Volkstrauertag Es wird gestritten im Volksbund für Kriegsgräberfürsorge. Der riesige Verein sucht ein neues Leitbild. Dazu gehört auch die offene Diskussion darüber, dass der Zweite Weltkrieg ein Angriffskrieg war: Ein Haufen Knochen. Wer weint um ihn?
aus Minsk und BerjosaPhilipp Gessler
Braun ist der Boden, braun sind die Knochen, das eine ist vom anderen kaum mehr zu unterscheiden. Mit einer kleinen Schaufel legt ein Rekrut in der grünen Tarnuniform der belarussischen Armee in einer Grube langsam die Oberschenkel eines Toten frei. Behutsam stapelt er sie in einen weißen Plastikkorb, der sich langsam mit Knochen füllt. Der junge Weißrusse trägt Mundschutz und gelbe Plastikhandschuhe, er kniet am Stadtrand von Minsk in einem Massengrab.
Hier liegen sterbliche Überreste von Soldaten des Zweiten Weltkriegs. In den vergangenen 70 Jahren seit Kriegsende sind Kiefern über die Grabstätte gewachsen, ihre Wurzeln haben sich zwischen die Gebeine der Toten verzweigt. Am Rand der Grube riecht es nach nassem Boden, nichts weiter, nur Wald und Vogelzwitschern und das Rauschen einer Hauptstraße der weißrussischen Hauptstadt, keine 20 Meter entfernt.
Der Rekrut wirkt konzentriert und nüchtern. Doch wie anstrengend ist seine Arbeit – und wie groß! Denn die Gebeine, die der Wehrdienstleistende ausgräbt, sind die eines Deutschen. Ein deutscher Soldat, gegen den sein Großvater oder Urgroßvater vielleicht einmal gekämpft hat. Das ist rührend. Und ein wenig verrückt.
Am Rand der Grube steht Markus Meckel, der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Man kann den früheren Bürgerrechtler sofort erkennen an seinem Vollbart, der nun weiß geworden ist und nicht mehr so wild wie 1989/90, als diese Mannespracht noch gar nichts mit Hipstertum zu tun hatte. Mithilfe eines Dolmetschers lässt sich Meckel die mühsame Arbeit des Rekruten von dessen Offizier, Leutnant Alexander Kremenewski, erklären. Es sieht nicht so aus, aber Meckel, der letzte und einzig frei gewählte Außenminister der DDR, ist hier auf einer Mission. Meckel, der viele Jahre für die SPD im Bundestag saß, will den Volksbund in die Zukunft katapultieren – und hat sich damit schon viele Feinde gemacht. „Es ist eine Revolution“, sagt ein mit dem Zweiten Weltkrieg sehr vertrauter Historiker, der ungenannt bleiben will. Der Volksbund, in dem sich vor, im und auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg viele Nazis wiederfanden, soll im 21. Jahrhundert ankommen. Kann das gelingen? Und warum ist das überhaupt von Belang?
Der Verein:Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. kümmert sich im Auftrag der Bundesregierung darum, die Gräber deutscher Kriegstoter im Ausland zu erfassen, zu erhalten und zu pflegen.
Die Mitglieder:Der Verein umfasste 2014 107.203 zahlende Mitglieder. Dazu kommen knapp 350.000 aktive Förderer und mehr als eine Million Gelegenheitsspender.
Die Finanzen:Etwa 41 Millionen Euro gibt der Volksbund jährlich aus. Ein Drittel davon finanzieren Bund und Länder, zwei Drittel werden durch Mitglieder, Spender, Nachlässe und Sammlungen finanziert.
Die Stätten:In 45 Staaten betreut der Verein 832 Kriegsgräberstätten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die Flächen der Friedhöfe sind zusammen etwa 770 Hektar groß – größer als 1.000 Fußballfelder.
Die aktuelle Arbeit:2015 will der Volksbund etwa 29.000 Kriegstote umbetten, hauptsächlich in Russland, aber auch in Belarus, Polen und der Ukraine.
