erkenntnissen der Ermittler nach sieben Wolfsburger. Diese Zahl ist allerdings nicht konkret belegt – die Informationen stammen hauptsächlich aus dem Internet.
Im Gerichtsverfahren gegen Ayoub B. und Ebrahim H. B. spielten Facebook-Chats eine wichtige Rolle. Anhand von Internet- und Handy-Daten versuchte das Oberlandesgericht, die Motive der Angeklagten und die Glaubwürdigkeit ihrer zu Protokoll gegebenen Läuterung zu prüfen. Sie hätten sich vom IS abgewandt, versichern die beiden jungen Männer, die außer ihren tunesischen Wurzeln, ihrer Heimatstadt und einigen gemeinsamen Bekannten wenig zu verbinden scheint.
Stärkstes Bindeglied ist der Mann, der beide davon überzeugen konnte, dass sie in Syrien das finden, was sie suchen: ihr Anwerber Yassin O. Er hält sich momentan vermutlich im Irak auf. Yassin O. ist die Sonne, um die sich im Salafisten-Universum Wolfsburgs alles drehte. Der Islamist, der eine Wolfsburgerin geheiratet hat, gehörte den bisherigen Erkenntnissen nach früher zu einer Untergruppierung von Al-Kaida und wechselte später zum IS. Er soll labile Jugendliche und junge Erwachsene um sich geschart haben – Suchende, die mit ihrem Leben nicht zufrieden waren. So wie Ebrahim H. B. Der junge Mann, der vor Gericht häufig etwas naiv wirkt, erzählte, er habe nach gescheiterten Hochzeitsplänen den Versprechungen geglaubt, in Syrien gleich mehrere Frauen heiraten zu können.
Und Ayoub B.? Vor Gericht sagte er aus, er habe in Syrien den Islam studieren und anderen Muslimen helfen wollen. In früheren Jahren war er der Polizei wegen anderer Straftaten einschlägig bekannt, hatte aber zur Zeit seiner Ausreise im Jahr 2014 eine sichere Arbeitsstelle bei Volkswagen und seine Spielsucht offenbar im Griff. Innerhalb der Gruppe von Yassin O. fühlte sich Ayoub B. anderen Mitgliedern überlegen. Er sah sich selbst zumindest zeitweise als Vertrauten von Yassin O. Vielleicht war bei ihm, der sich während des Prozesses gern lässig in den Vordergrund spielte, der Wunsch, aus der Masse hervorzustechen, das wichtigste Motiv für die Ausreise.
Vor Ort stellten die beiden Wolfsburger nach eigener Aussage fest, dass ihnen in Syrien nur zwei Alternativen blieben: Sie wurden in ein Ausbildungslager gebracht und konnten sich dort entscheiden, ob sie lieber als Selbstmordattentäter oder als Kämpfer für den IS agieren wollten. Ebrahim H. B. meldete sich für die Selbstmörder-Fraktion, Ayoub B. ließ sich als Kämpfer ausbilden, versicherte aber, er sei später auf eigenen Wunsch nur als Fahrer bei Transporten von Verletzten eingesetzt worden.
Beide wollen schon bald nach ihrer Ankunft den Entschluss zur Flucht gefassst haben und zeigten sich nach ihrer Rückkehr den Ermittlern gegenüber kooperativ; Ayoub B. machte sogar noch am Flughafen erste Aussagen im Beisein von Kriminalbeamten.
Das niedersächsische Landeskriminalamt hatte Wolfsburg schon vor der Ausreise der beiden Deutsch-Tunesier im Visier, unterschätzte aber offenbar die Bedeutung von Yassin O. und die Sogwirkung, die seine Gruppe entfaltete. Auch Mohamed Ibrahim, Geschäftsführer des Islamischen Kulturzentrums in Wolfsburg, realisierte erst spät, was in der tunesischen Gemeinde vor sich ging. Yassin O. war in seiner Moschee i Hasselbachtal zwar einigen Mitgliedern negativ aufgefallen und deshalb nicht gern gesehen, hatte sich aber mit seiner Gruppe in die zweite Wolfsburger Moschee in einem anderen Viertel zurückgezogen, die hauptsächlich von Türkisch sprechenden Gläubigen besucht wird. So verschwand er aus dem Blickfeld.
„Im Nachhinein ist man immer schlauer“, sagt Ibrahim heute. Die Entwicklung in Wolfsburg hänge ursächlich mit diesem Prediger zusammen, da sei er sich sicher. Möglicherweise spiele auch die Geschichte der Tunesier eine gewisse Rolle. Vielen Einwanderern aus arabischen Ländern sei die Integration zu Beginn der 70er-Jahre schwerer gefallen als etwa den Gastarbeitern aus Italien oder der Türkei, und das zeige auch Auswirkungen in den folgenden Generationen. „Es ist auf jeden Fall mit ein Grund, warum Menschen der Gesellschaft den Rücken kehren und versuchen, sich auf andere Weise Geltung zu verschaffen“, sagt Ibrahim.
Für die Radikalisierung aber spielten seiner Meinung nach ganz persönliche Beweggründe die Hauptrolle. Ibrahim hofft, dass sich so eine Ausreisewelle nicht wiederholt – „aber wir leben in einer Zeit, in der man nichts ausschließen kann“. Nicht in Wolfsburg und nicht anderswo.
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