Rechtlich gesehen ist der Volksbund nicht mehr als ein einfacher eingetragener Verein. Er ist aber ein sehr großer Verein: Über 550 Männer und Frauen arbeiten für die Organisation, die ihren Hauptsitz in Kassel hat. Auf rund 41 Millionen Euro beläuft sich der Jahresetat des Volksbundes – etwa 14 Millionen Euro stammen dabei von der öffentlichen Hand, rund 27 Millionen aus Spenden.
Außerdem richtet der Volksbund traditionell die jährliche Gedenkstunde des Bundestages zum Volkstrauertag aus, der am Sonntag begangen wird. Er ist also viel größer und wichtiger, als man zunächst annehmen könnte. Und immer ist der Bundespräsident der Schirmherr des Vereins – seit Jahrzehnten.
Trotz all dieser Macht und all des Geldes (oder genau deshalb): Der Volksbund muss sich neu erfinden. Die Zeiten, da das Gedenken an die Toten des Zweiten Weltkriegs in fast jeder deutschen Familie normal und der Kontakt zur Politik überaus einfach war, sind lange vorbei. Die letzten Soldaten des Weltkriegs sterben langsam hinweg, auch ihre Kindern sind schon ältere oder alte Leute.
Da fällt die Haupttätigkeit des Verbandes etwas aus der Zeit: die Pflege der Gräber deutscher Soldaten. In 45 Ländern gibt es sie. Um etwa 2,7 Millionen Gräber von Kriegstoten kümmert sich der Volksbund. Seit Jahrzehnten wird diese Arbeit in Westeuropa geleistet – in Belarus ist das erst seit zehn Jahren möglich. In den Staaten des früheren Ostblocks, auch in der DDR, war es dem Volksbund bis 1989/90 verboten, tätig zu sein. Man witterte, lange Zeit zu Recht, Revisionismus. Dabei ist die Instandhaltung von Gräbern auch feindlicher Kombattanten eigentlich eine Pflicht jedes Staates, der einem Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen aus dem Jahr 1977 zugestimmt hat. Der Volksbund hat in den vergangenen Jahren allein auf dem Gebiet des früheren Warschauer Pakts etwa 800.000 Gebeine deutscher Soldaten ausgegraben und in größere Kriegsgräberstätten umgebettet. Denn nur so ist die andauernde Pflege der Gräber überhaupt möglich.
In Minsk hat der Rekrut mittlerweile fast den ganzen Körper des deutschen Soldaten ausgegraben. Man erkennt den Beckenknochen, den Schädel, die Oberschenkel, den Kiefer im weißen Plastikkorb. Leutnant Kremenewski vom 52. Spezialbataillon der weißrussischen Armee leitet diese Arbeit seit 15 Jahren. Er schnappt sich den Korb und legt die Knochen auf eine grüne Plastikfolie so zurecht, dass die braunen Gebeine wieder ein wenig an einen Menschen erinnern.
Da sein Rekrut in der Grube keine Erkennungsmarke finden konnte, wird es schwer zu ermitteln, wer der Tote war. Deshalb legt Kremenewski einen Oberschenkel an eine Holzleiste mit einem Maßband – so kann er die wahrscheinliche Größe des Toten schätzen. Auch die Abnutzung der Zähne im Kiefer und die Nähte in der Schädelplatte des deutschen Soldaten geben Hinweise: Leutnant Kremenewski vermutet, dass der Tote zwischen 25 und 30 Jahre alt geworden ist und etwa 1,75 Meter groß war. Gibt es noch irgendjemanden, der um ihn weint? Und soll man das überhaupt?
Das ist der Kern des Konflikts, den Meckel als Präsident des Volksbundes und mit ihm die Führung der Vereins derzeit verbandsintern austrägt: Kann man der toten deutschen Soldaten wie in den vergangenen Jahrzehnten ehrend gedenken, obwohl sie an einem verbrecherischen Angriffskrieg teilgenommen haben? Denn es ist ja wahr: Millionenfach starben deutsche Soldaten einen sinnlosen Tod in einem rassistisch motivierten Vernichtungskrieg.
Kalkulierter Massenmord, totale Ausbeutung
Die Wehrmacht hat mitgemacht am Völkermord, wie spätestens die Wehrmachtausstellung vor 20 Jahren bewiesen hat. Allein in Weißrussland sind in nur drei Jahren der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 fast drei Millionen Menschen umgekommen – das war etwa ein Drittel der Bevölkerung. Erst heute hat Weißrussland wieder in etwa die Bevölkerungszahl der Vorkriegszeit. Die Wehrmacht sah Weißrussland lediglich als Durchmarschgebiet auf dem Weg nach Moskau. Die ländliche Gegend sollte das deutsche Heer ernähren, ob dabei Hunderttausende Weißrussen starben, war schlicht egal. Auch um sich nicht mit einer Besatzung aufzuhalten, brannten deutsche Landser über 600 weißrussische Dörfer nieder.
Die Geschichte Weißrusslands in den Jahren der deutschen Besatzung sei geprägt „von kühl kalkuliertem Massenmord, von totaler Ausbeutung, von unaussprechlichem Leid und schließlich in erheblichem Maß von Gleichgültigkeit“, schreibt der Historiker Frank Reichherzer vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. „Die Deutschen hatten rücksichtslos die menschlichen und materiellen Ressourcen des von ihnen besetzten Landes für die Führung ihres Krieges ausgeplündert. Die weißrussische Bevölkerung war dieser Politik zum Opfer gefallen … Hunderttausende sowjetische und deutsche Soldaten starben in dieser Zeit auf dem Gebiet Weißrusslands einen sinnlosen Tod in einem sinnlosen Krieg.“
Das ist der Stand der historischen Forschung. Aber wird der Volksbund das auch in seiner Breite schlucken? Seit etwa einem Jahr diskutiert man ein „Leitbild“, das Meckel und seine Leute erarbeitet haben und nun im ganzen Verband demokratisch abgesegnet werden soll. Darin heißt es unter anderem: „Wir erkennen und benennen den Zweiten Weltkrieg als Angriffs- und rassistisch motivierten Vernichtungskrieg, als ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.“ Diese Formulierung wurde fast wortwörtlich einem Beschluss des Bundestages zur Rehabilitierung von Deserteuren entnommen – das war am 15. Mai 1997, noch unter der Regierung Helmut Kohl übrigens.
In kleinen Variationen wiederholt Meckel immer wieder diese Formulierung, wenn er in Osteuropa, wo die Wehrmacht besonders gewütet hat, unterwegs ist. Dabei hat er es sich zum Prinzip gemacht, möglichst zuerst die gefallenen Sowjetsoldaten auf deren Friedhöfen zu ehren – anders sei ein Erinnern an die deutschen Gefallenen heutzutage gar nicht möglich, betont er. Auch an Gedenkstätten für Holocaust-Opfer und für die Ermordeten des stalinistischen Terrors legt der Volksbund-Präsident Kränze nieder. Denn: Man dürfe die Erinnerung an die Toten in der Epoche des Zweiten Weltkriegs nicht zerteilen.
Auch Meckels Vaterkämpfte in Weißrussland
Wie schwer die Sätze Meckels über den rassistisch motivierten Vernichtungskrieg der Wehrmacht auch heute noch von manchen zu akzeptieren sind, wird im Westen von Belarus deutlich, auf einem freien Feld unweit der Stadt Berjosa. Ende September dieses Jahres werden auf den dortigen „Sammelfriedhof“ des Volksbundes im Rahmen einer Gedenkfeier die Gebeine von 1.000 deutschen gefallenen Soldaten erneut begraben. Sie wurden aus kleineren Grabstätten, wie etwa am Stadtrand von Minsk, exhumiert und finden nun hier ihre letzte Ruhestätte.
Den „Sammelfriedhof“ gibt es seit zehn Jahren, es sind vier Hektar auf einem Feld am Wald, etwa zwei Fußballfelder groß. Eine große Grube wurde ausgehoben. Junge Freiwillige aus Deutschland und Weißrussland haben 1.000 helle Holzsärge wohlgeordnet in die Grube gelegt. Die Särge sind gerade mal ein Meter groß, fast wie Särge von Kleinkindern. Denn die Körper der Gefallenen sind so weit verwest, dass die Oberschenkel das Längste sind, was in ihnen noch hinein passen muss.
Es regnet, und der Wind fegt übers Feld. Eine Kapelle aus Brest spielt auf, unter einem Partyzelt haben sich etwa 50 Angehörige von gefallenen Soldaten aus Deutschland versammelt, um an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Es gibt Gebete, Reden, Nationalhymnen. Meckel erinnert an seinen Vater, der während des Krieges ebenfalls in Weißrussland gekämpft hat, als Offizier der Wehrmacht. Er wisse nicht, was er genau getan habe, sagt Meckel, aber er könne natürlich auch an Verbrechen der deutschen Armee beteiligt gewesen sein. „Aber selbst da, wo er es nicht war, weiß ich natürlich, dass allein die militärische Haltung, die militärische Besetzung dieses Landes, diese Verbrechen ermöglicht hat“, so fasst er seine Gedanken etwas später zusammen. Auch ungarische Lieder sind zu hören, da hier auch die Gebeine von 25 ungarischen Soldaten bestattet werden, die auf deutscher Seite gekämpft hatten. Eine junge Trompeterin des weißrussischen Orchesters spielt den „Ungarischen Zapfenstreich“ und den „Guten Kameraden“, der traditionell an die deutschen Gefallenen erinnert.
Am Ende der Veranstaltung stecken die Angehörigen der deutschen Gefallenen kleine Holzkreuze in den nassen Boden vor der großen Grube, wo die 1.000 Särge der Umgebetteten liegen. Etwas abseits davon steht das Holzkreuz des Wehrmachtssoldaten Kurt Krüger, der am 30. Juni 1941 mit 21 Jahren in Weißrussland gefallen ist und nun hier liegt. Seine Nichte Yvonne-Marie Klein aus Thüringen, ein Mitglied des Volksbundes, steht neben ihrem Bruder Stefan Kluge am Kreuz. Das geplante neue Leitbild des Volksbundes missfällt der Sportmedizinerin aus Jena: Sie fragt: „Wer macht sich nicht im Leben schuldig?“ Man sollte das „nicht so scharf formulieren“, sagt sie, sondern „irgendwie anders“ – dann bricht ihr die Stimme.
Verständnis für den Widerstand gegen das Leitbild
Es rumort im Volksbund. Der bayerische Landesverband kritisiert die Formulierungen des Leitbildes, das so nicht angemessen sei. In Waldmünchen in der Oberpfalz haben sich die Bundeswehr-Reservisten dieses Jahr geweigert, für den Volksbund Geld zu sammeln – obwohl dies seit Jahren Tradition in der Stadt an der tschechischen Grenze ist. Widerstand gegen das neue Leitbild wird auch aus Sachsen gemeldet.
Der frühere Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland, ein Urgestein der Grünen in Berlin, ist Beisitzer im Vorstand des Volksbundes. Er hat das neue Leitbild mit formuliert, findet aber Verständnis dafür, dass gerade Angehörige der Gefallenen Probleme damit haben: „Es geht immer um Persönliches“, sagte er, da könnten diese Wörter manchen von ihnen „weh tun“. Dennoch hat er nichts gegen die „lebhafte Auseinandersetzung“ und die Diskussionen um das Leitbild: „Ich finde das gut, endlich werden sie geführt.“ Die Zeit für das neue Leitbild sei „überreif“, sagt er. In dieser Diskussion des Volksbundes sei auch der gemeinsame Weg das Ziel. Und selbst wenn nicht jedes einzelne Wort wie geplant so am Ende im Leitbild stehen müsse, die Verbrechen und die Schuld der Deutschen und ihrer Wehrmacht müssten benannt werden. „Und das wird so passieren.“
Philipp Gessler, 48, ist taz-Redakteur. Nach dieser Recherche will er herausfinden, was die Truppeneinheit seines Großvaters in Osteuropa eigentlich so gemacht hat
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